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Timos Kung Fu
Faszinierend war, dass Jessica sich zehn Jahre nach dem Abitur problemlos in eine Abschlussklasse hätte setzen können, ohne aufzufallen. Dabei war es nicht so, dass sie noch so jung aussah wie damals, sondern damals bereits ziemlich alt. Nicht im Sinne von alt und schrumpelig, sondern im Sinne von reif, zukunftsorientiert, nicht über Fäkalwitze lachen könnend.
Ich ging mittlerweile auf die dreißig zu und hatte noch immer Schwierigkeiten, nicht loszubrüllen, wenn von irgendwo ein lauter Furz ertönte. Trotz literaturwissenschaftlichen Studiums und Abschlussarbeit über frauenfeindliche Implikationen im Gesamtwerk von William Burroughs wäre ich vor kurzem fast erstickt, als Austin Powers 2 im Fernsehen lief und diese Szene kam, in der der Titelheld an einer Stuhlprobe nippt, die in einer Kanne direkt neben dem Kaffee aufbewahrt wird.
An Scheiße hatte ich vor diesem Morgen schon so manches Mal denken müssen, wenn ich mal wieder eine Absage auf ein Vorstellungsgespräch bekam und irgendwer noch ein winziges kleines bisschen mehr unseren Vorstellungen entsprochen hatte. Was aber um Gottes Willen nicht persönlich zu nehmen sei. Als ob es in Vorstellungsgesprächen um irgendetwas anderes als die Persönlichkeit ging. Was für eine hinterfotzige Art, einen Korb zu geben. Es hat nichts mit deiner Persönlichkeit zu tun, dass ich ihn mehr liebe als dich. Baby, es hat mit nichts anderem als der Persönlichkeit zu tun. Das und Sex. Was mich zurück zu Jessica bringt.
Sie schleppte ihren Koffer mit dem Anmut von der Unterführung die Treppe hinauf auf den Bahnsteig, die Männer von einer großen, schlanken, hübschen Blondine erwarten. Einen Moment dachte ich, es handele sich um eine junge Frau, die aussah wie. Immerhin hatte ich Jessica seit dem Abitur nicht mehr gesehen. Dann erkannte ich sie und guckte mit der Betretenheit weg, mit der man ein Jahrzehnt nach Schulende auf ehemalige Klassenkameraden reagiert, weil ja, es war eine lange und schöne Zeit und wir waren so jung, aber verdammt, das alles scheint mir heute in einem früheren Leben passiert zu sein und ich habe keine Ahnung, worüber ich mit dir reden soll. Außerdem reißt du mich aus der Gegenwart und erinnerst mich daran, dass die Zeit vergeht und ich eines Tages sterben muss, also tu bitte so, als ob du mich nicht siehst und ich will’s dir mit gleicher Münze vergelten.
Sie rollte ihren Trolli an mir vorbei in Richtung der Fahrpläne, wahrscheinlich, um zu überprüfen, ob der IC nach Hannover auch wirklich auf diesem Gleis um diese Uhrzeit abfahren würde, und der Typ am Ticketschalter sich nicht nur einen grausamen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Ich hatte immer gedacht, ich sei der Einzige, der dem DB-Personal so wenig Vertrauen entgegen brachte.
Als sie zurückgeratattattarollert kam, war’s mir schlicht zu blöd, mich weiter auf die festgetretenen Kaugummis unter mir zu konzentrieren. Jessica gab sich vorsichtig, drehte sich mehrmals zu mir um, vorbereitet auf den Fall, dass ich sie nicht erkennen würde und sie Gefahr liefe, vor all den anderen Reisenden ins Leere zu grüßen. Schließlich ergriff ich die Initiative und nahm die Hand hoch. Vielleicht würde es ja ganz witzig werden. Immerhin hatten wir mal zusammen geschlafen.
