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Tobe Nuss

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05.12.2005
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Tobe Nuss

„Wir könnten einen Stein nach ihm werfen.“, schlug Tobias vor.
Daniel wandte sofort ein: „Und was ist, wenn du ihn am Kopf triffst?“
„Denkst du, ich bin doof? Ich ziele doch nicht auf den Kopf. Ein paar Meter daneben reichen auch.“
„Das klappt doch niemals, Tobe Nuss!“

Daniel nannte seinen Bruder gerne „Tobe Nuss“. In Momenten, wo auch nur der Hauch einer Streitigkeit in der Luft lag, witterte er ihn sofort und wusste stets, auf welche noch so kleinen Neckereien Tobias ansprang. Die drei Jahre Altersunterschied ihm gegenüber nutzte er dabei schamlos aus und dass es ihm mittlerweile erlaubt war, auf ein Gymnasium zu gehen, während Tobias immer noch bei den „Windelpupsern“ in der Grundschule herumsitzen musste, war ihm oftmals das liebste Argument, um seinen kleinen Bruder völlig auf die Palme zu bringen.
Dabei war Tobias für einen Neunjährigen nicht dumm. So wenig er es auch im Vergleich zu seinem Bruder liebte, sich hinter Schulbüchern verkriechen zu müssen, hatte er doch über sein Herumtollen in den Wäldern und den Räuberspielen mit den anderen Kindern aus dem Dorf schon ein gutes Gespür für die praktische Seite des Lebens erwerben können. Oder zumindest für das, was ein Dreikäsehoch für praktisch hält.

„Oder wir nehmen ein Stück Brot, reißen es in kleine Stücke und stecken es nach unten durch?“
„Mensch, wie kann man nur so doof sein? Wir sind hier doch nicht beim Enten füttern. Wie soll das denn mit dem Brot klappen?“
„Nun ja, ich werfe erst den Stein. Einen großen Stein, der macht dann ein großes Loch. Und durch das Loch stecke ich das Brot und eine Wärmflasche und Tee.“

Daniel lachte bitterlich über die Vorschläge, die „Tobe Nuss“ machte. Ähnlich wie er über alle Menschen lachte, die etwas von sich gaben, was nicht seine Idee war. Auch er war klug und im Gymnasium gut aufgehoben, aber auch ein grausamer Junge kurz vor der Pubertät. Während Tobias in den Sommermonaten mit seinen kleinen Freunden Frösche über hunderte von Metern zum großen Weiher am Ende unserer Straße trug, woraufhin sie sich wie die Retter der Welt fühlten, lag es eher in Daniels Natur, die Frösche wieder aus dem Weiher zu fischen, sich hinter unseren Mülltonnen zu verstecken und die Tiere auf die Straße zu werfen, sobald ein Laster heranfuhr.
An viele Abende kann ich mich erinnern, in denen sich die Türe meines Zimmers öffnete und ein kleiner Junge mit verheulten Augen auf mich zulief und in meinen Armen Trost suchte. „War wieder ein Laster da?“, fragte ich jedes Mal in solchen Fällen und stets nickte das kleine Köpfchen auf meiner Brust und rieb mir dabei seine Tränen und seinen Rotz an die Kleidung.

Als mit Abstand ältester von drei Brüdern sollte man eigentlich in der Lage sein, neutral die Streitigkeiten und Gehässigkeiten der beiden jüngeren Geschwister zu betrachten. Doch ich konnte dies nie. Zu oft war Tobias das Opfer, zu oft meine Pullover nass und verschmiert, als dass ich Daniel und seine Schandtaten hätte tolerieren können.

