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Torero
Torero
Trotz der großen Hitze, die typisch ist für den spanischen Sommer, lag ihr Grab im kühlen Schatten zwischen den großen Bäumen des gepflegten Friedhofs.
Ich legte gedankenverloren einen Strauß Sommerblumen nieder und blickte versonnen auf die kleine, verwitterte Abbildung, die jemand mit großer Sorgfalt in den Grabstein geritzt hatte. Es war das jugendliche Gesicht der Schwester meiner Großmutter, deren früher Tod im Alter von einundzwanzig Jahren noch zwei Generationen später dunkle Schatten auf unser Familienleben warf.
Nachdenklich betrachtete ich die feinen Linien auf dem dunklen Stein, und wieder fiel mir die verblüffende Ähnlichkeit auf – es war, als wäre jenes Porträt auf dem Grabstein eine detailgetreue Abbildung meines Gesichts. Maria, so hieß meine Großtante, war durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, auf dem Weg nach Madrid. Zu diesem Zeitpunkt war sie genauso alt gewesen wie ich, als ich an jenem Tag zum ersten Mal an ihrem Grab stand und über ihre so folgenschwere Entscheidung nachdachte.
Sie hatte damals, vor vierzig Jahren, einen Spanier kennen gelernt, einen berühmten Stierkämpfer. Meine Großmutter und der Rest der Familie hassten ihn, sie sagten ihm nach, er sei nichts als ein Verführer gewesen und sahen Maria als eines seiner zahlreichen weiblichen „Opfer“. Sie hörte nicht auf das Gerede, packte ihre Sachen und wollte ihm in seine Heimat folgen.
Doch sie sollte Spanien nie erreichen. Das tragische Schicksal ereilte sie in mehreren tausend Metern Höhe: Ihr Flugzeug stürzte ab und Maria starb auf dem Weg zu ihrer großen Liebe, im Alter von einundzwanzig Jahren. Der spanische Stierkämpfer starb nur kurze Zeit darauf unter mysteriösen Umständen in der Arena. Ein Stier rammte ihm die Hörner in den Bauch, sodass er noch am selben Tag qualvoll hinschied. Sein Tod wurde als tragischer Unfall dargestellt. Mehre Stimmen aus dem Publikum behaupteten jedoch, er habe sich nicht von der Stelle bewegt, als der Stier auf ihn zustürmte, sondern die Arme gehoben und ein Wort geflüstert, das niemand verstand.
Es verging seither kein Tag, an dem meine Großmutter ihn nicht verfluchte und verdammte. Für sie und die Familie war der torero schuld an Marias Tod. Sie hassten Spanien und wären nie auf den Gedanken gekommen, je in dieses Land zu reisen, das mich so sehr in seinen Bann gezogen hatte.
Ich schüttelte leicht den Kopf und wandte mich ab. Mir blieb nicht mehr viel Zeit für solche Gedanken, denn in wenigen Stunden würde ich im Flugzeug sitzen, auf dem Weg zurück nach Deutschland. Wie immer war der Aufenthalt in Spanien stressig gewesen, doch ich war fasziniert von der spanischen Metropole. Sie zog mich magisch an. Ich plante, in einem Jahr entgültig nach Madrid zu ziehen und dort für immer zu leben – egal, wie sehr sich meine Familie dagegen aussprechen würde.
Hinter mir knackte ein Zweig, und überrascht fuhr ich herum. Ich war sicher, Schritte gehört zu haben, direkt hinter mir, doch ich konnte zwischen den Büschen und Bäumen niemanden erkennen.
Ich verließ den Friedhof und stieg in ein Taxi, um ins Zentrum Madrids zu fahren. Ein letztes Mal noch wollte ich mich dem Flair der ruhelosen Stadt hingeben, bevor ich zurückreiste.
Während ich den Friedhof verließ, bemerkte ich nicht, dass mir jemand folgte.
Drückend lag die Hitze über der Stadt, doch dem Leben in den Straßen tat es keinen Abbruch. Es war Hauptsaison, und die Touristen strömten über die Plätze und durch die engen Gassen. Die Stierkämpfe, las corridas de toros, lockten die Menschen in die Arena. Ich ließ mich durch die Stadt treiben und genoss die letzten Stunden.
Als ich einige Zeit später in das kleine provisorische Hotel zurückkehrte, beschlich mich bereits ein seltsames Gefühl, als ich in den düsteren Korridor trat, der zu meinem Zimmer führte. Hier hatte ich eine Woche lang die lauen Nächte verbracht, und nun musste ich nur noch die Koffer holen und zum Flughafen fahren. Doch irgendetwas war dieses Mal anders. Kein temperamentvolles spanisches Gerede erklang hinter den anderen Zimmertüren, alles war unglaublich still. Als ich den Hotelzimmerschlüssel in das Schloss steckte und drehte, begann meine Hand plötzlich zu zittern. Nicht vor Angst, sondern vor Erwartung. Ich wusste nicht, wer, doch ich wusste, dass mich jemand erwartete. Langsam öffnete ich die Tür und trat ein.
Er saß auf dem Bett, mit dem Rücken zu mir. Ich schloss leise die Tür, legte meine Tasche ab, lehnte mich mit dem Rücken gegen das Holz und wartete. Er stand langsam auf und wandte sich zu mir um.