„Hi. Sag mal, haben wir nicht mal zusammen die Schulbank gedrückt?“
Oh Gott. Was für ein Einstieg. Sie redete in Floskeln. Einen kreativen Beruf hatte sie nicht ergriffen, soviel schien bereits klar.
„Daniel heißt du, oder?“ Diese Arroganz im Subtext – ich kann mich kaum an deinen Namen erinnern, du hast keinen bleibenden Eindruck hinterlassen – nahm ich ihr nicht übel. Das war schon immer ihre Art gewesen. Ich glaube, sie meinte das nicht mal böse. So war sie halt. Ehrlich gesagt hat mich das sogar mal ziemlich scharf gemacht. In der Schule war ich ein Mädchenscharm. Skater, Punkrocker, hübsches Gesicht, blaue Augen. Bei den New Kids on the Block wäre ich Donnie Wahlberg gewesen. Wild und doch süß. Jemand hatte mal in großen Lettern „Daniel P. Ich liebe dich!“ in der Raucherecke, in der ich mich jede frei Minute aufhielt, an die Wand gekritzelt. Jessica hatte mich vollkommen unbeeindruckt davon behandelt wie eine Schlampe. Gott, das hat mich so unglaublich geil gemacht.
„Genau“, sagte ich. Für Schlagfertigkeit war ich nie bekannt gewesen.
„Wo geht’s hin?“, fragte sie.
„Nach Frankfurt.“
„Da will ich auch hin! Was hast du da zu tun?“ Sie sah neugierig von meinen Schuhen zu meinem Krawattenknoten. Das letzte Bild, das sie von mir in ihrem hübschen Kopf abgespeichert hatte, war aller Wahrscheinlichkeit nach eins mit Slayer-T-Shirt und ausgetretenen Vans. Jetzt sah ich aus, wie man heute aussieht, wenn man Business meint. Also so, als ob ich von der Arbeit ohne Zwischenstopp zu einer Hochzeit fahren könnte. Oder zu einer Beerdigung.
„Ich hab da ein Vorstellungsgespräch. Und du?“
„Ich arbeite da an einem Projekt. Zwei Banken sind fusioniert. Ich kümmere ich mich um die Zusammenlegung der IT-Abteilungen. Eigentlich lebe ich in Hamburg und arbeite da bei einer Unternehmensberatung. Aber wir sind normalerweise vier Tage die Woche beim Kunden vor Ort.“
Bankenfusionen und Unternehmensberatungen. Irgendwie schien die Temperatur gerade um fünf Grad gefallen zu sein. Mich fröstelte.
„Wow“, sagte ich. „Was hast du studiert?“
„Wirtschaftsinformatik. Und du?“
„Literaturwissenschaften.“
„Taxifahrerdiplom. Hab ich mir gedacht“, sagte sie nicht. Stand ihr aber überdeutlich ins Gesicht geschrieben.
„Wo stellst du dich vor in Frankfurt?“
„Bei einer Leasinggesellschaft. In der Unternehmenskommunikation.“ Wo man sich halt vorstellt, wenn es einem nach fünfzehn Semestern Selbstverwirklichungsstudium doch plötzlich nicht mehr egal ist, dass alle anderen mehr Geld zu verdienen scheinen als man selbst. Man sah an ihren Augen, dass Jessica gefiel, was sie hörte. Unsere Beziehung hatte sich damals in ein, zweimal zusammen Laken dreckig machen erschöpft, weil wir nicht nur in unterschiedlichen Welten, sondern in unterschiedlichen Dimensionen lebten. Ich hatte Bass in einer Band gespielt, deren Sänger mal auf dem Höhepunkt der Show ins Publikum gepinkelt hatte. Jessica hatte beim Börsenspiel der Sparkasse den ersten Platz gemacht.
