An einem grauen, klammen, ehrlichgesagt kalten Tag im April hatte Tom es endgültig satt.
Während die Wolken schwer vom Himmel hingen, wie nasse Tücher, kroch sein Wagen über eine sich schlängelnde Landstraße, weil der Seitenwind ihn sonst aus der Bahn geworfen hätte. Er hatte Klassikradio eingestellt, weil er die restlichen Radiosender zum Kotzen fand. Auf den Klassiksendern lief allerdings seit neuestem wegen der Privatisierung nur noch Werbung und deshalb schaltete Tom das Klassikradio entsprechend schnell wieder aus. Er hasste Werbung, weil er fand, sie regte einen doch nur dazu an, nutzlose Dinge zu kaufen, die man nicht brauchte, nur weil irgendjemand Dinge verkaufen wollte und nicht etwa, weil diese Dinge die besten nutzlosen Dinge gewesen wären, die man sich hätte kaufen können. Tom hasste auch nutzlose Dinge, aber seine Frau, pardon, Ex-Frau, Celine, liebte sie und deshalb stand Toms Wohnung, pardon, Ex-Wohnung voll mit Abbildern von kleinen, flauschigen Kätzchen, Entchen, Engelchen und unzähligen anderen Verkleinerungsförmchen von Dingen, die kein Mensch brauchte. Sie waren, wie Tom fand, weder besonders dekorativ, noch besonders geschmackvoll. Ihr einziger Zweck, das war seine feste Überzeugung, hatte darin bestanden, ihn auf die Palme zu bringen.
Von jeder freien, annährend waagrechten Fläche in der gesamten Wohnung hatten ihn große feuchte Augen angestarrt während er sich wusch, während er aß, während er sein Geschäft verrichtete. Selbst seine intimsten Momente hatten sich bis ins letzte Detail in den Augen der Hundertschaften von starrenden Nippestierchen gespiegelt.
Selbst auf dem zerrissenen Foto, das auf dem Beifahrersitz lag, hatten die Tierchen ihren Platz beansprucht. Für Tiere gab es in Celines Leben allgemein mehr Platz, als für Tom, fand Tom.
Seine Finger schlossen sich fester ums Lenkrad.
Tom war ein hochgeschossener junger Mann mit straßenköterblonden Haaren. Er war nicht direkt dünn, doch trotzdem wirkte er ausgezehrt und auf seinen leicht griechisch anmutenden Zügen lag seit einiger Zeit ein Schatten.
Weder als er die Wohnung mietete hatte er viel gedacht, noch als er Celine über die Schwelle getragen hatte. Tom hatte nie viel gedacht. Als er an diesem Morgen jedoch aus der Tür gegangen war, hatte er erstmals begonnen, zu denken. Als er sich einmal mehr die Knie am Armaturenbrett seines Kleinwagens, Pardon, Ex-Kleinwagens gestoßen hatte, tobte bereits ein Sturm in seinem Kopf. Ein Orkan von Gefühlen hatte auf den ersten Kilometern mit dem gequälten, kalten Motor um die Wette geheult, mit den rauchenden Reifen geschrien.
Tom hatte ihn passiert. Wütend. Traurig. Mit einem Toben in der Brust, das gedroht hatte, ihn zu zerreißen und dann alles um ihn herum zu zermahlen. Tom war ihm passiert. Jetzt war es ruhig.
Ein Kleinwagen hatte Celine viel besser gefallen, als jeder mögliche Vorschlag von Tom und deshalb hatten sie gar nicht erst nach Kombis gesucht. Ein Franzose noch dazu, obwohl er die Zuverlässigkeit japanischer Autos durchaus mehr zu schätzen wusste, als den spröden Wegwerfcharme der Plastikarmaturen von seinem, pardon, Celines Renault Twingo. In Gedanken nannte er den Wagen Pigalle, weil das der mit Abstand hässlichste französische Name war, der ihm einfiel, obwohl er fand, dass diese rollende Schuhschachtel damit noch glimpflich davonkam.
Er würde den Wagen nicht zurückbringen, hatte er beschlossen. Auch wenn er ihn haßte, er hatte ihn immerhin bezahlt.
Wenn man nicht ausreichend schläft, wenn man es einige Wochen durchhält, wenn man nicht mehr von Müdigkeit durchtränkt aufwacht, weil man gar nicht zu Bett gegangen ist.