„Wir könnten auch ganz viel heißen Tee kochen, den wir dann ausgießen. Dann schmilzt das Eis ganz schnell. Dann brauchen wir auch keinen Stein mehr für ein Loch.“
„Nicht schlecht, Tobe Nuss, nicht schlecht.“ Daniel zog seinen Bruder wieder ein wenig auf. Gefühllos stand er neben ihm und bemühte sich, ihn weiterhin Vorschläge und Ideen äußern zu lassen. Ein Dialog, welcher nur einen Sinn haben sollte: Egal, was auch besprochen wurde, das Gespräch sollte dauern und dauern.
„Wir können auch schnell nach Hause laufen und Mama und Papa Bescheid sagen.“
„Aber, aber, das bekommst du doch auch alleine hin, Tobias. Und zur Not bin ich ja auch noch dabei.“

Ich beobachtete Tobias, wie er sekundenlang auf das Eis starrte, welches vor ihm lag und eisig den Weiher überzog, in welchen er noch vor ein paar Monaten so viele Frösche, Kröten und Salamander hineingeworfen hatte. Wie angestrengt sein kleines Kinderhirn arbeitete, rackerte, fantasievolle Möglichkeiten durchspielte, um das Problem, welches vor ihm lag, zu lösen, konnte man ihm herrlich ansehen. Wie er die Gesten der Erwachsenen imitierte, die Stirn in Falten legte, den Kopf auf eine schwebende Faust aufstützte, sich räusperte.

Zwei Minuten der Stille vergingen. Als letztes sah ich Daniel neben ihm stehen und von Sekunde zu Sekunde wurde sein Lachen breiter. Er ließ seinen kleinen Bruder zappeln, ohne dass dieser es überhaupt bemerkte. Nach einer empfundenen Unendlichkeit erlöste er ihn:

„Weißt du was, Tobe Nuss? Bleib du hier stehen und überlege weiter. Vielleicht fällt dir ja noch eine Lösung ein. Wenn du willst, laufe ich schnell nach Hause und sage Bescheid. Möchtest du das?“
Tobias nickte heftig. Die vergangenen zwei Minuten ohne Erkenntnis hatten ihn verunsichert und der Vorschlag seines Bruders kam ihm nur gelegen. In einem Schneckentempo entfernte sich Daniel langsam vom zugefrorenen Weiher und ließ seinen jüngeren Bruder zurück, welcher sich schon längst nicht mehr auf Daniel konzentrierte, sondern wieder wie hypnotisiert auf die Eisfläche starrte.

Ich hätte seine Augen sehen können, denn sie trafen meine, starrten mich an. Ich hätte auch die kurzen Dialoge der beiden noch weiter verfolgen können, wenn auch nur sehr, sehr gedämpft, im Echo der kalten Massen verhallend. Ich hätte mich freuen können, nach einigen Stunden gefunden worden zu sein.

 

Hallo Mutter,

und herzlich willkommen hier.
Na, da der älteste Bruder die Geschichte erzählt, gehe ich einmal davon aus, dass man ihn auch noch rechtzeitig aus dem Eis gefischt hat, trotz der Hinhaltetaktik Daniels.
Was mir fehlt in diesem schönen Stimmungsbild einer Kindheit, ist die Position des Erzählers. Man bekommt schon mit, dass seine Sympathie Tobias gehört. Wenn ich aber die Position bedenke, aus der du die Geschichte erzählst, dann erscheint mir die Betrachtung doch sehr abgeklärt. Wo bleiben da die eigenen Ängste? Hier müsste er doch schon parteiisch sein, weil es um sein Leben geht. Die Angst wird vom Eiswasser nicht so sehr runtergekühlt, die Wahrnehmung im Außen schon.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Mutter,

anders als Sim gehe ich davon aus, dass der Erzähler tot ist.

