- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.170
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Timbo
Jetzt war sie tot, und wieder lockerte er erschrocken seinen Griff, nachdem er einen Hals gewürgt und das Leben aus einem Körper heraus gepresst hatte. Das Schauspiel war wie immer großartig gewesen. Erst Staunen über den Mann, der vom Alter vermutlich der Vater hätte sein können und der sich aber so leicht auf Augenhöhe mit den Sorgen und Träumen der Kinderwelt begab, der wie ein Kind redete und doch die Geborgenheit und Sicherheit auszustrahlen vermochte, die Kinder an den richtigen Erwachsenen so lieben.
Dann die Unsicherheit, als sie feststellen musste, dass ihr neuer Freund auf den Hinweis, sie werde zu Hause zurück erwartet, so gar nicht kindlich reagierte und stur darauf bestand, sie in ein Geheimnis einzuweihen. Ein Versprechen, das er ihr zugeflüstert und dabei cremige, kalte Tropfen von dem Haselnuss-Eis, das sie sich geteilt hatten, mit den Lippen an ihrem Ohrläppchen verschmiert hatte.
Schließlich der Augenblick des Begreifens, als die Maske fiel und mit ihr die Kleider, in dem Augen in Tränen ertranken und der Wortschatz sich auf ein fragendes, ungläubiges ‚Nein’ reduzierte. Der Moment der Enthüllung, in dem der fremde Mann mit den Süßigkeiten, vor dem die Eltern so oft gewarnt hatten und den sie insgeheim für so echt gehalten hatte wie Captain Hook, wahrhaftig die Hüllen fallen ließ. Der unaussprechliche Dinge tat, von denen Mama und Papa nur als ‚Schlimme Sachen’ zu sprechen gewagt hatten.
Er war hier. Der Mann mit den Süßigkeiten. Und irgendwo da draußen stolziert Captain Hook über das Deck seines Schiffes, ‚KlackKlack-KlackKlack’ trommeln die Absätze der schwarzen Stiefel auf den hölzernen Planken, und wenn seine Piraten ein Kind gefangen nehmen, schlitzt er es mit seinem Haken auf wie einen Fisch. Das war das Geheimnis, von dem die Kinder durch Norbert erfuhren. Es war stets das Letzte, was sie über die Welt lernten.
Die Nachwirkungen des Orgasmus verblassten und es wurde Zeit. Eine Nacht voll unverstandener Liebe neigte sich dem Ende zu. In den Baumkronen raschelten die Waldbewohner. Vielleicht waren sie Zuschauer gewesen und nun, nach dem Ende der zweiten Halbzeit, auf dem eiligen Weg nach Hause.
Wie immer rieb Norbert zuerst nur die Stellen der jungen Haut mit Spiritus ab, von denen er sicher war, sie angefasst zu haben. Dann aber zog er sie aus wie die drei zuvor und badete sie geradezu in der stinkenden Flüssigkeit. Sie hatten ihn bisher nicht erwischt, weil er stets sehr sorgfältig gewesen war. Erwischt wird, wer unvorsichtig ist. Unvorsicht ist die Steigerung der Nachlässigkeit. Und die Nachlässigen hat Gott schon immer besonders hart bestraft.
Gott.
Mittlerweile war Norbert zu der Überzeugung gekommen, dass sie ihn noch nicht geschnappt hatten, weil Gott auf seiner Seite war. Er war sich nicht sicher, warum. Vielleicht setzte der Schöpfer ihn als eine Art präventiv agierenden Rachengel ein? Ja. Vielleicht würden die Mädchen zu eiskalten Killerinnen heranwachsen. Oder zu heroinsüchtigen Nutten. Wer außer Gott konnte das wissen?
Als er im Verlauf der Reinigung zwischen ihr Beine kam, wurden die Bewegungen seiner Hand langsamer. Er ließ zwei Finger vorsichtig in die enge, straffe Vagina fahren, nur leicht, so dass das erste Glied der Finger nicht ganz in der Finsternis ihres Körpers verschwand und sein gerade erst erschlaffter Penis wieder die Muskeln spielen ließ.
Er schalt sich selbst. Keine Zeit mehr für Zucker. Genug genascht. Noch einmal verteilte er den Spiritus auf ihrer Haut, weil doppelt genäht besser hält. Den Griller-Killer hatte ein besonders geschmacksresistentes Revolverblatt ihn genannt. Als ob der Spiritus je einem anderen Zweck als der Reinigung gedient hätte, der Notwendigkeit, sämtliche Flecken von ihren wunderschönen Körpern zu wischen. Ein Feuer in der Nacht, mitten im Wald ... hielten sie ihn für dumm? Auch auf die Eruption seines Pimmels und deren Folgen hatte er stets Acht gegeben. Hatte sein Sperma nie in der Gegend verspritzt wie ein kaputter Hydrant das Löschwasser, sondern wohl bedacht, wie es sich für den Sohn einer guten Mutter gehört, seine Ladung in die Hose gedrückt.