Wenn man seinem Körper so wenig Ruhe gönnt, dass er nicht mehr am Geschehen um ihn herum teilnehmen kann, sondern nur noch danebensteht.
Wenn man dem Menschen in seiner Seele so wenig Kraft gelassen hat, dass er gerade noch atmet, schluckt, Wasser lässt und schwitzt, dann hat man vielleicht den Funken einer Ahnung, wie es in den leeren Seelen der jungen Leute zugeht.
Tom hatte nicht geschlafen seit... seit...
„Zwei Tage!“. Wie ein stück Broccoli aus einer vertrauenfordernden Cremesuppe tauchte der Gedanke aus der Suppenschüssel auf, in die sich Toms Verstand durch den mangelnden Schlaf verwandelt hatte. Einige unwichtige Dinge schwappten dabei über den Rand, aber das fand er nicht weiter schlimm.
Behäbig schob sich der enorm große und enorm graue Betonpfeiler einer Brücke am Fenster vorbei. Aus dem Radio säuselte Musik aus der guten alten Zeit. – Unter den vielen Radiosendern, deren Sendegebiete man in ganz Europa durchfährt, wenn man eben unterwegs ist, scheinen sich fast alle um den Titel des Allerschlechtesten zu bekriegen. Klassikradio wird mit Dirigenteninterviews gespickt, während Chart-Sender heimlich dasselbe Lied zweimal hintereinander spielen und die Tatsache durch verstörende Moderatoren verschleiern. Schlussendlich gibt man es auf, nach interessanter Musik zu suchen, regelt die Lautstärke herunter und verweilt bei einem der Gute-alte-Zeit-Sender. – Weiße Streifen prasselten am Wagen vorbei wie Lemminge auf ihrer Suche nach ihrem verlorenen Kontinent, zumindest wie gemütliche, behägibe Lemminge.
Zwei Tage lang hatten ihn keine kleinen, putzigen Nippesfiguren mehr angestarrt. Er war endlich frei. Frei, nicht zu schlafen, sich nicht zu waschen. Frei, keine Nippesfiguren mehr zu entdecken. (Die zwei Exemplare, die es geschafft hatten, sich in das, was Pigalles Konstrukteure als Hanschuhfach zu bezeichnen wagten, zu schleichen, waren einem Zwischenfall zum Opfer gefallen, der ein offenes Fenster und eine hundert Meter hohe Autobahnbrücke, sowie einen für kurze Zeit sehr überraschten Marder involvierte.) Frei, nicht anzuhalten. Wenn es sein musste niemals mehr. - Tankstopps galten nicht.
Wie Planeten in einem billigen Science-Fiction-Film an einem beschleunigenden Raumschiff vorbeischnellen, glitten die langgezogenen, weißen Streifen am Auto entlang.
Kraftstoff geht zur Neige – Bitte fahren Sie umgehend die...
„Chaekov!! Volle Energie auf die Schilde!“
„Ja, Captain“
„Klingonisches Schiff gesichtet. Auf den Hauptschirm!“
„Photonentorpedos aktivieren, Chaekov!“
- Bing Bing Bing Bing –
“Captain! Feindlicher Torpedo nähert sich mit hoher Geschwindigkeit!”
- Blinken
Mit lautem, druckvollem Röhren huschte ein schwarzer, glänzender Klotz, viel breiter als hoch, am Fenster vorbei. Eine Druckwelle erschütterte den Wagen und ließ ihn von der Mittelspur schlingern.
- Bing Bing Bing Bing –
Die Lampe der Tankanzeige blinkte auf. Zornig ertönte immer wieder das Warnsignal des französischen Kleinwagens. Tom murmelte einen namenlosen Fluch in Richtung Frontscheibe und setzte den Blinker. Aus irgendeinem Grund veranlasste ihn sein Tagtraum, der offenbar durch eine TV-Serie beeinflusst war, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, nicht etwa, an Schlaf zu denken, sondern an Pepsi. Die Pepsi, die nachweislich um 33 Prozent besser schmecken sollte, als Coca Cola. Die Assoziationskette, die dahinter stand, blieb ihm ein Rätsel.
