Mitglied
- Beitritt
- 27.04.2005
- Beiträge
- 4
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Tiefschlaf (basierend auf einer wahren Geschichte)
Ich sitze schlafend auf einem Stuhl und schnarche.
Ein Arm hängt lose zwischen Schulter und Handgelenk, während die Hand auf dem Oberschenkel ruht. Der andere Arm hängt herab und verhält sich wie ein Pendel, nur von den Atembewegungen meines Brustkorbes angetrieben.
Rhythmisch zersäge ich die Luft und versetze freischwebende Staubpartikel in Wirbelbewegungen. Sie glitzern dabei ein bißchen im schwachen Licht der Deckenleuchte, einer dumpfen Glühbirne, die schmucklos in eine vergilbte Plastikfassung eingeschraubt ist.
Meine Füße habe ich weit von mir gestreckt. Ich habe mir die Schuhe und Strümpfe ausgezogen und lasse so etwas Sauerstoff an die Hornhaut kommen. Das hat sie verdient. Sie hat mich heute weit getragen, also darf sie nun ausruhen. Zwischen zwei blubbernden Schnarch-Baritonsoli zucken meine Füße ein wenig.
Der Raum, dessen Wände ich in dieser Minute dem Schalldruck meiner Schlafgeräusche aussetze, ist ein Zimmer im Dachgebälk eines alten Hauses. Der Boden ist aus uraltem, geschwärztem, grob bearbeitetem Holz und knarzt ein wenig, wenn mein Stuhl wippt.
Die bunten Fenster haben bestimmt ein halbes Jahrtausend überdauert, wenn nicht mehr.
Winkel gibt es in diesem Zimmer genug, und Spinnweben in jedem davon.
Das Haus selbst ist ein Steingebäude und mag vor vielen Jahren mal eine Raststätte gewesen sein. Es ist naheliegend, daß ich, ohne Gepäck und seit zwei Tagen unterwegs nach nirgendwo mir dieses Haus zum Ausruhen ausgesucht habe, auch wenn der letzte Trunk hier schon vor langer Zeit ausgeschenkt wurde und kein Wein mehr in den Fässern schläft.
Möglich, daß dieses Haus mal in der Wildnis, vielleicht in einem Wald gestanden hat, der später der Zivilisation gewichen ist. Das Haus hat sich nicht bewegt. Es ist die Zeit, die über die Jahrhunderte die Umgebung veränderte, während sie um das Haus tanzte. Draußen führt eine Teerstraße vorbei, die nächste Ortschaft ist keine Stunde entfernt, und tagsüber grasen auf den Wiesen wohl Kühe.
Trotzdem ist es hier ruhig. Die Tür war nicht verschlossen, so habe ich dies als willkommene Einladung gesehen, dieses Haus für eine Nacht zu bewohnen.
Doch das Ersteigen der Treppe hat mir dann doch gezeigt, wie müde ich war.
Auf diesem Stuhl bin ich dann, nachdem ich meine Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte, eingeschlafen.
Es ist schon lange dunkel geworden. Draußen, drinnen. Nur die Glühbirne leuchtet mir ins Gesicht, aber das stört meinen Schlaf nicht im Geringsten. Ich träume nur von einem großen Bett, das ich durch mein Schnarchen in Schwingungen versetze.
Ich bin nicht alleine. In der Wand tut sich etwas.
Hinter einem Mauseloch herrscht Aufruhr. Offensichtlich fühlen sich die Hauszwerge von dem Lärm, den ich veranstalte, in ihrer nächtlichen Ruhe gestört und diskutieren lebhaft, wie sie diesem Problem beikommen können.
Im Gespräch sind ein großer äthergetränkter Knebel und eine englische Beißzange, sowie Gefangennahme mittels starker Stricke, gefolgt von einem Weckversuch (bei Fehlschlagen Strangulierung), sowie die Zuhilfenahme diverser Zaubersprüche unterschiedlicher Provenienz und Güte.
Da aber all diese Optionen mit Risiken verbunden sind, kommt man überein, einfach meinen Standort zu verlegen.
