Torschlusspanik
Da saß sie nun mit überschlagenen Beinen im Café an der Lindenstraße.
Vor ihr stand eine Tasse Macciato mit einem extra Schälchen Sahne und Schokoladenstreuseln. Der Tisch stand unter einer rot-weiß gestreiften Markise und ließ sie angenehm im Schatten sitzen. Er war bestückt mit einem Deckchen in den führenden Farben des Cafés. Ihre Beine steckten in einer hellbraun kolorierten Strumpfhose. Ihr Gesicht war weiß dagegen und schien unnatürlich hell im Sonnenschein. Ihr Rock reichte ihr bis zu den Knien und war grau-weiß gestreift. Auch ihre Bluse gab keinen Kontrast zu der kalten Farbwahl. Sie war weiß wie frischgefallener Schnee in einer herrlichen Winterlandschaft. Ihre Haare hingen ihr locker ins Gesicht und über den Schultern. Sie waren der einzige Farbklecks in ihrer alltäglichen Erscheinung. Kupferrot umwellten sie das angespannte Gesicht mit Sorgenfalten auf der Stirn und Alterserscheinungen in den Augenwinkeln und am Mund. In den gepflegten Händen mit den weiß lackierten Fingernägeln hielt sie eine Illustrierten. Sie wirkte weder müde noch abgehetzt, aber dennoch unendlich traurig. Mit scheinbar gelangweilter Miene blätterte sie Seite um Seite ohne jedoch ein Wort zu lesen. Ihr braune Handtasche hing über der Stuhllehne und wurde nicht mit einem Blick bedacht. Endlich hob sie den Kopf und warf einen Blick auf dem von Leuten wimmelnden Gehweg gegenüber. Dort sah sie ein Pärchen, Arm in Arm, lachend und strahlend. Sie trug ein buntes Sommerkleid und Stilettos, er einen leichten blauen Anzug mit offenem Hemdkragen. Außerdem trug er in der freien Hand eine Einkaufstüte mit grüner Aufschrift. Aus den Augenwinkeln sah sie das Paar um die nächste Ecke verschwinden. Mit zugezwickten Augen versuchte sie sich auf das Heft zu konzentrieren, doch es wollte nicht so recht klappen. Immer wieder wanderte ihr Blick auf die gegenüberliegende Seite.
War sie denn wirklich so unattraktiv? So unscheinbar und unnatürlich? Sie war doch wie alle, hübsch und intelligent und frei. Ja, das war doch das wichtigste. Frei wie ein Vogel im Wind, wie ein Schmetterling im Frühling. Waren denn alle Frauen besser als sie, auffälliger? Wieso bekam sie nicht einmal einen Blick zugeworfen?
So wie das Mädchen am Nebentisch. Sie war höchstens zwanzig, vollbusig und rotlockig. Ihre hellgrüne Bluse war um die obersten Knöpfe geöffnet und ihre Shorts sahen ein wenig schmuddelig aus. Doch trotzdem schien sie die Blicke der Männer magisch auf sich zu ziehen. Und sie, wer war sie?
Sie hatte zwar nicht so eine Oberweite zu bieten und keine schmierigen Shorts, dafür aber eine hübsche Dachwohnung mit einem beziehbaren Kinderzimmer in gelb und grün gehalten mit Mahagonimöbeln bestückt und wunderschönen Vorhängen vor den großen Fenstern.
Und auch ihr Schlafzimmer war in den Farben von türkis und dunkelblau nicht zu verachten.
Ihre Küche war doch ein Traum aus hellen Möbeln und schönen Bildern an den Wänden.
Sie besaß einen LCD-Fernseher und Premiere im Jahresabo.
Ein Wohnzimmer mit Grünpflanzen in jeder Ecke und einer roten Couchgarnitur und viele DVD’s für gemütliche Abendstunden zu zweit.
Im Bad wartete eine große Badewanne für zwei Personen in der noch nie einer gesessen und dem trommelnden Regen auf dem Dachfenster gelauscht hatte. Eine einzelne salzige Träne ran ihr über die linke Wange und tropfte auf ihre Bluse. Sie war nun neununddreißig und keiner hatte sie jemals angesprochen, keiner angeguckt. Nicht mal ein Lächeln hatte sie jemals bekommen, von keinem Menschen. Sie fühlte sich allein und verlassen unter der Menschenmenge. Sie wollte Familie, Kinder, ein Mann der ihre abends den Rücken massierte wenn sie von stundenlanger Büroarbeit erschöpft nach Hause kam. Doch alles was sie dann vorfand war eine leere Wohnung. Sie glaubte schon nicht mehr daran. Wunder waren nicht mehr möglich, ihre biologische Uhr tickte unaufhaltsam. Es war nichts mehr dran zu ändern, bald war es zu spät. Langsam legte sie das Geld abgezählt neben die Tasse und stand auf, strich ihren grau-weißen Rock glatt, schulterte ihre Handtasche und war unter den vorbeieilenden Menschenmassen verschwunden.