Der geneigte Leser von aquarianischen Zeitschriften und New-Age Magazinen wird an dieser Stelle natürlich wissen, dass das Fernsehen unterbewusste Botschaften ohne Umweg über den Verstand, direkt in die Seele des Zuschauers pflanzt.* Diese Funktion wird zu vielen Zwecken genutzt. Verkaufszahlen von Produkten sind davon genauso abhängig, wie Bundestagswahlergebnisse.
Wieso sollte das gleiche Getränk aus einer anderen Verpackung eigentlich überhaupt besser schmecken? Sicherlich, es handelte sich um Pepsi – oh, was er jetzt nicht alles für eine schmackhafte, kühle Dose Pepsi gegeben hätte. Aber wieso fragte er sich das überhaupt? Es war sicherlich wieder eine von diesen Ideen. ...Ideen.
Pe si.
Neben einem schäbigen Rasthaus pries eine Neonreklame in ekelhaftem Rot und schmerzhaftem Violettblau flackernd jenes Erfrischungsgetränk an. Einzig das zweite P hatte seinen Geist aufgegeben. Die Überzeugungskraft einiger wuchtiger Schläge mit einem schweren, stumpfen Gegenstand hatte wohl ihre Rolle dabei gespielt. Als etwas unter Toms Sneakern knirschte, hob er den Fuß und löste ,neben einigen Splittern, ein rotes Coca-Cola-Etikett von der Sohle. Er stand schwankend vor einem Getränkeautomaten und kramte abwesend im Kleingeldfach seiner Geldbörse. Er fröstelte, obwohl die Temperaturen eine Nacht der romantischen, sommerlichen Art nahe legten.
Seine Gedanken hinkten träge um die Vorstellung eines kühlen Getränks mit viel Koffein herum. Er fand zwei Münzen, von denen er glaubte, sie hätten schon den richtigen Gegenwert und nahm sie aus dem Geldbeutel. Das Knistern von Pigalles abkühlendem Motor verblasste hinter ihm langsam irgendwo im Dunklen.
Die größere Münze entglitt kaum spürbar seinen schlaffen Fingern und als er sie aufgehoben hatte und sein Frösteln und den Schwindel mit großer Mühe wieder unter Kontrolle gebracht hatte, stellte er fest, dass die kleinere Münze fehlte. Er warf, leise fluchend, die verbliebene Münze in den Münzschlitz des Automaten und drückte träge die 42 in das schäbige Tastenfeld.
Langsam begannen sich die beiden Metallspiralen, die eine Pepsi-Dose hielten, zu drehen, wobei auch die Dose anfing, langsam um ihre eigene Achse zu rotieren, während sie immer weiter auf Tom zurückte.
Gegenläufige Eindrücke blitzten in seinem Kopf auf. Die bleierne Müdigkeit mit ihrem gräulichen Nebel aus verdampften Gedanken wurde zerrissen von einer Pepsi-Dose, die wie ein Monolith, riesenhaft auf einem Tisch stand, während sich das goldene Sonnenlicht von schräg links oben appetitlich in dem Kondenswasser spiegelte, das einladend an den Seiten der Dose herabperlte. Langsam drehte sich die Dose glänzend und Leichtigkeit versprechend, doch gleichzeitig auch schwer wie ein Mühlstein, um sich selbst, als wolle sie den letzten Rest von Toms Willenskraft unter sich zermalmen.
Dann begann sie plötzlich zu fallen und die Metallspiralen unterbrachen abrupt ihren Reigen.
Das dumpfe Scheppern, das entstand, als die Dose ins Ausgabefach fiel, übertönte das Geräusch von Toms Kopf, der auf dem Pflaster aufschlug.
Tom tanzte über flauschige, kuh-lilane Wolken.
Ihm war warm und ein leichter Schweißfilm lag auf seiner Haut.
Während er über die Wolken tanzte und flog, umspielt von rötlich-goldenem Licht, fühlte er das beruhigende Gewicht einer eiskalten Getränkedose in seiner Hand. Tom war fast glücklich.
Eine Frau von vielleicht zwanzig Jahren, sinnlich geformt und frei von allzu lästig-individuellen Gesichtszügen tanzte an seiner Seite und als Toms Blick sich in ihren mandelbraunen Augen verfing, streckte sie anmutig ihren bronzeglänzenden Arm nach seiner bleichen Hand aus.