Es war schwer zu sagen, ob sie sich gehässigerweise darüber freute, dass ich dem Kapitalismus schließlich doch zu Kreuze kroch oder ob sie entzückt war, einen geliebten Körper mit verachteter Seele von einst nun mit einem dem ihren gleichgeschalteten Verstand wiederzusehen. Letzteres hoffte ich, denn ihre tollen Brüste saßen prall wie eh und je unter ihrer strengen Geschäftsbluse. Von Austin Powers brauchte ich ihr ja nichts zu sagen.
„Hast du einen Freund?“ Das war sehr direkt, selbst für mich. Jessica grinste.
„Meinen langjährigen Lebensgefährten habe ich während des Studiums kennengelernt. Heute sind wir Kollegen.“
Immer einen Schritt voraus, das war sie.
„Langjähriger Lebensgefährte?“
„Das sagt man ja heute so. In unserem Alter. ‚Freund’ oder ‚Freundin’ fängt da langsam an, affig zu klingen.“
„Tjaha“, sagte ich und nickte zustimmend. Ich hatte gerade mit meiner langmonatigen Lebensgefährtin Schluss gemacht. Überhaupt konnte ich mich nicht erinnern, schon mal länger als ein Jahr mit einer Lebensgefährtin zusammen gewesen zu sein.
„Und was machst du hier in der Provinz?“, fragte ich.
„Ich war bei meinen Eltern. Wenn’s mir mal zuviel wird, komme ich gern hierher. Es erinnert mich daran, dass es irgendwo da draußen noch Menschen gibt, die ein einfaches Leben führen.“ Sie hat anderes Leben gesagt, aber es klang so, als hätte sie das gemeint, was da steht.
„Und du?“
Zwing mich nicht, es zu sagen, dachte ich. Bitte zwing mich nicht dazu.
„Lebst du jetzt wieder bei deinen Eltern?“
Ich räusperte mich. „Ja.“
„Nee …“, sagte sie. Es klang ein wenig erschrocken. „Ist ja auch nicht schlimm. Ein Kumpel von mir hat jetzt einen Job in Hamburg bekommen, von dem auch nicht sicher ist, ob er ihn längerfristig machen kann, da ist er auch erstmal wieder zu seinen Eltern gezogen.“
Danke, dachte ich. Das relativiert die Demütigung ungemein. Ist ja auch nicht schlimm. Allein das zu sagen, ohne dass ich im Geringsten geäußert hätte, dass ich es schlimmen finden könnte, implizierte, dass jeder normal tickende Mensch es als genau das empfinden würde: Schlimm. Das Hemd, das ich trug, hatte mir meine Mutter gebügelt, verdammt noch mal.
„Bist du denn öfter am Wochenende hier?“, fragte ich.
„Eigentlich nicht, nein.“ Oh Wunder. Wer würde am Wochenende den Kiez nicht jederzeit gegen das aufregend apokalyptische Der Omega Mann-Feeling einer nach zehn Uhr abends leergefegten Innen“stadt“ tauschen?
„Aber warum fragst du mich das?“
Sieg oder Tod, dachte ich.
„Naja, wir könnten ja zusammen was unternehmen, wenn du das nächste Mal hier bist.“
Ihr Grinsen wurde breiter. Ihre Zähne nahmen einen Großteil ihres Gesichtes ein. Nur ein bisschen mehr und ein Pferdegebiss hätte sie entstellt. So aber blendete das Weiß ihre Opfer.
„Hast du denn niemanden, den das stören würde?“, fragte sie.
„Im Moment nicht, nein“, sagte ich. „Wie sieht’s mit deinem langjährigen Lebensgefährten aus?“
„Ist übernächstes Wochenende mit zwei Kumpels in der Türkei.“
Wir sahen uns lang in die Augen und sagten nichts.
„Hast du was zu schreiben?“, fragte ich.