Vor all dem bemerke ich nichts.
Um jedes Stuhlbein haben sich die gestörten Bewohner versammelt und beginnen, unter größter körperlicher Anstrengung den Stuhl zu heben, auf dem ich wie ein nasser Sack throne. Nasse Säcke haben für gewöhnlich ein unnötig hohes Gewicht. Dafür sind die Zwerge umso sturer. Millimeter für Millimeter hebt sich der Holzstuhl dergestalt, daß mein Rücken nunmehr auf der Stuhllehneruht und mein Kinn den Brustkorb berührt.
So beginnt der Holzstuhl in Richtung Tür zu torkeln. Ich schwebe auf einer improvisierten Sänfte durch das Dunkel.
Die Tür mit der dahinterliegenden Treppe ist wie das gähnende Maul eines uralten, schildkrötengleichen Wesens, das dieses Haus seit einer längst vergessenen Zeit bewohnt. Meine Sänfte wird diesem Wesen bis an den klaffenden Schlund getragen und dort abgesetzt. Die Zwerge legen eine Pause ein, stemmen die Fäuste in die Seiten und dehnen ihre Wirbelsäule, während sie ihre Waden entkrampfen und fortlaufend fluchen.
Ihre verbalen Ausführungen fügen sich nahtlos und harmonisch in das Spektrum meiner gutturalen Schnarchlaute ein, das im Treppenhaus einen höhlenartigen Halleffekt erzeugt.
Die Zwerge können wieder. Ihr weiteres Vorgehen bedarf keiner Absprache.
Mit vereinten Kräften drücken sie von hinten gegen meinen Stuhl und verlagern dessen Schwerpunkt nach vorne. Die Türschwelle ächzt, und ich befinde mich im freien Fall. Die Schwerkraft zieht mich in die Tiefe. Der Türrahmen und die Glühbirne dahinter verschmelzen zu einem Punkt. Mein Schnarchen gräbt sich durchs Gebälk. Es krümmt den Raum. Die endlosen Stufen fliehen vor meinem schlafenden Körper und stieben kaleidoskopartig in alle Richtungen. Im Flug drehe ich mich um alle erdenklichen Achsen, ich falle in einer Umlaufbahn um das Treppenhaus und dessen Geschichte herum, gleich einem schlafwandelnden Hamster in einem kosmischen Laufrad. Durch die Ritzen im Gebälk ergießt sich bernsteinfarben der Weltraum, das Uhrwerk Erde spielt seine phantastische Sphärenmusik. Und ich schlafe. Ich bin durch nichts aufzuwecken. Schwerelos, auf unbestimmbaren Bahnen, gleite ich seelenruhig schnarchend auf meinem Stuhl durch den Nimbus.
Äonen vergehen. Sterne werden geboren, Sterne sterben.
Im Anfang war der Wasserstoff und die Kernfusion.
Die Geschichte pulsiert, dehnt sich, fröstelt, schlägt Pirouetten.
Und irgendwo: Elvis.
Das Ei und das Huhn.
Der Geruch von allem.
Mit einem trockenen Aufschlag landet mein Stuhl am Fuß der Treppe im Erdgeschoß. Im selben Moment faltet sich der Nimbus zusammen. Mein Schnarchen windet sich unbehelligt um verstaubte Bänke und Tische und alte Humpen. Aus dem offenen Mundwinkel rinnt mir der Speichel aufs Hemd. Eine Mücke hat mich gestochen. Draußen zwitschern Vögel.
Eine halbe Stunde später erwache ich. In die Morgendämmerung blinzelnd, erhebe mich vom Stuhl, strecke mich, kratze mich unter den Achseln und überlege mir, wo ich in dieser Gegend einen Kaffee und ein ordentliches Frühstück bekommen könnte. Ich schlurfe nach draußen und wandere in der kühlen Morgenluft die Teerstraße entlang, gemustert von den neugierigen Blicken der Kühe. Den Morgentau zwischen den Zehen, frage ich mich, wo ich gestern meine Schuhe gelassen habe.