Tom konnte schon fast das Pepsi-Werbethema hören.
Sie lächelte ein Lächeln wie aus einer Odol-Werbung, als sie mit ihm die Dose entriss und mit ihrer freien Hand ausholte.
„...oder soll ich erst die Bullen rufen?“
Etwas hartes traf Tom im Bereich der Rippen.
„Mach endlich, dassde wegkommst. Ihr verdammten Junkies ruiniert das Geschäft!“
Ein weiterer ...Tritt? traf Tom, diesmal weiter oben und so heftig, dass ihm die Luft für einen Augenblick wegblieb.
„Oder was biste?“, fuhr die Stimme abschätzig fort.
„Vielleicht einer von den Illegalen? Hat dich dein Schlepper hier vergessen? Hä?“
Tom hörte, wie jemand vulgär die Nase hochzog und ausspuckte.
„Oder biste einer von diesen Studentenstrichern, hä? Fickste mit alten Männern, um dein Studentengeld zu berappen, hä? “ Die Stimme quoll schon fast über vor träger, elementarer Häme. Tom stöhnte und versuchte, sich auf die Ellenbogen zu stemmen, als ihn ein weiterer Tritt traf.
„Wenigstens siehste nich wie´n verdammter Nigger aus. Wäre ja noch schöner, wenn verdammte Nigger zu uns kämen. Sollnse ruhig in Türkistan bleiben, wo se herkommen, die verdammten Nigger.“
Tom nahm all seine Kräfte zusammen, öffnete die Augen und sah nach oben.
Ein etwa fünfzehnjähriger, riesenhaft dicklicher Junge stand in nichtssagender Pose über ihm und sah, mit dem höhnischsten Grinsen, das seinem Schweinegesicht aufzusetzen er vermocht hatte, auf Tom herab. Mit sein Gesicht fiel überraschend ein, als er hastig an seiner Zigarrette sog, die abzuaschen ihm wohl nie in den Sinn gekommen wäre. Er blies den Rauch durch die Nase, ohne seinen dümmlich begeisterten Blick von Tom abzuwenden. Für einen kurzen, ihm unerklärlichen Augenblick, musste Tom an Tierschutzvereine denken, die irgendetwas mit irgendwelchen Fischen oder was auch immer in der Antarktis anstellten.
Gekleidet war der Junge in nichtssagende Jeanshosen und ein Angestelltenhemd.
„Solltest du nicht eigentlich in der Schule sein, Pisser?“, brachte Tom mühsam hervor.
An dieser Stelle war Tom sehr stolz darauf, in einer brenzligen Situation endlich einmal zynisch geantwortet zu haben. Er hatte solche Situationen in einer immensen Anzahl an Filmen gesehen, aber bislang war es ihm höchstens gelungen, nach einem Autounfall „Nochmal!“ zu rufen, was irgendwie den subversiv coolen Pathos der angesprochenen Filmsequenzen verfehlte. Nun hatte Tom es endlich hinbekommen.
„Ääh..“ Tom war wirklich überrascht, als der dümmliche Riese über ihm begann, verlegen von einem Bein aufs andere zu treten. Nach einigem Zögern streckte er eine fleischige Hand zu Tom hinunter.
„Willsen Kaffee?“ Mit einem unbeholfenen, aber dennoch gewaltigen Ruck zog der zurückgebliebene Riese Tom hoch, was ihm einen kurzen Blick auf dessen polierte Springerstiefel gewährte.
„Ich denke mal, ein Kaffee kann nicht schaden.“, entgegnete Tom mit, wie er hoffte, ausreichend vorwurfsvollem Unterton, als er nach einigem Straucheln wieder halbwegs sicher auf seinen beiden Beinen stand.