Am übernächsten Wochenende gab es einen Geburtstag zu feiern. Wir saßen im Auto und ich scheute mich etwas, Jessica mitzunehmen, aber ich wollte mit ihr ausgehen und ich musste auf diesen Geburtstag, also blieb mir nichts anderes übrig. Der Geburtstag war der Michaels, eines ehemaligen Mitbewohners der Freundin meines Kumpels Dirk. Ich hab mich immer gut mit Michael verstanden. Jessica nickte anerkennend, als ich ihr sagte, dass er Ingenieurswissenschaften studierte. Natürlich erzählte ich ihr nicht, dass Michael mal einen Kaktus aus Mexiko bestellt und zu einer bitteren, grünen Pampe verarbeitet hatte, weil er irgendwo gelesen hatte, dass das so ähnlich wirken sollte wie Meskalin. Er hatte diesen Brei gegessen, bis er kotzen musste, und voller Enttäuschung hatte er damals berichtet, der Trip habe sich auf „ein bisschen Wabern in den Wänden“ beschränkt.
Nadine, Dirks Freundin, kannte Michael aus ihren ganz persönlichen wilden Tagen. Einige der Leute, mit denen sie zusammen 60er gespielt hatten, waren mittlerweile auf Heroin aus Hochhäusern gesprungen oder so was. Die Überlebenden würden heute Abend bei dieser Party sein.
„Der werden so ein oder zwei schräge Vögel heute rumhängen“, sagte ich. „Ist das o.k. für dich?“
Sie lächelte. „Ich bin schon nicht aus Zucker.“
Das will ich hoffen, dachte ich. Das will ich hoffen.
Michael trug seine Cord-Schlaghosen wie gewohnt in den Kniekehlen, darüber ein Batikhemd. Eine Sonnenbrille verdunkelte zusätzlich seine arabische Erscheinung, die seinem iranischen Vater Rechnung trug. Seine langen, lockigen Haare waren offen, so dass er aussah wie der aktuelle Bassist von Metallica.
„Ey, hi, schön, dass du da bist!“, begrüßte er Jessica und mich am Eingang.
„Ey, nee, Moment, dich kenn’ ich glaub ich gar nicht, oder?“
„Jessica“, sagte sie und reichte die Hand.
„Michael.“ Er schüttelte ihre Hand kräftiger, als man es für gewöhnlich bei einer Dame tut.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo sich auf Couchgarnitur, Küchenstühlen und Fußboden ein Zirkel der Freaks gebildet hatte. Pappen-Timo war da. Ausgerechnet. Er laberte auf der Couch einen Typen voll über irgendwas mit Pillen, die in Frankreich hergestellt aber in Frankreich selbst verboten waren. Der Aspekt schien ihm wichtig, denn er wiederholte es dreimal. Er selbst hatte die Pillen in Indien gekauft.
„Was wollt ihr trinken?“, fragte Michael. Eine Hand ragte plötzlich aus der Küchentür und hielt ihm einen dicken Joint hin. Er nahm ihn und zog daran.
„Bier“, sagte ich. „Und du?“
„Hast du’n Glas Wein?“, fragte Jessica.
„Klar“, sagte Michael. „Rot, weiß, rosé?“ Er benutzte den Joint wie einen Zeigestock und deutete damit auf eine imaginäre Tafel vor sich in der Luft.
„Rot?“
„Ist das ’ne Frage oder ’ne Bestellung?“
Jessica hob eine Augenbraue.
„War nur ’n Witz. Moment.“
Michael verschwand in der Küche. Wir hörten seine wütende Stimme: „Ey, hast du ’n Knall, nimm den Kopf aus der Suppe!“
Jessica sah mich vorwurfsvoll an und sagte: „Ich habe eh keinen Hunger.“
Wir setzten uns mit unseren Getränken in zweiter Reihe um den Kreis, der sich mit dem dicken alten Holztisch im Zentrum gebildet hatte. Auf dem Tisch lagen Tütchen mit braunem und grünem Inhalt, es standen Gläser und Glaspfeifen darauf, und eine Packung Hundekuchen für Michaels Schäferhund-Mischling Hendrix lag neben einer fast leeren Whiskeyflasche.
