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The Darkness Is Hope Of Finding You There
Plötzlich fiel der Strom aus und die kleine Lampe, die den Raum in indirektes Licht gehüllt hatte, erlosch. ‚Na toll‘,dachte sich Ville, ‚Wie oft denn noch?‘
Es war nicht das erste Mal, dass er um Punkt drei Uhr morgens irgendwie aus dem Schlaf gerissen wurde. Seit nun schon einer Woche lief er tagsüber mit Augenringen bis zu den Knien durch die Gegend.
Am Anfang war er noch durch seine Wohnung gestreift, mit einem Holzscheit in der Nacht und hätte um ein Haar seine Katze erschlagen, in der Befürchtung, es wäre ein Axtmörder.
Nun war es fast alltäglich, besser allnächtlich und er griff gezielt zu einer Schachtel Zündhölzer auf der Kommode und tastete sich zu seinem Schreibtisch vor, auf dem ein Kerzenständer mit drei roten Kerzen stand. Als alle drei Kerzen brannten, sah er sich in seinem Schlafzimmer um. Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb schließlich am bodenlangen Spiegel gegenüber ihm hängen.
Er sah schrecklich aus. Sein lockiges schulterlanges Haar war zerzaust und wirkte ungepflegt. Seine Haut war immer schon blass gewesen, doch jetzt sah sie käsig, ja schon fast transparent aus, sodass die Tattoos an seinem nackten Oberkörper besonders hervorstachen.
Die Haltung seines dünnen Körpers zeugte von Müdigkeit und er wirkte sehr gebrechlich. Ville wandte resigniert den Blick ab und ließ sich mit einem tiefen Seufzen auf einen Stuhl fallen. Er griff sich schnell die Zigarettenschachtel auf dem Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an einer der Kerzen an.
Er mochte es eigentlich nicht nachts in Spiegel zu sehen. Besonders im Kerzenschein. Seine Phantasie hatte ihm schon des Öfteren den einen oder anderen Streich gespielt, sei es jetzt nur ein Schatten, der auf der Spiegeloberfläche entlang huschte oder gar eine Gestalt. Bei dem Gedanken erschauderte er. ‚Ville, hör sofort auf!‘, rügte er sich in Gedanken. Geister gab es nur in Gruselgeschichten, das zumindest hatte er mit seinen dreißig Jahren begriffen, obwohl er sich als Kind fürchterlich vor ihnen gefürchtet hatte.
Es war auch kein Geist, den er im Spiegel vor ein paar Tagen gesehen hatte. Ville hatte sie als weiblich identifizieren können und noch etwas war ihm aufgefallen…
„Jetzt hör aber auf!“, platzte es aus ihm heraus und er schlug mit einer übertriebenen Geste die Faust auf den Tisch, sodass der Kerzenständer umfiel und es wieder dunkel wurde. ‚Heute ist einfach nicht meine Nacht…‘, schoss es ihm durch den Kopf und seine Augen wollten und wollten sich nicht an die Dunkelheit gewöhnen.
Dann plötztlich spürte er einen Windhauch. Er wusste, dass das Fenster nicht offen war, denn im Winter öffnete er das Fenster nur kurz, um durchzulüften. Außerdem war der Hauch warm und duftete zart nach Flieder.
Villes Nackenhaare stellten sich auf und wohlige Schauer rannen ihm den Rücken hinunter. Er schloss die Augen und holte tief Luft.
Flieder…
Dieser Duft erinnerte ihn an längstvergangene Tage.
An Liebe, Wärme und unendliches Glück, das doch sein schmerzhaftes Ende fand.
Aber er konnte nicht sagen, an was genau er sich erinnerte.
Plötzlich ging seine Schlafzimmertür mit einem leisen Knarren auf und er spürte den Windhauch nicht mehr. Überwältigt von seinen Gefühlen stand er schwankend auf und machte sich mit wackeligen Beinen auf zur Tür.
Warum brachte ihn dieser Duft so durcheinander?
Was passierte mit ihm?
Warum fühlte er sich plötzlich den Tränen nahe?
Inzwischen im Wohnzimmer angekommen, lehnte Ville am Türrahmen und beobachtete, wie der unerklärliche Wind mit den weinroten Gardinen spielte, bevor das Schloss der Terrassentür aufsprang und diese fast schon einladend vor dem jungen Mann aufging. Wie in Trance schwankte dieser zur Tür und hatte mittlerweile Tränen in den Augen.
‚Konnte das sein?‘, fragte er sich immer wieder. Auf der Terrasse lag knöchelhocher Schnee, doch er störte sich nicht daran, ging barfuß und nur mit einer Boxershorts bekleidet hinaus und spürte die ungewöhnliche Kälte nicht einmal.
Flieder… Das konnte nicht sein… Nein… Das ging nicht…
Hier stand er nun, mitten auf seiner Terrasse, knöcheltief im Schnee, sein ganzes Inneres in Aufruhr, während die goßen weißen Schneeflocken auf ihn herabsegelten.
Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, Bilder, an die er so lang nicht mehr gedacht hatte, Bilder, an die er nicht mehr denken wollte.
Es war vollkommen dunkel draußen. Nicht einmal die Straßenlaternen brannten. Dann sah er sie. Von einem Moment auf den anderen stand sie einige Meter vor ihm. Sie war unverändert, bis auf die Tatsache, dass sie reifer und erwachsener wirkte, aber sonst war sie noch genau gleich wie mit sechszehn. Mit sechszehn, als sie starb. Ihr gelocktes Haar fiel ihr mittlerweile bis zu den Oberschenkeln, aber das meiste davon wurde von einem Paar majestätischer weißer Flügel bedeckt.
Die Gestalt ging zu ihm und nahm seine Hand. Ihre Hand war warm und wärmte sofort seine durchgefrorene. Sie zog ihn mit sich, weiter weg von dem Wohnhaus. Ville ließ es mit sich geschehen, wusste nicht, was er sonst tun sollte.
Als sie stehen blieben, begann die Erde zu erzittern. Die Gestalt nahm Ville in den Arm und schlug schützend ihre Flügel um ihn.
Erst jetzt konnte Ville realisieren, dass das Nea war, seine erste und einzige Geliebte. Er hatte sie abgöttisch geliebt und jeder Tag mit ihr, war ein Geschenk für ihn gewesen. Er hatte es genossen in ihren Armen zu liegen und von ihrem betörenden Duft umgeben zu sein.
Flieder…
Mit sechszehn war sie an einer seltenen Viruserkrankung gestorben und sein Herz mit ihr. Danach hatte er sich geschworen nie mehr zu lieben.
Zum ersten, weil er es nicht mehr konnte und zum zweiten, um die Erinnerung an sie zu ehren. Die Erinnerung, die er mit ihr beerdigt hatte.
Als es wieder ruhig wurde, öffnete er die Augen. Sie war weg.
Die Tränen, die seine Wangen hinunterliefen nicht wahrnehmend, blickte er zu seinem Wohnhaus.
Alles lag in Schutt und Asche.
Ville fiel auf die Knie… Genau in einen Kreis aus duftendem Flieder.