Ich hätte mich freuen können, nach einigen Stunden gefunden worden zu sein.
Schließlich steht die Geschichte auch bei Seltsam

Die Idee finde ich gut, den Aufbau auch, besonders gelungen:

Während Tobias in den Sommermonaten mit seinen kleinen Freunden Frösche über hunderte von Metern zum großen Weiher am Ende unserer Straße trug, woraufhin sie sich wie die Retter der Welt fühlten, lag es eher in Daniels Natur, die Frösche wieder aus dem Weiher zu fischen, sich hinter unseren Mülltonnen zu verstecken und die Tiere auf die Straße zu werfen, sobald ein Laster heranfuhr.
Dazu passt dann aber nicht:
An viele Abende kann ich mich erinnern, in denen sich die Türe meines Zimmers öffnete und ein kleiner Junge mit verheulten Augen auf mich zulief und in meinen Armen Trost suchte. „War wieder ein Laster da?“, fragte ich jedes Mal in solchen Fällen und stets nickte das kleine Köpfchen auf meiner Brust und rieb mir dabei seine Tränen und seinen Rotz an die Kleidung.
Das klingt doch von Wortwahl und Erzählweise mehr nach Elternteil, also Mutter ;) .

Schöner fänd ich sowieso, wenn der Erzähler früher eingeführt würde, und wenn es irgendwas mit "wir drei Brüder" wäre.

Gruß, Elisha

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sim! Hallo Elisha!

Der Mutter bedankt sich erstmal herzlich für die Begrüßung und dafür, dass mein erstes Posting nicht gleich zerrissen wurde. ;) Ein paar Kommentare zu eurer Kritik:

Erstmal allgemein: Die Annahme von Elisha ist richtig, der älteste Bruder ist am Ende der Geschichte tot und erzählt sie quasi aus dem Jenseits.

Zu Sim : Mein Bestreben war es, in Annahme des Todes des ältesten Bruders ihn möglichst emotionslos über die letzten, verstrichenen Momente seines Lebens ebenso wie über die Erinnerungen der Vergangenheit berichten zu lassen. Eine Sympathiebekundung gegenüber Tobias ist dabei mir fast schon einen Tick zu gefühlvoll, von diesem Verhältnis der beiden (oder der drei Brüder) lebt aber die kurze Handlung und war somit unumgänglich für mich. Vielleicht gewinnt für dich die Geschichte einen kleinen, anderen Blickwinkel, wenn man vom Tod des Erzählers ausgeht.

Zu Elisha : Danke erstmal für deine positiven Worte. In der Tat passt das Trost-Verhalten sicherlich besser zu einem Mutter-Charakter, ich denke aber in Familien mit drei Brüdern ist es auch nicht zu weit hergeholt, dass der älteste Bruder für den jüngsten als engster Vertrauter fungieren kann und dabei auch manches Verhalten an den Tag legt, welches man eher einer Mutter zuschreiben würde.
Ähnlich wie in der Handlung, die ja erst Stück für Stück den Leser erfahren lässt, was für eine eisige Situation vorherrscht, wollte ich ihn ebenso bezüglich der Protagonisten ein wenig im Unklaren lassen. Erst zwei Jungs, die dann zwei Brüder sind, wo es dann noch einen dritten gibt. Dieses Herauszögern ist also durchaus gewollt.

Genug von mir!
Ich grüße euch!
Der Mutter

 

Leider gewinnt die Geschichte für mich nicht, wenn ich vom Tod des Bruders ausgehe, weil mir die Erzählweise dann erst recht zu distanziert und abgebrüht ist. Ich finde die Betrachtung ja sehr schön, ich mag solche Erinnerungen.
Nur stört mich diese nüchterne Betrachtungsweise angesichts des eigenen Todeserlebnisses. Der Erzähler schaut zu, wie einer seiner Brüder den anderen hinhält, während es um sein Leben geht. Was bezweckst du damit, an diesem Punkt die Emotionen wegzulassen? Vor allem, wenn du sagst, die dem kleineren Bruder sind dir schon fast zu stark?

 

Hallo Sim!

Mein Gedanke ist folgender: Durch den eingetretenen Tod unterstelle ich, die Hauptperson ist gar nicht mehr in der Lage, wie ein "menschliches Wesen" zu agieren. In meinen Augen ist eine tote Person eben auch eine, die im Moment ihres Ablebens die sehr menschliche Eigenschaft des Fühlens und der Emotionsäußerung verliert. Der älteste Bruder ist vielleicht gar nicht mehr in der Lage, von seiner nüchternen Position wegzukommen, da er einfach nicht mehr menschliche Emotionen äußern kann.
Gewiss, wir "Menschen" würden wohl intensiver über die vergangenen Erlebnisse schwelgen oder einen Hass für Daniel entwickeln - meiner Hauptperson spreche ich diese Regungen durch seinen Tod mittlerweile ab.

