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Totentanz

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15.10.2009
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Totentanz

Ich trank. So wie ich es immer auf Familienfeiern tat. Anders ist das Elend auch kaum zu ertragen. Ich glaube sogar, dass Menschen einzig aus diesem Grund immer wieder an runden Geburtstagen und edelmetallenen Hochzeiten zusammenkommen. Es ist eine Legitimation sich zu betrinken. Und anders als auf Betriebsfeiern kann man sich hemmungslos daneben benehmen, ohne dass am nächsten Tag ein kopierter Arsch am Schwarzen Brett hängt. Aber während meine so genannte Tante Betty schon alle Hemmungen hatte fahren lassen, war ich noch nicht so weit.
Die Getränke waren umsonst, aber man musste sie sich selbst von der Bar holen, obwohl ein Kellner in absurder Uniform herumlief. Er sammelte nur die leeren Gläser ein. An meinem Tisch war er schon viermal. Ich war zu träge um aufzustehen und mir das nächste Glas Bier zu holen, daher ließ ich meinen Blick über die anderen Tische schweifen. Das war ein Fehler.

Fremde Blutsverwandte in Kaufhausanzügen und zu eng gewordenen Abendkleidern, willkürlich um Plastiksträusschen gruppiert. Rotweinschorle, die von einer Papiertischdecke auf die Fliesen des Saals tropfte. Irgendein Schwager wirbelte Betty im Rhythmus von "Living next door to Alice" über die Tanzfläche. Nicht mehr lange und die Band würde zu Neuer Deutscher Welle und Schlagern übergehen.
Papa Herbert, der niemandes Papa ist, faltete Servietten zu Origami-Schwänen und heimste sich dafür gottgleiche Anerkennung von einer Horde Kinder ein.
Am frustrierendsten war ein Pärchen Ende 20, offenbar frisch verheiratet (sie trug ein Brautkleid). Beide auffällig nüchtern wirkend, tanzten sie sehr eng und unpassend langsam zur Musik. Sie blickten einander tief in die Augen und grinsten dement. Ihr Scheißglücklichen! Ich wollte mein Glas nach ihnen werfen, aber der hellblaue Pinguin hatte es schon abgeräumt.

Der Stuhl neben mir bewegte sich und mein Vater nahm Platz. Gott sei Dank! Er war der einzige Gast, den ich ertragen konnte, ohne ihn totbeißen zu wollen. Wortlos starrten wir beide auf das singende, springende Durcheinander. Irgendwann fiel mir auf, dass wir beide kaum merklich den Kopf schüttelten. Beherzt trank er den letzten Schluck aus einem Glas, das man >Tulpe< genannt hatte, als ich jünger war, und stellte es lautstark auf den Tisch.
"Hast du dem Paar schon gratuliert?", fragt er.
"Welchem?"
Er schmunzelte.
Das leere Glas vor ihm erinnerte mich an meinen niedrigen Trunkenheitsgrad. Ich sah mich um. Die Bar war hinter der Tanzfläche und ich wollte mich nicht durch den weingeschwängerten Reigen drängen.
"Ich hol uns was", sagte ich und ging zu dem Tisch auf dem die Geschenke gehortet waren. Ich konnte allein anhand der Kartongröße erkennen, was darin war. Ein Brotbackautomat. Ein Teeservice. Eine Venus mit Uhr im Bauch.
Abgepackte Glückwünsche, ohne Wert, ohne Vernunft.
Die Flasche Rotkäppchen aus der Tüte zu holen war einfach. Das aufwändige Grußkärtchen (>Alles Gute von Ariane und Peter<), das mit einer Kordel um den Hals der Flasche hing, musste ich dagegen mit einem Fischmesser losschneiden. Dabei hätte mich fast Tante Gudrun gesehen, die eine Bluse trug, die an einen Tuschkasten erinnerte. Im Schwarzwald sind die 90er sind noch nicht aus der Mode gekommen.
Als ich die Flasche neben meinen Vater stellte, blickte er sie irritiert an. Der Sekt an der Bar war schon vor einer Stunde aus gewesen.
"Wo hast du die denn her?"
"Ariane und Peter."
Er stahl zwei benutzte Sektgläser vom Nachbartisch während ich lautlos den Korken entfernte. Wir stießen an, tranken, stießen auf, und starrten wieder fassungslos auf die Tanzfläche. >Lady in black< klang grade aus. Die Tanzenden lachten hysterisch.
"Verdammter Totentanz", sagte mein Vater.
Ich nickte leicht.
"Ja. Verdammter Totentanz."