Die Kleidung war von Anfang an der größte Unsicherheitsfaktor gewesen. Schweiß, Blut, Haare aus sämtlichen Körperregionen, ein einziges Risiko in Textil. Doch als auch nach der zweiten Nacht verachteter Leidenschaft das mit Zittern erwartete Klopfen an der Tür und die ruppige Aufforderung, sie sofort zu öffnen, ausblieben, war ihm die Idee mit Gott und dessen unergründlichen Wegen gekommen.
Die Murmelaugen des Teddybären sahen nichts und spiegelten alles. Norbert hob ihn auf und streichelte sein braunes Fell, das deutliche Spuren von mindestens zwei Generationen Kinderhänden aufwies. Sie hatte ihm ihren pelzigen Begleiter ins Gesicht gedrückt, als sie keine Luft mehr bekommen und Norberts Finger sich trotzdem noch fester um ihren Hals geschlossen hatten. Sie hatte nicht einmal damit nach ihm geschlagen. So als hätte sie gehofft, dass ihr Bärchen vielleicht auch lebendig war und ihren Peiniger in die Nase beißen würde, wenn schon der schwarze Mann aus den Gruselgeschichten ihrer Eltern sich als so schmerzhaft real herausgestellt hatte.
Sein Gesicht spiegelte sich in den Augen des Teddybären und klagte ihn an. Richtete ihn. Sah in seine Seele und sagte, dass nichts von dem, was er den Mädchen angetan hatte, zu rechtfertigen war. Geschweige denn richtig. Er hasste den Teddy dafür und warf ihn fort, so weit er konnte. Dann ging er ein Schluchzen unterdrückend zu seinem Auto und musste an den alten Kinderschänderwitz denken: Ach, warten Sie, es ist so dunkel hier im Wald, da hab ich Angst. Na hör mal, Mädchen, was soll ich denn sagen, ich muss nachher noch alleine zurück, haha.
Der dicke Mann war fort und er war allein mit ihr. Über eine Stunde wartete er, dass sie sich rührte, ihn an sich schmiegte und den Weg durch die Dunkelheit mit ihm antrat. Nach Hause, wo sie vor dem Fernseher kuscheln würden. Er nahm ihren Arm, legte ihn um sich und wartete noch ein bisschen länger, doch nichts geschah. Seine weichen Tatzen streichelten ihr Gesicht und jetzt sah er, dass ihre Augen schliefen, obwohl sie offen waren. Er schloss ihre Lider und machte sich auf den Weg.
Das Hotel, den kaputten Neonbuchstaben nach ein o te , lag abgelegen und Norbert hatte bisher nur wenige andere Gäste gesehen. Ein Loser-Treff im bayrischen Nirgendwo. Hier wurden Ehefrauen betrogen und Heroin gespritzt, heimliche Homos bumsten und wurden gebumst. Als Norbert dem langhaarigen Metalfan mit den Streichholzarmen am Empfang ungefragt erklärte hatte, er sei auf Geschäftsreise, hatte der grinsend ‚I oach’ durch seine Zahnlücke gespöttelt.
Dabei war das keine Lüge. Norbert war als Vertreter für Handcreme deutschlandweit unterwegs und meistens nie länger als drei Tage an einem Ort, weshalb sich die massenhaften Speichelproben-Sammlungen an den bisherigen Stätten seines Wirkens für die Polizei als teure und aufwändige Schüsse in den Ofen herausgestellt hatten.
Seine Plastikgabel tauchte ins Chop Soey und beförderte Hühnerfleisch und Paprika in seinen Mund, ohne dass er dem Essen Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Die gehörte einem albernen Briten, der im Fernsehen einem Kind dessen Eistüte stahl und dann panisch umherblickend und unter eingeblendetem Gelächter flüchtete, als die Kleine zu weinen begann. Er stellte die Aluschüssel mit dem Klassiker unter den Asia-Fertiggerichten neben sich aufs Bett und griff nach der Fernbedienung wie ein Fallender nach einem Mauervorsprung. Das Letzte, was er jetzt sehen wollte, waren weinende Kinder. Er schaltete auf ein Programm, das riesige Tentakeln zeigte und dann einen ernst dreinblickenden Schwarzen im Inneren eines U-Boots, der sagte ‚Was immer es ist, Sir, es ist verdammt groß.’
