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Tony
Was ich euch jetzt sage, kann ich höchstens flüstern. Ich bin eingeklemmt zwischen Befürchtungen, sitze hier unter der Treppe versteckt, während Menschen mit Kameras und Waffen durch das weitläufige Haus streifen. Wenn ihr meine, zwischen die Zeilen geworfenen Sätze hören wollt, so müsst ihr ganz nah kommen, auf dass mein Mund fast euer Ohr berühre.
Seit ich mich zurückerinnern kann, hieß es, bei den Natangas wohne ein Drache. Wenn man acht ist und den Sommer immer bei ihnen verbringt, glaubt man das auch. Das Haus der Natangas ist wirklich groß, eigentlich sind es zwei Häuser. Das eine, das ältere ist bei einem Erdbeben bis auf die Keller zusammengefallen und das neue hat man einfach darüber gebaut. In der Flucht an Kellerräumen könnte sich so manches seltsame Wesen versteckt halten.
Versteckt, ja, bis jemand sich verplappert. Ich, zum Beispiel.
Aber irgendwie war es nicht real. In der Phantasie eines Kindes schon, doch nicht mehr als der Osterhase oder das Christkind. Umso schockierender war es für mich, als wir (ich, der kleine Peter Natanga und seine noch kleinere Schwester) eines Tages beschlossen den Gerüchten ein Ende zu setzen und in die weitesten Winkel des Kellers vordrangen. Drei Kinder, denen das Regenwetter den Spielplatz verwehrt, die sich auf die Suche nach etwas machen, von dem sie nicht wissen, ob es wirklich da ist. Der Keller machte Angst (macht er heute –leer, aber auch nicht- auch noch), aber jeder möchte vor den anderen mutig dastehen und der Teddy, den Nicki unter ihrem Pulli versteckt hält (der uns verteidigen sollte, falls es zu einem Kampf käme) macht Mut. Vorbei an den noch vertrauten Türen, hinter denen Einmachgläser und Werkzeuge ein staubiges Leben führen. Plötzlich ging der Boden in nackten Beton über und der Gang macht einen scharfen Linksknick. Ich war weiter weg von der Treppe, als jemals zuvor. Wir schreiteten weiter in der absoluten Gewissheit mehrere Kilometer tief im Erdreich zu sein.
Über die Ecke schauten die beschuppten Beine eines Drachen hervor. Einfach so. Ein Schock. Diesen Anblick werde ich nie vergessen, er hat sich in mein Hirn eingebrannt wie meine Hochzeit oder der Autounfall. Dieser geheimnisvolle Keller, Peter und Nicki hinter mir und um die Ecke liegen klauenbewährte Drachenbeine. Wir haben alle angefangen zu schreien. Gleichzeitig, dass machte es nachher leichter für jeden von uns, als der wirklich Mutige dazustehen. Drauf erhob sich der Drache zu seiner vollen Größe und musterte uns ruhig.
„Oh“, sagte er mit rußig dunkler Stimme, von unserem Geschrei überhaupt nicht beeindruckt, „Kinder.“ Ich war sicher, er würde uns fressen. Doch er stand nur einfach weiter da und schaute uns an.
„Ein echter Drache!“, brachte Nicki hervor, nicht lauter als ein Flüstern. Der Drache verdrehte die Augen und schickte sich an, in die Tiefen des Kellers zu verschwinden.
„Wieso hast du dich hingelegt?“, fragte Nicki, in deren Welt Sich-Hinlegen allabendlich ein Kampf gegen die Eltern war, weiter und ich setzte hinzu: „Es sah aus, als wärst du tot.“
Der Drache guckte zutiefst traurig, so traurig, dass es mir fast das junge Herz brach: „Ja“, sagte er und es klang, als müsste er dieses Wort aus einem dunklen Schacht hervorziehen.
So etwas kommt vor. Man kann einfach nicht die Klappe halten, erzählt es irgendjemanden und der erzählt es weiter und auf einmal sind Presse und Polizei hier. Und Tony muss fliehen.
