Tobe Nuss
„Wir könnten einen Stein nach ihm werfen.“, schlug Tobias vor.
Daniel wandte sofort ein: „Und was ist, wenn du ihn am Kopf triffst?“
„Denkst du, ich bin doof? Ich ziele doch nicht auf den Kopf. Ein paar Meter daneben reichen auch.“
„Das klappt doch niemals, Tobe Nuss!“
Daniel nannte seinen Bruder gerne „Tobe Nuss“. In Momenten, wo auch nur der Hauch einer Streitigkeit in der Luft lag, witterte er ihn sofort und wusste stets, auf welche noch so kleinen Neckereien Tobias ansprang. Die drei Jahre Altersunterschied ihm gegenüber nutzte er dabei schamlos aus und dass es ihm mittlerweile erlaubt war, auf ein Gymnasium zu gehen, während Tobias immer noch bei den „Windelpupsern“ in der Grundschule herumsitzen musste, war ihm oftmals das liebste Argument, um seinen kleinen Bruder völlig auf die Palme zu bringen.
Dabei war Tobias für einen Neunjährigen nicht dumm. So wenig er es auch im Vergleich zu seinem Bruder liebte, sich hinter Schulbüchern verkriechen zu müssen, hatte er doch über sein Herumtollen in den Wäldern und den Räuberspielen mit den anderen Kindern aus dem Dorf schon ein gutes Gespür für die praktische Seite des Lebens erwerben können. Oder zumindest für das, was ein Dreikäsehoch für praktisch hält.
„Oder wir nehmen ein Stück Brot, reißen es in kleine Stücke und stecken es nach unten durch?“
„Mensch, wie kann man nur so doof sein? Wir sind hier doch nicht beim Enten füttern. Wie soll das denn mit dem Brot klappen?“
„Nun ja, ich werfe erst den Stein. Einen großen Stein, der macht dann ein großes Loch. Und durch das Loch stecke ich das Brot und eine Wärmflasche und Tee.“
Daniel lachte bitterlich über die Vorschläge, die „Tobe Nuss“ machte. Ähnlich wie er über alle Menschen lachte, die etwas von sich gaben, was nicht seine Idee war. Auch er war klug und im Gymnasium gut aufgehoben, aber auch ein grausamer Junge kurz vor der Pubertät. Während Tobias in den Sommermonaten mit seinen kleinen Freunden Frösche über hunderte von Metern zum großen Weiher am Ende unserer Straße trug, woraufhin sie sich wie die Retter der Welt fühlten, lag es eher in Daniels Natur, die Frösche wieder aus dem Weiher zu fischen, sich hinter unseren Mülltonnen zu verstecken und die Tiere auf die Straße zu werfen, sobald ein Laster heranfuhr.
An viele Abende kann ich mich erinnern, in denen sich die Türe meines Zimmers öffnete und ein kleiner Junge mit verheulten Augen auf mich zulief und in meinen Armen Trost suchte. „War wieder ein Laster da?“, fragte ich jedes Mal in solchen Fällen und stets nickte das kleine Köpfchen auf meiner Brust und rieb mir dabei seine Tränen und seinen Rotz an die Kleidung.
Als mit Abstand ältester von drei Brüdern sollte man eigentlich in der Lage sein, neutral die Streitigkeiten und Gehässigkeiten der beiden jüngeren Geschwister zu betrachten. Doch ich konnte dies nie. Zu oft war Tobias das Opfer, zu oft meine Pullover nass und verschmiert, als dass ich Daniel und seine Schandtaten hätte tolerieren können.
„Wir könnten auch ganz viel heißen Tee kochen, den wir dann ausgießen. Dann schmilzt das Eis ganz schnell. Dann brauchen wir auch keinen Stein mehr für ein Loch.“
„Nicht schlecht, Tobe Nuss, nicht schlecht.“ Daniel zog seinen Bruder wieder ein wenig auf. Gefühllos stand er neben ihm und bemühte sich, ihn weiterhin Vorschläge und Ideen äußern zu lassen. Ein Dialog, welcher nur einen Sinn haben sollte: Egal, was auch besprochen wurde, das Gespräch sollte dauern und dauern.
„Wir können auch schnell nach Hause laufen und Mama und Papa Bescheid sagen.“
„Aber, aber, das bekommst du doch auch alleine hin, Tobias. Und zur Not bin ich ja auch noch dabei.“
Ich beobachtete Tobias, wie er sekundenlang auf das Eis starrte, welches vor ihm lag und eisig den Weiher überzog, in welchen er noch vor ein paar Monaten so viele Frösche, Kröten und Salamander hineingeworfen hatte. Wie angestrengt sein kleines Kinderhirn arbeitete, rackerte, fantasievolle Möglichkeiten durchspielte, um das Problem, welches vor ihm lag, zu lösen, konnte man ihm herrlich ansehen. Wie er die Gesten der Erwachsenen imitierte, die Stirn in Falten legte, den Kopf auf eine schwebende Faust aufstützte, sich räusperte.
Zwei Minuten der Stille vergingen. Als letztes sah ich Daniel neben ihm stehen und von Sekunde zu Sekunde wurde sein Lachen breiter. Er ließ seinen kleinen Bruder zappeln, ohne dass dieser es überhaupt bemerkte. Nach einer empfundenen Unendlichkeit erlöste er ihn:
„Weißt du was, Tobe Nuss? Bleib du hier stehen und überlege weiter. Vielleicht fällt dir ja noch eine Lösung ein. Wenn du willst, laufe ich schnell nach Hause und sage Bescheid. Möchtest du das?“
Tobias nickte heftig. Die vergangenen zwei Minuten ohne Erkenntnis hatten ihn verunsichert und der Vorschlag seines Bruders kam ihm nur gelegen. In einem Schneckentempo entfernte sich Daniel langsam vom zugefrorenen Weiher und ließ seinen jüngeren Bruder zurück, welcher sich schon längst nicht mehr auf Daniel konzentrierte, sondern wieder wie hypnotisiert auf die Eisfläche starrte.
Ich hätte seine Augen sehen können, denn sie trafen meine, starrten mich an. Ich hätte auch die kurzen Dialoge der beiden noch weiter verfolgen können, wenn auch nur sehr, sehr gedämpft, im Echo der kalten Massen verhallend. Ich hätte mich freuen können, nach einigen Stunden gefunden worden zu sein.