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TOCK

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12.10.2025
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TOCK

Manchmal hört man weiße Häuser atmen. Nicht laut – nur ein kaum hörbares Ticken in den Wänden. Wer lange genug still ist, kann es spüren: Der Atem verändert sich, wenn jemand darin verschwindet.
Tock.


In der ersten Maiwoche kam ihre ältere Schwester Claudia zurück.

„Jana, einer muss hierbleiben. Ich brauche Platz für Claudias Gepäck. Deck du doch schon mal den Tisch. Und räum noch den Rest auf“, wies die Mutter sie an, bevor sie mit den beiden anderen zum Flughafen aufbrach. Meike – nur ein Jahr jünger – hüpfte aufgeregt zur Tür. Torben, drei Jahre jünger, kam die Treppe runtergepoltert.

Die Mutter hatte für alle Kuchen besorgt. Jana, fünfzehn, deckte schnell den Couchtisch und genoss diese friedliche Zeit des leeren Hauses mit ihrem Teddy im Arm. Lesen und Träumen.

Nach drei Stunden drehte sich der Schlüssel im Schloss.

Stimmen, Gelächter, der schwere Koffer knallte auf den Flur. Jana ging die Treppen hinunter.
„Hallo, Claudia“, sagte sie vorsichtig lächelnd.
Braun gebrannt, noch blonder – und, fand Jana, fast unwirklich hübsch.
„Oh, hallo“, erwiderte Claudia mit einem kurzen streifenden Blick. Dann wandte sie sich lachend wieder den anderen zu, während sie ihren Mantel achtlos unter die Garderobe fallen ließ.
„Stellt euch vor, in der Schule durfte ich in einer großen Gruppe mittanzen…“
„Kommt ins Wohnzimmer, dort wartet Kuchen auf uns“, sagte die Mutter und lächelte Claudia liebevoll an.
„Freust du dich auch auf den Kuchen, Jana?“, fragte sie mit bemüht freundlicher Stimme.
Jana nickte, genoss einen warmen Atemzug, und setzte schon zum Schritt in Richtung Sofa an, zu Torben und Meike.
„Ach Jana, das wird doch zu eng, nimm dir den Klavierhocker“, hörte sie die beißenden Worte ihrer Mutter. Janas Lächeln gefror.

***​

Anfang Juni, nach einigen Tagen Regen, freute sich Jana, dass sie morgens von der Sonne geweckt worden war.
Der beginnende Sommer lag in der Luft.

In der Küche standen Claudia und Meike, lachend und plaudernd.

„Hallo“, sagte Jana.

Keine Reaktion.

Am späten Nachmittag kehrte die Mutter zurück – Torben lachend im Schlepptau. Jana ging hinunter.
„Ähm… Mutti? Ich bräuchte noch zwei Schnellhefter und Bleistifte für die Schule. Geht das?“

Nichts.

Nur das Messer schabte die Butter auf Torbens Brot – ein hartes Kratzen.

Torben, der daneben stand, starrte auf die Butter, öffnete den Mund, spürte den Ellbogen der Mutter in seiner Seite, zuckte erschrocken zusammen. Tonlos schlug er seinen Mund wieder zu.

„Geht das?“ wiederholte Jana. Ihr Atem flach und schnell.
Sie schluckte.

Ihr Blick fiel auf den Einkaufsblock. Sie griff nach dem Stift und schrieb mit zitternder Entschlossenheit.
Der Kuli hinterließ tiefe Furchen im Papier.
Sie wartete darauf, dass ihr der Block aus der Hand gerissen wurde.

Aber es kam – nichts.

Sie floh in ihr Zimmer, die Tür krachte.
Radio aufgedreht – bis es schmerzte.
Krächzende Stimmen, Musikfetzen, Rauschen.
Sie kauerte mit ihrem Teddy in der hintersten Ecke des Bettes.

Jetzt muss doch mal jemand kommen und sich beschweren.

Jemand, der Worte für sie hatte.

Meike riss die Tür auf,
Kein Blick. Kein Wort.
Ein Griff, ein Knopfdruck. Das Radio: verstummt.

Tür zugeschmissen.

„TOCK“ hallte es in Janas Zimmer nach. Das Dach des weißen Hauses über ihr knackte.

Danach – Stille.

Jana holte tief Luft und hielt sie an, solange sie konnte.
Dann – hörbar und laut – entließ sie die Luft wieder in Freiheit.

An diesem Tag öffnete sich ihre Zimmertür nicht mehr.

„Claudia, nimm die blaue Jacke, die steht dir so gut“, hörte sie die Stimme der Mutter aus dem Flur. Warm und fürsorglich.


Der nächste Schultag verlief für Jana erholsam. Ihr wurde geantwortet, wenn sie grüßte. Sie lächelte als der Englischlehrer sich versprach und musste über den Satz: „Stop to think“, grinsen.

Kurz hallten die Stimmen des Vormittags in ihr nach. Der Anblick des Hauses jedoch schnitt das Echo unwiderruflich ab.


Das weiße Haus begrub sie in Schweigen.


Am dritten Tag hielt sie es nicht mehr aus. Sie wartete, bis alle am Frühstückstisch saßen.

„Guten Morgen.“ Ihre Stimme klang fremd.
Ihre Worte hingen einen Moment in der Luft, bevor sie tonlos aufprallten.

Später schrieb sie einen Zettel.
Nur ein Satz: „Bin ich noch hier?

Abends war der Zettel weg.