Es muss allerdings angemerkt werden, wie es Tom wohl in diesem prekären Moment nicht realisiert hatte, dass Jugendliche, die sich die Haare abschneiden und trotz einer ausgeprägten Vorliebe für Arbeitsstiefel meist selten arbeiten, vollkommen immun gegen emotionale Wendungen sind. Führende Politologen* haben (durch die Blume) die Hypothese formuliert, dass, Zitat „(...) bei derartigen Personen die Haare als Emotions und Rationalitäts-äh-rezeptor fun-äh-gieren und daher ihre Ent-äh-fernung den äh totalen Verlust äh aller kogni-äh-kognitiver Fä-ääh-higkeiten zur Folge hat. (...)“
* Dieselben führenden Politologen haben auch induktiv nachgewiesen, dass Kaffeefrüchte sogenannten Kaffeesaft enthalten, der sich beim Kontakt mit Luft spontan erwärmt und dass ebendiese Früchte auf unsichtbaren und mysteriösen Pflanzen im Zimmer der studentischen Hilfskräfte wachsen.
„Und weißt du, was wir heute Abend mit dem Kaffee anstellen werden, Pinky?“
„Uii, Brain, wenn Greta Garbo immer noch ihre berühmten Varietévorstellungen im Horseshoe gibt, denke ich, ich weiß es. – Tross“
„Nein, Pinky, wir werden dasselbe tun, was wir jeden Abend tun. Wir werden versuchen, die Weltherrschaft an uns zu reißen.“
Tom dachte zuweilen an merkwürdige Dinge, wenn er im Bus saß.
Landschaften zogen an seiner verspiegelten Sonnenbrille vorbei, die der Beschreibung unendlich, gelinde gesagt, ins Gesicht spucken konnten.
Die billige Zigarrette, die er auf einem namenlosen Rastplatz geraucht hatte, brannte angenehm in seinem Hals.
Fünf Tage seit Pigalle zusammengebrochen war. Neun Tage, nachdem er auf solch endgültige Weise die Türe zum immer sauberen Treppenhaus vor der Gemeinsamen Wohnung durchschritten hatte. Neun Tage unrasiert und ohne Körperhygiene.
Er betrachtete dösend den vierschrötigen Mann, der den Sessel vor ihm ausfüllte.
Obwohl dessen Kleidung eindeutig die eines Bauern war, sprachen der stoppelige Haarschnitt und einige Narben an seinem muskulösen Nacken in stahlgrauen Bildern von einer Zeit, im Militär vielleicht, jedenfalls einer Zeit des Kampfes und deshalb strahlte der Mann unter seinem landwirtschaftlichen Geruch und trotz der Bauernkleidung eine grimmige Kraft aus.
In seinem Traum rannte Tom im Licht einer grauen, unwirklichen Dämmerung über ein Schlachtfeld. Er konnte seinen Körper zwischen all den Schmerzen kaum fühlen. Sich nach dem Grund zu fragen, brachte er in seiner höllischen Angst nicht fertig.
Er sprang, rutschte, stürzte und rannte durch die schlammigen Gräben, und wischte immer wieder in wilder Panik mit blutenden, schmutzverkrusteten Händen Stacheldraht beiseite.
Ein Trupp Soldaten schloss zu ihm auf, sie trugen ein längliches Bündel zu fünft in ihrer Mitte. Sie winkten und brüllten etwas unverständliches, während sie in adrenalinvernebelten Bildern durch Toms verwirrte Wahrnehmung stürmten. Tom blickte an sich herab und sah seine rennenden Beine in schlammbedeckten Tarnhosen. Seine schmerzenden Füße in Soldatenstiefeln, die zwei silbernen Marken, die neben dem Kreuz um seinen Hals baumelten.
Er erinnerte sich an die Schmerzen der erzwungenen Trennung von Frau und Kindern, die tristen Zeiten auf einem namenlosen, grauen Schiff, waffenstarrend und gewaltig. Vor seinem inneren Auge dämmerten Bilder des kleinen, weißen Hauses mit viktorianischen Säulen vorbei. Es erinnerte ihn fast an eine Werbung für Altersvorsorgen, wie die verblassenden Bilder aus glücklichen Zeiten ihren deprimierenden Kuss auf sein schwer werdendes Herz hauchten.