„Hi, ehöhöho.“ Ich winkte Sabine zurück. Sabine war Michaels Freundin, süß aber doof. Sie machte Yoga und quatschte einen ständig voll, dass man falsch atme. Außerdem glaubte sie vorbehaltlos daran, dass das Heil der Menschheit in der Anarchie zu finden sei. Dass der Stärkere den Schwächeren übervorteile, liege nur am falschen Grundprinzip des Regierens fast aller durch einige wenige. Und der freien Marktwirtschaft. Und der falschen Atemtechnik.
Jessica nippte vorsichtig an ihrem Glas. Sie trank, schielte auf einen Punkt im Inneren des Trinkbehälters, setzte ab und wischte mit dem Zeigefinger darin herum. Jemand setzte sich auf den Stuhl vor uns und drehte sich zu uns um. Speckiger Bart, irrer Blick. Timo.
„Ich hab gerade zwei Wochen in Lübbecke gesessen.“
Lübbecke war ein Krankenhaus mit psychiatrischer Abteilung. Geschlossene inklusive. Außer Jessica kannte vermutlich jeder hier im Raum jemanden, der schon mal da gewesen war. Lübbecke war Pflichtstation, wenn man „hängen geblieben“ war, das heißt mehr als achtundvierzig Stunden nach Einnahme des Bewusstseinsbeschleunigers noch immer Farben riechen und Bäume sprechen hören konnte.
„Mh“, meinte Jessica, als sie sich mit diesem Diskussionseinstieg konfrontiert sah. Ich nickte bloß. Es war das Beste, was man bei Timo machen konnte. Bis irgendetwas passierte, das seine nanometerkurze Aufmerksamkeitsspanne neu beanspruchte und auf eine andere Fährte lockte.
„Aber gegen meinen Willen. Das geht jetzt zum Anwalt.“
„Mh.“ Und mein Nicken.
„Aber nicht hier. Das war Verletzung der Menschenrechte. Damit gehe ich zum Europäischen Gerichtshof.“
Jetzt nickte Jessica. Ich versuchte, abgelenkt auszusehen, indem ich den ganzen Indienkram fixierte, mit dem Michael die Wände dekoriert hatte, hauptsächlich Teppiche mit Elefanten drauf. Mittendrin ein Poster von A Clockwork Orange.
Timo erzählte Jessica und mir noch viermal von seinem bevorstehenden Gerichtstermin. Dann wechselte er auf die Couch neben Jens Hirscher, einem Zimmermann mir legendär kurzem Geduldsfaden.
„Mann, Timo, jetzt quatsch mich nicht wieder mit deinem Scheiß Europäischen Gerichtshof voll, sonst hau ich dir eine rein.“
„Komm mal her, Alter, ich hab zehn Jahre lang Kung Fu gemacht.“ Das mochte stimmen oder auch nicht. Timo war Mitte dreißig und niemand wusste so genau, was er gemacht hatte, bevor er … den Überblick verloren hatte. Einmal hat er erzählt, er hätte das Handy erfunden.
Jessica nahm meinen Arm. Es war ein gutes Gefühl. Ein bisschen so, als wenn man zum ersten Date in einen Horrorfilm geht, damit sie sich an einem festkrallt.
„Und wer bist du?“, fragte Regina. Sie wog zweihundert Kilo, studierte Soziologie, engagierte sich in der Uni im feministischen Referat und spielte in Michaels Sambagruppe.
„Jessica, hallo. Ich bin mit Daniel hier.“
„Oh.“ Regina hasste mich. Sturzbesoffen hatte ich mal zu ihr gesagt, dass ihr als Walfisch ja wohl nichts anderes übrig bleibe, als Männer zu hassen.