Herrn und Frau Natanga schien die Anwesenheit des Drachen nicht weiter zu stören. Auch nicht die Tatsache, dass wir es nun auch wussten. Sie bläuten uns nur ein, es niemanden sonst zu sagen. Wir verbrachten jetzt fast jeden Tag unten beim Drachen. Der wurde nämlich richtig zutraulich. Wir zähmten ihn, er machte uns wild. Tagsüber (ob es regnete oder nicht) balgten wir rum, nachts flogen wir auf seinem Rücken um die Stadt. Wir piesackten ihn, er setzte uns auf den Schrank und ließ uns nicht mehr runter. Nachts schien das Feuer in ihm durch seine Augen so hell, dass man hätte lesen können (aber er mochte eigentlich keine Bücher, es sei denn es ging darum um Drachen). In seiner Gegenwart fühlten wir uns beschützt und auf seltsame Weise schien es, als seinen wir es, die ihn wärmten und nicht umgekehrt.
„Wir heißt du eigentlich, Drache?“, fragte ich eines Tages.
„Tony“, meinte der Drache und reichte mir eine Klaue, die zweimal so groß war wie mein Kopf.
Auf der Brust hatte Tony eine Narbe, die über seinem Herz anfing, um das Sonnengeflecht herum ging und erst da endete, wo bei Menschen der Blinddarm ist.
„Man hat dich verletzt, Drache“, bemerkte Peter und fuhr den dunklen Strich mit seinem Zeigefinger entlang.
„Das ist lange her“, sagte Tony kurz angebunden und schloss sich im Fahrradraum ein, wie immer, wenn er schlechte Laune hatte.
Während die Tür noch knallte, sah ich oben auf der Treppe Frau Natanga stehen. Wusste sie genaueres? Nun ja, sie war eine Erwachsene und Erwachsene wissen immer alles. Wir liefen auf sie zu und löcherten sie, wie ein Vampir den Hals einer Jungfrau.
Sie erzählte uns dann auch, was es mit der Narbe auf sich hat. „Tony kommt aus einer anderen Welt. Er hütete auf seiner Burg den Flammenstein. Das ist ein mächtiger, magischer Gegenstand, der wertvollste, den ein Drache besitzen kann und er macht, dass sie Feuer speien. Aber er war allein. Er flog deswegen lange Runden über das Land, auf der Suche nach einer Gefährtin, die er dann auch fand. Er holte sich eine hübsche liebe Wassernymphe auf seine Burg. Doch eines Tages verriet sie den Menschen im Dorf von dem Stein und sie kamen mit Äxten, Fackeln und Sensen, brachen in seine Burg ein und nahmen den Stein. Tony tat ihnen nichts an, obwohl er könnte und sie ihn angriffen, denn unter ihnen war auch seine Nymphe, und die hätte er um keinen Preis verletzen wollen. Sie aber ging mit der Menge fort und lebte von nun an bei einem Menschenmann. Seitdem konnte es Tony nicht in seiner Welt aushalten und so kam er zu uns.“
Abends im Bett dachte ich lange darüber nach, was Peters Mutter gesagt hat und je länger ich nachdachte, desto wütender wurde ich. Am nächsten Tag stürmte ich in den Keller mit dem festen Vorhaben, Tony zur Rede zur stellen.
„Du Versager!“ Er blickt verwundert von einem alten Holzauto auf, mit dem er spielte und das er wohl hier unten irgendwo gefunden hat.
„Du lässt dir von einer Nymphe den Stein klauen, ziehst dich dann hierher zurück und jammerst hier faul vor dich hin! So habe ich mir einen Drachen nicht vorgestellt; das ist Verrat an dir selbst!“
Tony legte das Spielzeug beiseite und meinte: „Glaubst du etwa diese Nymphe hätte mir irgendetwas nehmen können, was ich ihr nicht auch so gegeben hätte? Glaubst du man kann einen Drachen mit Waffen und Gewalt zu etwas zwingen?“
Ich wusste es nicht.