Tom kam zu Fall. Er wollte sich auf seine Arme stemmen, doch ein glühender Schmerz, der wie ein Dolch in seiner Brust steckte, hinderte ihn daran. Er bekam keine Luft und langsam füllten tanzende blaue und schwarze Flecken sein Sichtfeld. Er begann, Blut zu schmecken, hinter ihm krachte es. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen, rammte die rechte Faust in den Boden. Er presste seine hämmernde Stirn gegen den nassen Lehmboden und hievte sich auf die Seite. Die Kraft der Verzweiflung bemühend, riss er einen kalten Metallgegenstand vom Gurt, der schwer auf seiner schmerzenden Schulter hing. Mit zitterndem Daumen schnippte er einen Ring aus dem Gegenstand. Seine Zähne mahlten knirschend aufeinander, während er seinen Arm in die Höhe zwang und den Gegenstand hoch in die Luft schleuderte. Noch während er seinen Mittelfinger anwies, sich zu erheben, fühlte Tom die brutalen Aufschläge, die seinen Körper mit unglaublicher Wucht in die Luft rissen.
Plötzlich war überall weißes Licht.
Mit heiserem Zischen entwich die Luft aus den Bremsen des Busses, während er mit einem Ruck zum stehen kam. Mit einem Gefühl dumpfen Unwohlseins öffnete Tom die Augen und blickte auf eine Tankstelle aus den 90ern, mit ihrem kalten, mottenumschwärmten Neonlicht, dem nüchternen Betonboden und dem großzügig verglasten Kassenhäuschen. Alles wirkte so nackt und kalt. Tom hätte wer weiß was dafür gegeben, in den Arm genommen zu werden.
Fröstelnd trat er in die laue, leicht unterkühlte Luft der sommerlichen Nacht.
Er kaufte sich eine künstlich wirkende Wurst, die in ein industriell anmutendes, farbloses Hefebrötchen eingebacken war, von einer abgespannt wirkenden Kassiererin in der nüchternen Tankstelle.
Hochglanzmagazine reihten sich in dem ausladenden Wandregal aneinander. Eine Schönheit neben der nächsten. Alle modisch gekleidet und doch nackt. Die glänzenden Lippen, die mit schwerem Kajal geschwärzten Augenlider. Hunderte laszive Blicke rangen verzweifelt um Toms Aufmerksamkeit.
„Haben sie den Hustler?“
Die Kassiererin stellte eine große Kaffeekanne in eine formlose Vorrichtung. Eine Haarsträhne fiel ihr über die Wange. Mit der erschöpften Anmut einer Wöchnerin beugte sie sich in den Nebenraum und riss mit einer energischen Bewegung einen großen Karton an sich. Sie taumelte einige Schritte zurück, die Hände immer noch an einer der Kartonlaschen.
„Entschuldigung?“
Sie schleppte den schweren Karton weiter auf den überladenen Tresen zu.
„Hallo? Entschuldigung?“
Und weiter und weiter.
„Haben wir nicht“, ächzte sie, ohne von ihrer Marter aufzublicken. „Aber Matador haben wir. - Ist doch fast dasselbe. Frauen, die glänzen, aber trotzdem aussehen, wie ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Frauen, die man sich im eigenen Bett vorstellen könnte. Männer mögen echte Frauen.“
Die Haarsträhne fesselte Toms Aufmerksamkeit, bis er sich nervös mit zwei Fingern über die Stirn fuhr.
„Naja. Matador kenne ich nicht.“
„Diese Mädchen. Die erinnern die Leute an jemanden. Eine Verflossene, Kolleginnen, vielleicht auch an ihre zwölfjährige Nichte. Wer weiß das schon. Aber sie kaufen die Magazine, wo die Mädchen echt wirken.“
„Wo steht denn die Matador?“
„Diese Mädchen sind keine Amateure, weiß Gott nicht.“ Endlich ließ sie von dem verdammten Karton ab. „Sie werden geschminkt. Sie haben Agenten. Und Fotomappen.“ Begleitet vom Pochen ihrer Stöckelschuhe ging sie um den Tresen. „Agenturen vermieten sie. Fotografen und Beleuchter schwirren um sie herum und betreiben jeden erdenklichen Aufwand, damit sie aussehen, wie das Mädchen von nebenan.“ Mit halb erhobener Hand schritt sie das Regal ab. „Und die Männer, die die Magazine dann kaufen...“ Die Hand schnellte zwischen die vielen lasziven Blicke. „Die träumen dann mit ihrem Stück in der Hand davon, wie sie vor die Türe gehen und endlich bei ihrer Nachbarin anklopfen. Den Teil mit dem Kaffee und die kichernde Unterhaltung lassen sie wohl eher aus.“ Sie hielt das Magazin kraftlos in den Händen und blickte verträumt darauf herab. „Die vielsagenden Blicke und das Kribbeln im Bauch“
„Danke.“
Und mit einem Mal war sie wieder hinter dem Tresen. Tom taumelte mit dem Magazin in der Hand an die andere Seite und legte es ab.