Michael hatte angefangen, leise auf seiner Sambatrommel zu spielen. Timo saß daneben, hielt sich die Ohren zu und quakte wie ein Frosch.
„Und was machst du so?“, fragte Regina.
Lüg, dachte ich. Um Gottes Willen, lüg.
„Ich arbeite bei einer Unternehmensberatung in Hamburg.“
„Aha“, sagte Regina. „Und wie ist das so? Leute arbeitslos machen und dabei viel Geld verdienen?“
„Ach, diese ollen Klischees. Ich selbst hab noch nie irgendwo vorgeschlagen, in den Human Resources zu rationalisieren. Ich kümmere mich um die IT, da geht es meistens eher darum, zum Beispiel nach einer Firmenfusion zwei verschiedene Datenbanksysteme zusammenzuführen oder so was.“
„Oder so was. Aber wenn Firmen fusionieren, gibt’s doch Synergieeffekte, und dann werden Abteilungen zusammengelegt und Leute entlassen, oder nicht?“
Jessica zuckte mit den Schultern. „Das bleibt nicht aus, nein.“ Regina grinste triumphierend.
„Hey, hate the game, not the player“, lachte ich künstlich. Regina sah mich an wie eine Pfütze Katzenkotze.
Michaels Getrommel wurde schneller und lauter. Seine Sonnenbrille war verrutscht. Timo drohte wieder mit Kung Fu. Jemand hatte ihn fotografiert, ohne vorher zu fragen. Er gab dem Fotografen zu verstehen, dass er das als Missachtung seines Persönlichkeitsrechtes empfand.
„Also, ich würde da regelmäßig fühlen, ob mein Herz noch schlägt“, sagte Regina abschätzig.
„Unternehmensberatungen werden oft gerufen, wenn es schon fast zu spät ist. Geht die Firma dann den Bach runter, heißt es, die Berater wären Schuld“, sagte Jessica. „So als wenn ein Schüler, der schlecht in Mathe ist, eine Woche vor der Arbeit neunzig Minuten Nachhilfe nimmt und dann trotzdem eine Fünf schreibt. Das liegt dann wohl auch kaum am Nachhilfelehrer.“
„Toller Vergleich.“ Regina nippte an ihrem Wasser. Dann drehte sich ohne ein weiteres Wort um.
Jessicas Gesichtsausdruck hatte plötzlich etwas Wütendes. Sie stellte ihr halbvolles Weinglas auf den Tisch und fragte, wo das Badezimmer sei. Michael brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass sie das Klo meinte.
Am Sonntag Abend brachte ich sie zum Bahnhof. Sie küsste mich auf die Wange.
„War schön“, sagte sie.
„Ach, komm, es war ’ne Katastrophe“, sagte ich. „Wir hätten nicht zu dem Geburtstag gehen sollen.“
„Aber gestern Nacht war super“, grinste sie, fast, aber nur fast ein Pferd. In meinem Kopf rief eine Kinderstimme „Fuuuuuuury!“.
„Ja“, sagte ich. „Ich hab mir Mühe gegeben.“
Sie lachte kurz. Dann sagte sie: „Aber mein Leben ist ein anderes.“
Natürlich war das alles andere als überraschend. Aber toll fand ich es deswegen nicht. Scheiß langjährige Lebensgefährten.
„Wäre es das auch, wenn dieser Typ nicht nur mit seinem Hemd bekleidet aus dem Klo gekommen wäre und behauptet hätte, es spuke darin?“
„Auch dann, ja. Über kurz oder lang auf jeden Fall.“
Der IC fuhr ein. Sie reichte mir die Hand.
„Ich wünsch dir viel Glück mit deiner Bewerbung in Frankfurt.“
„Danke. Schreib mir mal ’ne Email.“
In ihren Augen sah ich, dass sie es nicht tun würde. Sie stieg in den Zug, ohne sich umzudrehen oder zu winken. Sie hatte rationalisiert.