 
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Hallo Loui,

ich mag zwar den Stil, einige Formulierungen wie "edelmetallene Hochzeit" finde ich echt witzig, aber insgesamt ist mir das ein bisschen zu motzig, um es gut zu finden.

Solche auf andere herabsehenden Prots sind schwer zu mögen, da möchte man immer sagen "Fass dir mal an die eigene Nase, du Heinz". Eigentlich ist der Ich-Erzähler glaube ich eher ein bisschen neidisch auf das scheißglückliche Pärchen, das fände ich viel spannender herauszuarbeiten. Figuren mit Schwächen sind einfach liebenswerter, da findet der Leser sich besser rein und leidet mit.

Ansonsten birgt so eine Familienfeier als Hintergrund ein ähnliches Risiko wie Schul- und Bundeswehrzeit-Anekdoten: Jeder hat welche und jeder findet die eigenen am besten, ziemlich schwierig, damit was zu reißen.

Ich glaube sogar, dass Menschen einzig aus diesem Grund immer wieder an runden Geburtstagen und edelmetallenen Hochzeiten zusammenkommen.

Zum Saufen, ja, ich vermute, die Menschen sind in der Unterzahl, die diesen Gedanken nicht schon mal gehabt haben. Da wäre es angebracht, das ein bisschen zu verschlüsseln - zum Beispiel, die Feststellung in Form von Handlungen und Dialogen rüberzubringen - damit nicht so ein "Sach-nich"-Effekt entsteht.

Aber der Stil ist, wie gesagt, mit dem passenden Inhalt würde ich den gern öfter mal lesen.

Ein letztes technisches Ding: >Tulpe< Was soll diese Schreibweise mit dem Größer- und dem Kleinerzeichen?

Grüße
JC

 

Hallo Loui,

mir ging es genau wie Proof. Den Stil mag ich, die Geschichte finde ich zu dünn.
Mich störte vor allem, daß das Bemerkenswerteste so untergeht. Wenn jemand widerwillig, aber immerhin trotzdem zu einem Familientreffen kommt, ist es extrem unwahrscheinlich, daß er nicht weiß, wer da was feiert. Das muß ihm ja irgendwer gesagt oder geschrieben haben. Falls nicht (oder falls er das schon wieder vergessen hat), ist das sehr seltsam und hätte mehr Raum verdient. Das kann ich nicht einfach so schlucken.

Manche Sachen sind kraus, zB das hier:

heimste sich dafür gottgleiche Anerkennung von einer Horde Kinder ein.
Hier ist die Anerkennung gottgleich und sich überflüssig.
Es sind auch etliche Zeichenfehler drin.

Der verdammte Totentanz verliert durch die Wiederholung. Die kommt so nachgetreten daher. Ich fände den Schluß ohne den letzten Satz stärker.

Gruß,
Makita.

P.S. Hübsch fand ich, daß er eine Kordel mit dem Fischmesser durchschneidet. :D

 

Hallo Loui!

Irgendwann fiel mir auf, dass wir beide kaum merklich den Kopf schüttelten.
Ab da gefiel mir die Geschichte. Vater und Tochter im (fast) wortlosen Gleichklang.

die eine Bluse trug, die an einen Tuschkasten erinnerte. Im Schwarzwald sind die 90er sind noch nicht aus der Mode gekommen.
Das passt dort nicht. Die (bis dahin sicher nicht ganz unwichtige) Lästerei sollte vorbei sein und der Text sich aufs Wesentliche konzentrieren, der Seelenverwandtschaft von Vater und Tochter. Denn ohne diese wäre die Story toter als der toteste Totentanz. Oder so ähnlich. :D

Gruß

Asterix

 

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