„Kann ich noch einen Kaffee bekommen?“
„Macht dann zwei fünfzig.“ Während sie gleichzeitig kassierte, die Haarsträhne immer noch im Gesicht, Dinge aus dem Karton in Fächer im Regal und auf dem Tresen räumte, baute sich langsam eine Kaffeegarnitur auf der Theke auf. Erst eine Untertasse. Zucker, ein Päckchen Kondensmilch. Eine dieser runden Servietten, die an den Rändern weitere Rundungen haben. Schließlich ein Löffel und die Tasse.
„Diese Mädchen. Wo sie doch aussehen, wie die Essenz gewöhnlicher, echter Frauen, mit all ihrer Schminke und im goldenen, warmen Kunstlicht. Ich begreife das irgendwo nicht. Eigentlich sind sie irgendjemandes Nachbarin, Kollegin und Nichte. Was macht sie so besonders?“
„Sie sind etwas besonderes, weil sie so schön sind.“ Geistesabwesend nahm sie die Kaffeekanne aus der Vorrichtung. „Aber wenn falsche echte Frauen schön sind-“
Schmerz. Das Klirren der Kaffeetasse auf dem Boden. Tom ließ den Rest seiner Mahlzeit fallen und hielt sich die schmerzenden Oberschenkel.
„Das tut mir schrecklich leid!“ Mit einem Satz war sie wieder vor dem Tresen.
Irgendwo hatte sie ein Taschentuch gegriffen, mit dem sie, vor Tom kniend, begann, seine Hose notdürftig von dem verschütteten Kaffee zu reinigen. Erst jetzt wurde Tom bewusst, wie langgliedrig und fein ihre Statur war. Die leicht ungepflegten Haare verliehen dieser abgespannten Frau tatsächlich so etwas wie Echtheit. Ihre Haut glänzte vom dünnen Schweißfilm der ausgeprägten Müdigkeit fahl. Schüchtern ergriff er ihre Hände. Sie blickte mit ihren müden, doch tiefen, bernsteinbraunen Augen, zu ihm auf. Ein fragender Blick schweifte über sein Gesicht, als er ihre Hände, durch die seinen geführt, an seinem Oberkörper entlang tasteten. Sie zitterte, als sich ihre Blicke ineinander verloren und Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Was war los? Während er ihren schmalen Körper umschlang, während er sie an sich riss und ihre Lippen verzweifelt an seinen sogen, fühlte Tom, wie ihm sein Leben entglitt. Jeder Halt und jede Bestimmung war verflogen. Nein! Das Lenkrad war unter seinen Fingern weggeschmolzen und er fühlte in diesem Moment, während er mit einer wildfremden Angestellten an einer gottverlassenen Tankstelle mitten im Nirgendwo - Verdammt, was machte er eigentlich mit ihr? - , wie seine Hände aufhörten, nach dem Lenkrad zu greifen. Celine, Pigalle, die Tierfigürchen und der Wohnzimmersessel verblassten. Alles, was bisher geschehen war, erschien ihm unecht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sein Fernseher aussah.
Es war etwas seltsam gewesen, als Tom sich mitten in der Tankstelle wieder anzog. Die Kassiererin hatte es ihm wortlos gleich getan. Mit einem knappen Nicken hatte er sich verabschiedet und war durch die Schiebetüre ins Freie getaumelt. Oder in die Freiheit? Warme Luft umfing ihn, während er auf den nächsten Bus wartete. Er versuchte, nicht zu ihr zurückzusehen. Wenn er sich umdrehte, würde er sich verlieben. Oder zur Salzsäule erstarren. So schön hatten echte Tränen in ihren Augen gelänzt. So schön, dass er selber erst leise und dann immer lauter schluchtzte. Dass beide am Ende verzweifelt schrien, konnte auch ein gemeinsamer Höhepunkt nicht zureichend erklären. Die Nacht war lau und eine Grille zirpte irgendwo im Gebüsch. Es würde wohl einige Stunden dauern.