Etwas klapperte an der Tür. Es klang, als hätte jemand eine Murmel dagegen geworfen. Norbert erschrak so heftig, dass er mit den Armen um sich schlug und das Chop Soey auf dem Boden verteilte. Sollten sie doch eine Rechnung an eine falsche Adresse und einen Namen schicken, den er sich ausgedacht hatte. Wer sich bar bezahlen und keinerlei Ausweis zeigen ließ, war selbst Schuld, wenn die Gäste die Gelegenheit nutzten, sich wie Schweine zu benehmen. Nicht, dass ein Ort mit dem Namen o te und einem Regal voller Pornos hinter dem Empfangsjungen es nötig hätte, seinen Gästen vorzuspielen, die Dienstleistung, die man anbietet, bestünde aus sauberen Zimmern und einem schallgedämpften Salon für stilvolle Konversation.
Norbert öffnete die Tür und obwohl der Ring so winzig und nur vom einige Meter entfernten grünen Leuchten des o te-Schriftzuges beleuchtet war, stach er ihm ins Auge als würde ein Elefant auf dem Parkplatz stehen. Seine Beine zitterten und er fiel fast die drei metallnen Stufen runter, die auf den grauen Asphalt führten. Das Plastik wog nichts in seiner Handfläche und für einen Moment spielte Norbert mit dem Gedanken, ihn runterzuschlucken. Er betrachtete das Herz, aus dem eine Comicfigur nicht näher definierbaren Vorbildes in der Realität – es wirkte wie eine Kreuzung aus Dachs und Ente – gütig in die Welt lächelte. ‚Das ist Barbarapapa’, hatte sie ihm erklärt. Ich heiße Katharina. Das ist Barbarapapa, und zu Hause habe ich seine ganze Familie und das Barbarapapa-Ferienmobil. Aber warum ist Barbarapapa nicht bei dir im Wald geblieben, mein Schatz?
Norbert schloss seine Faust um den Ring. Jemand hatte ihn gesehen und sich gegen einen sofortigen Gang zur Polizei entschlossen. Warum? Er schluckte. Ein Erpresser. Wo zum Teufel sollte er das Geld für einen Erpresser hernehmen? Der billige Weinbrand im Schrank unter dem Fernseher schoss plötzlich durch seinen Kopf, vermutlich, weil sein Verstand sich noch nie zuvor so sehr nach der verdummenden Wirkung des Alkohols gesehnt hatte. Hinter Norbert betrat jemand durch die offene Tür sein Hotelzimmer, der aber so klein und weich war, dass er dabei keinerlei Geräusch verursachte.
Auf dem Bett sitzend trank Norbert den Weinbrand direkt aus der Flasche. Sein Hals und Magen brannten. Er hoffte, dass sein Blutkreislauf den besten Freund derer, die etwas zu verdrängen haben, möglichst schnell in sein Gehirn spülen würde. Nach einer besoffenen Nacht konnte er oft besser denken. Momentan war denken das Letzte, wonach ihm war.
Ein Erpresser. Mit so einem konnte man sich wenigstens leichter arrangieren als mit der Justiz, die für das Zukneifen beider Augen Summen verlangte, die für Daimler-Benz in Frage kamen aber für einen Handcreme-Vertreter wie ihn indiskutabel waren. Vielleicht hatte er Norberts sechs Jahre alten Ford-Focus gesehen und grübelte gerade über realistische Forderungen nach. Vier-, fünfhundert Euro im Monat?
Norbert schüttelte gleichzeitig den Kopf und nahm einen Schluck aus seiner Flasche, so dass der Weinbrand seine Mundwinkel herablief wie der Sabber eines Bernhardiners. Er wollte doch nicht denken. Alles, was sein Kopf in seiner jetzigen Panik produzierte, würde sich morgen ohnehin als überhastet beschlossener Mumpitz heraus stellen. Außerdem gab es ja auch noch die eine und vermutlich angenehmste Möglichkeit, dass die Sache mit dem Ring nur ein Albtraum war. Vielleicht war auch Katharina gar nicht tot. Vielleicht war er Julia, Jasmin und Frederike nie begegnet. Alles nur geträumt.
