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- 30.01.2003
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Totenfeier am Meer
Totenfeier am Meer
Ich danke Christina für ihre Liebe, Resa und Ute für die Freundschaft die uns verbindet.
Als Gregor Samsa eines Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.
Franz Kafka „Die Verwandlung“
Vereinzelte Sonnenstrahlen haben sich wie Nadeln durch den Wolkenvorhang bebohrt, der wie gemalt in unendlich vielen Nuancen von Rot leuchtet. Die Abendluft mit ihrer milden Wärme liegt träge auf Meer und Küste und hat dabei vollkommen den Geruch des Regens in sich aufgesogen. Der Sturm, der vom Land her kam und sich dann weit draußen auf dem Wasser verlor, hat sich bis auf einen die Haut liebkosenden Windhauch gelegt. In der Ferne ziehen Möwen gemächlich ihre Kreise.
Ein paar Kinder spielen in ihrer Sonntagskleidung am Strand; etwas abseits der Trauergäste. Eines von ihnen – ein Junge von besonderer Schönheit, makellos und rein – liegt hierbei regungslos und mit geschlossenen Augenlidern in einer Grube. Die Hände hat er auf seiner schmalen Brust gefaltet, die sich unruhig auf und ab bewegt. Über ihm, um den Rand der Grube verteilt, stehen die anderen Kinder mit gesenkten Häuptern und zitieren mit feierlichen Stimmen aus der Heiligen Schrift. Als ihre letzten Worte verklungen sind, lassen sie eines nach dem anderen, einem Stundenglas gleichend, Sand durch ihre Hände hinab auf den Jungen rinnen. Gemeinsam beginnen sie das Grab zuzuschaufeln. Immer wieder halten ein paar von ihnen hierbei inne, um ihre Brillen mit den fingerdicken Gläsern zurecht zu rücken oder, bei den Dickleibigen unter ihnen, schwer atemholend auszuruhen. Unentwegt dringt dabei leises Schluchzen und Wimmern von dem Jungen herauf. Seine braunen Augen – glänzend glatt wie ein von Meereswogen geschliffener Stein – sind weit aufgerissen, das Gesicht blass und vor Angst zu einem Zerrbild entstellt. Davon aber völlig unbeirrt erinnern ihn die anderen Kinder nur an sein Versprechen, ihnen das Spiel nicht zu verderben.
Ohne von all diesem etwas zu bemerken sitzt ein älteres Paar gemeinsam auf einem zerschlissenen Ledersofa. Ihre Körper sind mit aller Mühe an die Seitenlehnen gepresst, so dass eine Lücke zwischen ihnen klafft. Der Schatten des Sonnenschirms fällt schemenhaft auf ihre regungslos- zerfurchten Gesichter. Ohne einander zu beachten starren sie auf die Filmaufnahmen, die ein klobiger Projektor älterer Bauart flimmernd auf die Leinwand vor ihnen wirft. Die gelbstichigen Aufnahmen , welche immer wieder von Kratzern gezeichnet sind, zeigen einen Kindergeburtstag. Ein festlich gekleideter Junge sitzt zusammengekauert in einer der hinteren Ecken des Raumes und spielt apathisch mit seinem Holzauto. Sein Kopf ist zu Boden geneigt und die herabgefallenen schwarzen Haare verdecken sein Gesicht. Doch dann hebt er den Kopf, schaut mit leeren Augen in die Kamera. Sein Mund formt langsam einen stummen Schrei. Er bewegt sich auf Händen und Füssen auf die Kamera zu, sein Gesicht ist ganz nah und seine Stimme ein trauriges Flüstern: „Wo bist du?“.
Ein Mädchen liegt versteckt inmitten der Dünen, die den Strand in einem großen Halbbogen begrenzen. Sie ist nackt und ihre weißen Brüste mit den großen, dunklen Brustwarzen hängen schlaff an den Seiten herab. Die Beine sind leicht aufgestellt und weit gespreizt, so dass ihr Schamhaar und ihr Geschlecht zu sehen sind. Ihren Kopf hat sie nach hinten auf ein Buch gebettet und ihre Haare schmiegen sich wie eine Meereswoge an den Sand. Ein Käfer von gewaltiger Größe bewegt sich langsam, fast vorsichtig tastend auf ihrem Körper voran. Das Mädchen liegt ganz still, genießt jede Bewegung des Käfers. Sie streichelt immer wieder den schwarzen, glänzenden Panzer des Tieres mit ihren Fingerkuppen. Der Käfer bewegt sich den Körper hinab zu ihrem Geschlecht, dringt ganz in sie ein. Das Mädchen stöhnt leise auf: „Mein Bruder!“.
Eine Jazzband, bestehend aus Klavier, Saxophon, Bass und Trompete, spielt für die Trauergäste, die angeregt tanzen; die Musik jedoch kommt aus einem Grammophon, welches neben der Band auf einem Tisch steht.
Plötzlich wird die Nadel von der Platte genommen. Die Band bricht ab und auch die Tanzenden verharren; Getuschel kommt auf. Ein Kleinwüchsiger, in schwarzen Frack und mit einem für ihn viel zu großen Zylinder, kommt herbeigeeilt und bittet die Trauergäste durch eine Flüstertüte, sich doch zum Wasser zu begeben, um dort die Feierlichkeiten fortzusetzen. Gemächlich und angeregt plaudernd gehen die Anwesenden der Bitte nach. Am Wasser zünden sie Kerzen an und stecken diese in den feuchten Sand. Boote haben draußen auf dem Meer eine Gasse gebildet. Die Jazzband spielt mit einem langsamen Stück wieder auf, die Musik schallt erneut aus dem Grammophon. Die sterbliche Hülle eines Knaben wird von vier Männern hinab zum Strand getragen und in das seichte Wasser gelegt. Langsam treibt der tote Junge die Gasse entlang. Auf den prachtvoll mit schwarzen Blumen dekorierten Booten stehen korpulente Frauen mit langen Kleidern, welche weit über den Bootsrand wallen und deren schwarzer Stoff vom Meer getragen wird. Sie werfen dem Toten, als er an ihnen vorübertreibt, Blumen zu und senken ihr Haupt.
Sie erhebt sich von der Holzbank, bewegt ihre Glieder, als wäre sie gerade aus langem Schlaf erwacht und fährt sich mit ihren langen Fingern durch das Haar. Sie dreht sich zum Ausgang hin, wobei sie noch einmal ihre Hände sanft über das glatte Holz der Bank gleiten lässt. Ihr Blick schweift dabei über die Plakette neben dem Bild, vor welchem sie die ganze Zeit so versunken gesessen hatte:
„Totenfeier am Meer“
Maler: unbekannt
Sie seufzt, sieht beim Fortgehen, dass ein großer, schwarzer Käfer reglos auf dem Rahmen des Bildes sitzt, den Kopf zu ihr gewandt. Sie greift in ihre Manteltasche, schaltet ihren Walkman an – für einen kurzen Moment hallt leise in dem Ausstellungsraum die trunkene Stimme von Tom Waits wieder – dann steckt sie sich die Kopfhörer in die Ohren und entschwindet mit langsamen Schritt durch den von Sonne überfluteten Ausgang.