Ich grüße dich!
Der Mutter

 

Elisha, nicht bei dem, was erzählt wird. Das ist die Todesursache.

 

@sim
Also, ich lese das anders. Ich denke, der Erzähler ist von Anfang der Geschichte schon tot, sonst verstehe ich den letzten Abschnitt nicht.
@Mutter
Bitte um Aufklärung.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Sim, liebe Elisha!

Streng genommen muss zwischen zwei Perspektiven getrennt werden. Zum einen, der Zeitrahmen, wo die Geschichte abläuft, zum anderen der, wo sie erzählt wird.

Bzgl. des ersten Punktes soll es so verstanden werden, dass die Hauptperson im Rahmen der Geschichte selbst erst stirbt, und im letzten Absatz erst wirklich tot ist, deshalb auch dort erst der Konjunktiv.

Erzählt wird die Geschichte dann aber erst nach dem Dahinscheiden, also dementsprechend auch in dem emotionslosen Zustand, den ich dem Hauptcharakter gegeben habe. Der älteste Bruder erzählt als Toter also gefühllos die Geschichte, weiß dabei aber sehr wohl die Zeitstufen zu unterscheiden, zu welchem Zeitpunkt er noch lebte (bis zum vorletzen Absatz) und ab wann er wirklich verschieden war (der letzte Absatz).

Ich grüße euch!
Der Mutter

 

Hallo "Mutter"
Ich möchte meinen ganz persönlichen Eindruck loswerden.
Diese Geschichte ist kalt. Sie liest sich "unpersönlich".
Und wenn man erst eine mehrzeilige "Gebrauchsanweisung" des Verfassers benötigt, um sie überhaupt zu verstehen, ist es mir persönlich zu mühsam.
Lieben Gruß, Barbara

 

Liebe Barkai!

Danke für deinen Kommentar. Die fehlende "Nähe" in der Geschichte ist natürlich Geschmacksache.
Zum (direkten) Verständnis der Geschichte: Naja, sie steht eben unter "Seltsam" ;)

Ich grüße dich!
Der Mutter

 

Hallo Mutter,

ich persönlich hatte bgzl. des Todeszeitpunkts des ältesten Bruders und dessen "Gefühlskälte" keinerlei Problem.

Auch Idee, Sprache und Aufbau deiner Geschichte gefallen mir ausgesprochen gut.

Wie schon Elisha würde allerdings auch ich bemängeln, dass man bei dem Teil, in dem sich Tobias beim Erzähler ausweint, zu sehr an die Mutter der Brüder denkt. Deine Erklärung ist zwar nachvollziehbar, aber beim Lesen könnte dennoch "Verwirrung" entstehen.

Was mir auch weniger gut gefällt, ist das mE doch sehr extreme Verhalten von Daniel. Auch wenn er einerseits "ein grausamer Junge kurz vor der Pubertät" ist, so ist er andererseits doch ein strebsamer ("liebte, sich hinter Schulbüchern verkriechen zu müssen") und intelligenter Junge, von dem man erwarten würde, dass er anders reagiert, wenn er seinen großen Bruder tot im Weiher findet. Die Reaktion des Kleinsten ist nachvollziehbar und fast schon niedlich. Der Ältere aber müsste doch den Ernst der Lage erkennen. Zwischen einer Froschleiche und dem toten Körper eines Menschen (seines Bruders) liegt doch ein himmelweiter Unterschied.
Ob man das nun mit der Rubrik rechtfertigen kann, weiß ich nicht. Denn seltsam ist für mich lediglich die Perspektive.

Lieben Gruß,
Nina

 

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