***​


Freitag fielen die letzten beiden Stunden aus. Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für Jana.

Ich bin Erste, das ganze Haus für mich – vielleicht sogar eine ganze Stunde Klavier, so laut ich will, freute sie sich auf der Fahrt.

Der Bus konnte ihr gar nicht schnell genug fahren.

Schnell ins Wohnzimmer, Klavier spielen, bevor die anderen kommen.

Die Zeit noch nutzen, sie freute sich auf die Minuten, die sie sich jetzt mit Musik austoben konnte, und wollte von der Küche aus direkt ins Wohnzimmer.

Sie legte die Hand auf die Klinke, drückte sie runter – nichts.

Sie drückte nochmal mit mehr Nachdruck. Abgeschlossen.
„Was…?" murmelte sie irritiert, trat zurück. „Das kann doch nicht…"

Die zweite Tür vom Flur aus. Auch sie – gab keinen Millimeter nach.
Reißen, Klopfen. Nichts.
Jedes Rütteln schrie ihr entgegen: Hier drin gibt es für dich keinen Platz mehr.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie rannte die Treppe hoch.

Schlafzimmer der Mutter: abgeschlossen.
Torben: abgeschlossen.
Claudia: abgeschlossen.

Wendeltreppe hoch, Dachboden.

Meike: abgeschlossen.

Atemlos. Ihr Puls raste. Schläfen pochten.

Das Haus verwandelte sich in ein weißes Labyrinth – Türen ohne Zugang, Wände, die sie erdrückten.

Vor ihrer eigenen Zimmertür blieb sie stehen. Kein Schlüssel. Nur das leere Loch im Schloss, schwarz wie ein Auge, das sie auslachte.

Sie drückte die Tür auf. Taumelte hinein. Ließ sie hinter sich zufallen. Auf dem Stuhl sank sie zusammen, die Finger krallten sich ineinander.

Bad. Küche. Offen. Mehr nicht.

Später hörte sie, wie das weiße Haus sich füllte. Lachen. Stimmen. Schlüssel in Schlössern. Türen, die geöffnet und wieder abgeschlossen wurden.
Sie presste ihr Ohr an die Tür.
„Meike, vergiss nicht abzuschließen“, hörte sie die Mutter rufen. „Und der Schlüssel bleibt bei dir.“
Jana lehnte sich zurück und sackte an der Tür zu Boden, das Gesicht in den Händen.

Sie lag auf dem Bett, das Radio leise an – nur, damit sie alle paar Minuten eine menschliche Stimme hörte.

Ihr Teddy blickte sie traurig mit verkratzten Augen an.

Am Sonntag fasste sie Mut.

Im Flur, vor der Küche, stellte sie sich der Mutter in den Weg.

„Mutti … warum sind für mich alle Türen abgeschlossen? Was hab ich denn getan?“
Die Worte kamen ruhig.

Die Mutter sah an ihr vorbei. Ihr Arm streifte Janas Schulter, ein kurzer fester Druck schob sie – ein lästiges Hindernis – zur Seite. Sie öffnete die Küchentür – und schloss sie direkt vor Janas Nase wieder.

Jana folgte ihr dennoch.

„Mutti, warum…?“

Mit klopfendem Herz blieb sie in der Küche stehen und schaute die Mutter unverwandt an.

Die Mutter schob sich mechanisch eine Haarsträhne hinters Ohr, während sie auf ihren Kaffee wartete. Der Löffel schlug dumpf auf den Tassenboden – ein leises genervtes Geräusch.

Ihr Blick fest gerichtet auf die Tasse, schritt sie zur Wohnzimmertür und klopfte an.
„Claudia, lass mich mal kurz rein.“
Die Wohnzimmertür öffnete sich.

Die Mutter trat mit der dampfenden Tasse ein, bevor sie die Tür mit einem lauten TOCK des sich drehenden Schlüssels schloss.

Jana schwankte, setzte sich mit weichen Knien auf einen der Küchenstühle vor dem Kühlschrank.

Der Weg hinauf in ihr Zimmer schien ihr unüberwindbar – zu viele Stufen, zu viele geschlossene Türen.

Sie schaute sich um.
Hörte die Uhr an der Wand erbarmungslos ticken.
Hörte durch die Tür gedämpft, Lachen, Worte, der Fernseher, der anscheinend lief.

Sie drückte sich vom Tisch ab, stand langsam auf und ging zur Treppe. Stufe für Stufe hoch in ihr Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Türen hatten sich geschlossen. Endgültig.

Zurück blieb Jana.

Gefangen in einem weißen Haus voller Riegel.
Stille, die keine Geborgenheit kannte.

Sie saß auf ihrem Bett, müde, die Augenlider schwer wie Blei.

Der Teddy lag fest in ihren Armen.

Ihr Herz war kaum noch zu spüren.

Kälte legte sich über sie, als die Dämmerung kam.

Jana holte tief Luft. Noch einmal.
Sie öffnete die Augen. Ging zum Fenster.

Ein Vogel rief, abgerissen, in die Dunkelheit.

Das weiße Haus verblasste. Türen und Wände verloren ihre Schärfe – ein leises „tock“.

Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Spürte feuchtes Gras.

Und endlich – Stille.

Später sagten die Nachbarn, das weiße Haus habe seit jenem Tag kein Geräusch mehr gemacht. Nur manchmal, wenn der Wind kam, glaubte man ein leises „tock“ zu hören.

Oder war es Einbildung?

 

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