„Mit den Zauberdingen ist es so: Man kann sie nur geschenkt bekommen. Wer sie sich nimmt, dem bringen sie nur Unglück.“
Das sagte Tony und das sah ich ein. Doch ich merkte ihm an, dass ihm anstatt des Unglücks der Nymphe lieber gewesen wäre, wenn sie ihm das nicht angetan hätte.
Ein andermal schlich ich mich runter, aber ohne ein Geräusch zu machen, ich wollte ihn erschrecken. Die Stufen herunterkletternd, hörte ich Musik und durch den Türspalt sah ich Tony tanzen. Es war kein richtiger Tanz, Drachen tanzen nicht, eher so eine Art rituelle Bewegung. Doch merkwürdigste waren seine Augen. Er tanzte zwar, sein schweißglänzender Körper war in pulsierenden Rhythmus, doch seine Augen tanzten nicht mit. Sie blickten stumpf und kalt in die Leere, als gehörten sie gar nicht zu diesem Drachen. Ich ging wieder hoch und fragte Herrn Natanga. Er schaltete den Fernseher aus und horchte. Als er glaubte die Musik auch selber zu vernehmen, meinte er: „Drachen führen diesen Tanz auf, um den Stein am Glühen zu halten. Aber bei Tony ist er eigentlich sinnlos, er hat den Stein ja eh nicht mehr.“ Da tat mir diese verzweifelte Geste, dieses Greifen nach Vergangenem leid und ich verspürte den dringenden Wunsch, Tony zu helfen.
Wenn ich vorhin meinte, ihr müsste nahe komme, um mich zu verstehen, dann müsst ihr jetzt nicht nur mit euren Ohren, sondern auch mit eurem Herzen nahe kommen. Was ich jetzt erzähle, habe ich nicht mit meinen Augen gesehen und ich weiß nicht, ob ich es überhaupt weitererzählen darf. Denn seitdem schlich ich mich immer wieder lautlos in die Keller, in der Hoffnung, Tony wieder tanzen zu sehen. Und eines Tages hatte ich Glück, aber er tanzte nicht allein. Neben ihm in der Luft schwebte eine blonde Elfe und tanzte mit ihm.
Ein Drache und eine Elfe. Er schwer, sie leicht. Er Echse, sie Vogel. Beides Traumwesen. Ein seltsamer Tanz.
„Ach, Elfe“, sprach Tony, „Ich wünschte, ich könnte so schwerelos tanzen wie du.“
„Du kannst es, Drache“, klang ihre glockenreine Stimme, „Du kannst es. Ich werde die Schwere für einen Augenblick von dir nehmen.“ Mit diesen Worten lies sie etwas Elfenstaub auf ihn herabrieseln und über ihre auf seiner Brust liegende Hand floss etwas, das aussah wie flüssiges Feuer, von ihm weg.
Und jetzt tanzten sie wieder, aber nicht wie zwei entgegengesetzte, tote Pole, sondern wie zwei absolut gleiche und doch auf schöpferische Weise verschiedene Wesen, in einem lebendigen Tanz miteinander vereint. Und Tonys Augen leuchteten.
Ich habe Tony nie so befreit und so glücklich gesehen.
Aber wir wurden älter und wenn man einen Drachen zu Hause (oder im Haus des besten Freundes) hat, dann ist der auf einmal nicht mehr so interessant. Ich weiß nicht mehr, wer es zuerst erzählte, Peter oder ich (der Nicki traue ich mehr Selbstbeherrschung zu), aber jetzt sind sie hier und wollen Tony holen. Hätte Geld dafür geben können, wenn man die Story richtig vermarktet hätte, spricht ein dunkler Teil in mir. Doch der ganze Rest macht sich Vorwürfe. Ich verstecke mich – vor Tonys gerechter Wut? – vor der Meute?
Ich weiß, dass er es schaffen wird, dass er flieht.
Drachen finden immer einen Weg.
Ich wünsche dir alles Gute, Tony.