Er war ein torero. Er trug die typische, eng geschnittene und goldbestickte Tracht eines Stierkämpfers. Unterhalb des Brustbeins schimmerte frisches tiefrotes Blut auf dem kostbaren Stoff. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich eingehend mit seinem dunklen Blick.
„¿Quién es y qué está haciendo aquí ?“, fragte ich ihn und bemühte mich um einen festen Klang meiner Stimme.
Er kräuselte seine Lippen.
„Mein Name spielt keine Rolle.“, sagte er leise. „Doch ich bin hier, weil ich etwas wieder gut zu machen habe.“
„Sie...Sie sprechen deutsch?“, fragte ich verblüfft.
„Ja.“, entgegnete er heiser und richtete den Blick in die Ferne. „Das hat mir vor langer Zeit jemand beigebracht.“
Ich spürte, dass in diesem Raum gerade etwas Außergewöhnliches, ja, etwas Ungreifbares vor sich ging.
„Sind Sie verletzt?“, fragte ich und deutete auf das Blut.
Er blickte an sich herunter.
„Nein,“, entgegnete er und lächelte beinahe, „nein, das denke ich nicht.“
Ich schluckte, als er langsam auf mich zukam.
„Sie sagten, sie hätten etwas wieder gut zu machen.“, begann ich nervös und ließ ihn nicht aus den Augen. „Was meinen Sie damit? Ich kenne Sie nicht.“
Er blieb dicht vor mir stehen und hob mein Kinn. Seine braunen Augen schienen mich zu durchdringen.
„Die gleichen grünen Augen.“, flüsterte er. „Das gleiche blonde Haar.“
Er zwirbelte eine blonde Strähne zwischen seinen Fingern.
Plötzlich wurde mir heiß, und das lag gewiss nicht an der sommerlichen Hitze.
„Hören Sie, mein Flug geht in zwei Stunden. Ich muss sofort los...“
Er legte mir einen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Du kannst nicht fliegen.“, sagte er heiser. „Nicht jetzt... nicht heute.“
Und langsam, ganz langsam, begann alles zu verschwimmen. Alles um mich herum, der Boden unter meinen Füßen, ich selbst zerfloss, und alles was ich zuletzt spürte, waren seine Hände, was ich zuletzt sah, waren sein Lippen, und sie formten den Namen einer Frau:
Maria.
Das Telefon schrillte, und ich schrak aus meiner glühenden Traumwelt. Das Laken war zerwühlt, und meine Sachen lagen zerstreut um das Bett herum.
Es war Nacht, und ich war allein.
Ich stöhnte und griff nach dem Telefon, bekam allerdings erst nur Papier zu fassen. Verwirrt versuchte ich im dämmrigen Licht die Letter zu entziffern. Es war ein Flugticket für den folgenden Tag, gebucht auf meinen Namen.
Ich runzelte die Stirn und griff nach dem noch immer klingelnden Telefon.
„Ja?“
„Isabelle? Isabelle, bist du das?“
Die Stimme meiner Mutter klang vollkommen aufgelöst. Ich raufte mir die zerzausten Haare und setzte mich stöhnend auf. Meine Glieder waren bleischwer.
„Ja... ja, natürlich bin ich es. Wer sonst?“
„Gott sei dank, Isabelle, du... du lebst! Wo bist du denn? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich du mich machst, Isabelle!“
Sie begann laut zu schluchzen und ich horchte alarmiert auf.
„Mama, beruhige dich doch. Mir geht es gut, ich...“ – Resigniert blickte ich mich um – „Ich bin noch in Spanien. Was ist denn geschehen?“
„Das... das Flugzeug. Dein Flugzeug, mit dem du fliegen wolltest, es... Es kam gerade die Meldung, dass es abgestürzt ist... keine Überlebenden... und ich dachte.. wir alle dachten... nicht schon wieder...“
Ungläubiges Begreifen machte sich in mir breit. Hätte ich vor wenigen Stunden in dem Flieger gesessen, wäre ich mit abgestürzt und nun vermutlich tot. Wie in Zeitlupe legte ich den Hörer auf.
Mir wurde kalt, als sich die Erkenntnis in mir breit machte.
Ich blickte auf die leere Seite neben mir. Auf dem Kissen lag ein goldenes Medaillon. Es war noch warm, als ich es berührte. Auf der Rückseite war ein Name eingraviert. Antonio Claverio.
Langsam drehte ich das Medaillon um.
Es zeigte einen torero.
Erst drei Jahre später kehrte ich an Marias Grab zurück. Ich legte das Medaillon an ihrem Grabstein nieder und verharrte lange Zeit regungslos. Als ich mich erhob, fiel mein Blick auf den Grabstein daneben, und ich war kaum überrascht, dort den Namen Antonio Claverio zu lesen.
Ich lächelte still, denn ich wusste, dass er seinen Frieden vor drei Jahren gefunden hatte.
Dann wandte ich mich um und kehrte nach Hause zurück, in eine kleine Wohnung in Madrid, wo mein kleines Mädchen, beinahe drei Jahre alt und mit großen braunen Augen, bereits auf mich wartete.
Ich hatte sie Maria genannt.