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Timo Tusker ist nicht mehr.
Mir ist, als ob es gestern wär - Timo Tusker ist nicht mehr.
Am Morgen öffnete sich die schwere Eichentür der Kapelle von St. Johannis. Der dezent geschmückte, aber nicht sonderlich große Bauch des Kirchenschiffes lag vor den eintretenden Menschen. Auf dem Weg in den Raum stellte man fest, dass man hier nicht alleine war. Timo Tusker war schon da.
Nachdem sich die Anwesenden auf ihre Plätze begeben hatten, begann die Zeremonie. Timo Tusker stand hier ganz besonders im Mittelpunkt.
Auf dem Weg zur Kapelle war M. mehrmals angehalten, um einen tiefen Zug frischer Morgenluft in ihre Lunge eindringen zu lassen. Dies beruhigte sie und verschaffte ihr einen freien Kopf. Freie Gedanken und unbeschwerteres Sein - das waren Dinge, die sie seit mehreren Tagen nicht mehr gefühlt hatte. Über ihr lag ein Band von schwarzen Wolken. Das Gewitter war vorüber, aber der Schaden und die Folgen waren geblieben. Timo Tusker war nicht mehr da. M. schon. Zu lange hatte sie Timo Tusker gekannt, ihn geliebt und ganz offensichtlich als unverrückbaren Teil ihres Lebens gesehen. Trotz ihres anstrengenden Berufes, dem jahrelangen Studium, welches der ehrgeizigen Mittdreißigerin viel Einsatz abverlangte, konnte M. immer auf Timo Tusker zählen. Er war an ihrer Seite, ehrlich, offen und loyal. Timo Tusker und M. - eine tadellose Verbindung.
Nachdem die ersten Worte gesprochen waren fühlte sich H. taub und schwer. Timo Tusker war zwar da, aber von ihr gegangen. Sie fragte sich durchweg, wer diese Leute waren, die sich hier versammelt hatten. Timo Tusker hatte sie schließlich nicht eingeladen. Aber eine gar vielfältige Heerschar von Menschen war gekommen und Timo Tusker stand im Mittelpunkt. Hatte sie nicht immer gedacht Timo Tusker zu kennen? Ihn, der ihr gegenüber immer offen, herzlich und loyal war. Ein ehrlicher Mann ohne Tadel? Scheinbar, das dämmerte ihr, war dies ein Irrtum.
Während der Beschreibung des Tuskerschen Werdeganges brach L. immer wieder leide schluchzend in Tränen aus. Timo Tusker war ihr bekannt, leider zu bekannt. Sie kannte seinen Charme, seine einnehmende Art - sie war ihm schließlich erlegen gewesen. Nun nicht mehr. Das war einmal. Ein Schicksal, was Timo Tusker teilte. Er hatte sie gemocht, sehr gemocht. Sie liebte ihn. Er liebte sie nicht, aber gab ihr immer wieder das Gefühl von Liebe. Timo Tusker war unehrlich und illoyal.
Während Timo Tusker sich auf seinen Streifzügen nach Anerkennung und menschlicher Nähe befand lernte er L. kennen. Plötzlich war sie da. Eine Frau von scheinbar nicht zu erschöpfender Lebensenergie. Eine junge Frau mit Zielen, engagiert und fleißig. Timo Tusker war nur kurz an ihrer Seite, genoss diese Zeit aber enorm. Wäre der Schatten der Vergangenheit und der damaligen Gegenwart nicht gewesen, er und L. hätten große Dinge erreichen können. Das ging nun nicht mehr - Timo Tusker war nicht mehr.
Auf der dunkelbraunen, harten aber auf seltsame Art nach Jahrzehnten doch irgendwie durchgesessenen Bank in der vorletzten Reihe der St. Johannis Kapelle saß L. neben H.. Dazwischen befand sich ein dunkelrotes Liedbuch. Ansonsten nichts. Hätten beide doch nur gewusst, was außer der Nähe zueinander eine Verbundenheit zwischen beiden stiftete.
Während er da so lag war Timo Tusker durchgehend den Blicken der Menschen ausgesetzt. Blicke haben Kraft und so vielfältig wie die Farben der Augen, waren auch die Intentionen der Blicke. Was noch nicht klar war, das, was zu diesem Zeitpunkt noch von Mitleid und Mitgefühl getragen war, sollte ganz plötzlich in Argwohn und Hass umspringen.