Der Schmerz war gewaltig, löste die Wirkung des Alkohols in Sekundenbruchteilen in Nichts auf und ließ keinen Zweifel mehr an der Wahrhaftigkeit der Situation. Norbert sprang schreiend vom Bett hoch wie ein Kastenteufelchen, wobei seine Finger und Zehen sich spreizten. Die Flasche Weinbrand schlug dumpf auf dem Teppich auf, ohne zu zerbrechen. Ungläubig tastete Norbert nach seinem nackten Fuß und bekam Holz zu fassen. Ein spitzer Splitter von einem Baum, einem sichtbaren Stück Rinde nach eine Birke, hatte seinen Hacken zwischen Achillessehne und Knöchel durchbohrt. Das Blut bildete eine Pfütze und vermengte sich mit dem Weinbrand. Mit schmerzverzerrtem Gesicht legte Norbert sich auf den Boden und riss die Decke vom Bett. Darunter suchte er nach dem Angreifer, der sich nach allen Naturgesetzen nur hier versteckt haben konnte. Doch er sah nichts außer einer eingedrückten Dose Ratskrone-Edelpils und einem benutzten Kondom.
Mit dem Gesicht lag er jetzt in Chop Soey. Auf der Suche nach einer Waffe, die besser als gar nichts war, dachte er ‚Wo ist die Gab-’, dann hörte er ein Geräusch wie von Socken auf dem Teppich, und als er in die Richtung sah, aus der das Geräusch kam, sah er die Plastikgabel unter dem Arm von Katharinas Teddy größer werden und schließlich dunkelrot explodieren, als die Zinken sich in seinen linken Augapfel bohrten.
Norbert schoss schreiend in den Stand. Die Gabel in seinem Auge und der durchbohrte Hacken, der nun plötzlich und unerwartet das Körpergewicht von einhundert Kilo auf sein penetriertes Fleisch verteilt fand, vermengten ihr Wirken zu einer Symphonie, die alle anderen Sinne dem Schmerzempfinden unterordnete. Es gab nur ein Wort auf der ganzen Welt, das jetzt als angemessene verbale Reaktion durchgehen konnte, und Norbert schrie es so laut, als wolle er das brennende Pulsieren, das seine gepeinigten Körperstellen vermeldeten, mit Dezibel austreiben: „AaaaahhhscheißescheißeSCHEISSÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ!“
Für eine Sekunde dachte Norbert ans Pflaster abreißen, bei dem man stets die Wahl hatte, sich kurz und schmerzhaft seiner Körperbehaarung an den entsprechenden Stellen zu entledigen oder sich der Illusion geringerer Folter durch ein langsames Abziehen hinzugeben. Er entschied sich für kurz und schmerzhaft, und als er die Gabel herausgezogen hatte, war für zwei Sekunden Stille, dann schrie er bis er den Mund voll dickflüssiger Soße aus seinem gepfählten Auge hatte.
„Wo bist du?“, sabberte er. Das heile Auge Norberts suchte auf dem Fußboden nach Spuren seines Peinigers. Einem Teddybären. Zu fies und real war der Schmerz für eine Halluzination. Er war von einem Teddybären verstümmelt worden. Wäre der Inhalt seiner linken Augenhöhle nicht gerade dabei gewesen, ein schmieriges Make-up auf seinem Gesicht zu hinterlassen, hätte er wohl gelacht.
„Wo bist du, du Miststück?“
Der verletzte Fuß zwang Norbert zu schlurfen wie eins der Zombies in Dawn of the Dead. Der Splitter in seinem Hacken stieß gegen einen Bettpfosten und wurde dadurch ein Stückchen weiter in die Wunde getrieben. Das Schreien hatte Norbert viel Kraft gekostet. Jetzt konnte er nur noch laut stöhnen, wie ein Greis, dem der Sex mit dem Playmate des Jahres simultan zum Orgasmus einen Herzinfarkt bescherte.
Norberts Verstand, arg angegriffen von Tatsache, dass er sich mit einem massakrierenden Spielzeug konfrontiert sah, zog Bilanz. Halbierte Vision, zerstörter Fuß. Das einzig wahre Heil würde in der Flucht liegen, auch wenn der Gegner einem nicht mal bis zum Knie reichte. Seine Autoschlüssel lagen auf dem Bett. Er nahm sie und schlurfte in Richtung Zimmertür, wobei er sich mit der Gabel den Weg wie mit einer Taschenlampe zu leuchten schien. Kurz bevor er auf den Parkplatz raustrat, drehte er sich noch einmal um, um festzustellen, ob der Kuschelkiller ihn verfolgte. Er konnte nichts sehen, weil er sich über die linke Schulter umgedreht und für einen Augenblick vergessen hatte, dass er seit kurzem ein Zyklop war.