LP. und Timo Tusker waren ein Paar aus dem Bilderbuch. Neben der hollywoodreifen Kennenlerngeschichte und der völligen Aufopferung der beiden Liebenden, gab es nichts, was diese Verbindung stören könnte. Nichts? Doch. Timo Tusker war nicht allein. Neben LP. gab es schließlich noch M. Zwar mit räumlicher Distanz, aber M. war noch da. Timo Tusker und LP. bauten ein Haus auf einem rotten Fundament. Ein schönes Haus, solide, stabil und widerstandsfähig. Als M und LP. sich eines Tages plötzlich in der Gegenwart Timo Tuskers trafen, waren beide ungläubig und verwirrt. Schließlich war Timo Tusker ehrlich und loyal. Er war es immer gewesen - dachten sie.
Trauer war in diesem Moment das Gebot der Stunde. Aber wie ein einziger Satz, eine einzige Frage die Stimmung komplett ändern konnte, ohne das Timo Tusker es hätte verhindern können, obwohl er anwesend war, zeigte sich direkt nach dem Ende der Zeremonie. Er war noch nicht unter der Erde, da bröckelte bereits das rotte Fundament seines Hauses. Plötzlich konnte Timo Tusker nicht mehr notdürftige Reparaturen und flickschusterartige Kaschierungen nutzen, um das Übel der Realität zu verschleiern.
Worte, Worte. Fragen, Fragen. Sich schließende Kreise, Misstrauen, Bestätigung des Misstrauens. Änderung der Gemengelage. Dass Timo Tusker nicht mehr war, öffnete Türen, schloss Türen. Er konnte aber froh sein, dass er dies nicht mitbekommen hatte.
Anstelle des langsamen Herablassens des Sarges bildete sich aus der Gemengelage und der plötzlich gereizten Stimmung ein Wirrwarr von enttäuschten Gefühlen. Naive Menschen waren von einer eigentlich ehrlichen und loyalen Person getäuscht worden. L. und M. und H. und L. sowie LP. Ein kleiner Ausschnitt. Eine Karikatur einer Täuschung. Das Fundament des Hauses mit LP. war zerborsten. Das Denkmal Timo Tuskers war nicht mehr. Naivität abgelöst von Erkenntnis.
Und plötzlich löste sich ein Schuss. Dann noch einer. Dritter Schuss. Vierter Schuss. Schock. Entsetzen. H. und L. und LP. waren nicht mehr. Im großen dunklen Eichsensarg klaffte ein kleines Einschussloch. Timo Tusker war getroffen, eingeholt worden von der Vergangenheit. Er war nicht mehr und nun bekam er die Quittung. Er war immer unehrlich, illoyal. Nur wenige zweifelten, aber plötzlich wussten es alle. Die Folgen des Schneeballes, der den Berg runterrollt und auf seinem Weg an Größe und Kraft gewinnt, war das Sinnbild für Timo Tuskers leben. Die aufkommende Lawine hatte nun alle mitgerissen.
M. stand dort ungläubig. Sie hatte es immer gewusst, aber nie wahrhaben wollen. Sie schaffte die Leichen auf den Sarg und ließ Timo Tusker und seine Gefolgschaft in das tiefe, dunkle Loch hinab. Mit Timo Tuskers Ableben, hatten auch sie gehen müssen. Sie waren ergriffen worden und ihr Schicksal endete final dort, wo auch Timo Tusker die Quittung seiner Lebensleistung bekam. Er war nicht mehr, jetzt war er gestorben.
Als M. die Szenerie verließ, atmete sie mehrmals tief ein. Sie war ruhig und überhaupt nicht mehr traurig. Sie wusste, sie hatte das getan, was sie sich insgeheim schon lange wünschte. Der Moment der Abrechnung war ihre persönliche Absolution. Sie ging ihres Weges, entlang an der Kapelle, sie lächelte und wusste. Es war getan. Alles was Timo Tusker ausmachte, war ausgelöscht. Sein Ende war ein großer Knall. Seine Lawine hatte plötzlich und nachhaltig ihre unschuldigen Opfer gefordert. Timo Tusker war nicht ehrlich, er war nicht loyal. Er war der Teufel und nahm die, die ihm unverschuldet verfallen waren mit hinab in die Hölle.
Für alle anderen war es schwer. Es bleibt zurück ein Trümmerfeld.
Timo Tusker war nicht mehr und sein Vermächtnis bloßgestellt.