Hinter ihm schlängelte sich eine Schneckenspur aus Blut über den Parkplatz. Als er das Auto erreicht hatte und sich unter gequältem Gewimmer in den Fahrersitz fallen ließ, kam das Metal hörende Gerippe vom Empfang aus seinem Kabuff gestürmt.
„I hoab die Bullen grufen! Bleibsts gfälligst wodoa bist, i hoab die Bullen grufen!“
Norbert antwortete mit dem Mittelfinger. Er fürchtete die Polizei nicht. Nicht mehr.
Zum Glück war sein lädierter Fuß der Gasfuß, der somit ein Pedal zu bedienen hatte, das weniger Kraftanstrengung erforderte als die Kupplung. Mit hundertdreißig raste er über die von Bäumen gesäumte Landstraße und überfuhr dabei zwei Hasen und eine Katze. Sein Gesicht fühlte sich so geschwollen an, dass er fürchtete, John Merrick zu erblicken, wenn er den Spiegel sah.
Die Wäscheleine, mit der er Jasmin erdrosselt und die er seitdem in seinem Handschuhfach verwahrt hatte, legte sich um seinen Hals. Er gab ein Kotzgeräusch von sich und sah über die rechte Schulter eine kleine braune Tatze die Leine zusammen ziehen, mit einer Kraft, die ihr nach den Regeln der Physik nicht zugestanden hätte. Er versuchte, mit den Fingern seiner rechten Hand zwischen die Wäscheleine und seinen Hals zu kommen, konnte aber nur hilflos darüber kratzen, weil das Nylon schon zu tief in sein Fleisch geschnitten hatte.
Im Rückspiegel sah er in Augen, so kalt und leer wie die eines Hais. Er griff mit beiden Händen nach hinten und überließ die Kontrolle des Lenkrads leichtsinnigerweise Gott, der aber wohl gerade nicht hinsah, als Norberts Wagen nach rechts abdriftete, einen Baum streifte und sich dann mehrere Male überschlug.
Die Welt stand auf dem Kopf und Norbert spürte etwas gegen sein Kinn drücken. Es war sein Schlüsselbein, das sich aus dem Gefängnis seiner Haut und Muskeln befreit hatte wie auch seine Knie und sein linker Oberarmknochen. Es roch nach Benzin. Als es heiß wurde und sich die ersten Blasen auf seiner Haut bildeten, musste Norbert gleichzeitig weinen und lachen bei dem Gedanken, dass der Übergang vom Leben in die Hölle wohl nicht fließender sein könnte.
Das Grab eines Kindes im Frühjahr. Konnte es etwas Traurigeres geben? Junge Stimmen in den Straßen, Fußbälle, Spielzeugpistolen, jemand ruft ‚ ... Neun! Zehn! Ich koooooomme!’ Und hier liegt diese eine von ihnen, allein und frierend, eingeschlossen in Holz und Erde. Einige, mit denen sie zur Schule gegangen ist, wissen in einem Jahr nicht mehr, wie sie ausgesehen hat.
Pastor Tim Berg stand kopfschüttelnd am drei Wochen alten Grab von Katharina Gehrken. Er war öfter hier als die Eltern. Und er war wütend. Nach Katharinas Beerdigung hatte er gebetet, spät abends und nach einigen Bieren, die er sich seiner Meinung nach nach einem harten Arbeitstag genauso verdient hatte wie jeder andere Berufstätige auch.
„Weißt du“, hatte er gesagt, „seit ich mit der Arbeit begonnen habe, werde ich immer wieder gefragt, warum du das zulässt. Warum ist mein Hund gestorben? Warum habe ich Krebs? Warum geht’s den Menschen in Afrika so schlecht? Und ich habe dich immer verteidigt, immer. Aber die Wahrheit ist, als ich heute die Mutter des Mädchens im Arm hatte, und sie mir die Fragen aller Fragen stellte, da habe ich ihr nichts geantwortet. Ich habe geschwiegen. Weil ich mir der Antwort längst nicht mehr sicher bin. Kannst du das verstehen? Hörst du mir überhaupt zu? Scheiße. Amen.“
Der Bär, der am Grabstein lehnte, war gestern noch nicht da gewesen. Seine Ohren und Pfoten waren angesengt. Pastor Berg hob ihn hoch und erschrak, als er getrocknetes Blut im Fell des Teddys bemerkte, der laut einer Marke an seinem Hals ‚Timbo’ hieß.
Sorgfältig legte er das ramponierte Kuscheltier zurück an dessen Platz.
„Ruhe in Frieden“, sagte er. Dann faltete Pastor Berg die Hände zum Gebet.