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Träumerin und Zicke
zweite Verion:
"Weißt du noch wie elegant Blessy durch die Manege schreiten konnte?" Regina ließ ihre Stickerei sinken und ließ ihren Blick durch den weiträumigen Garten schweifen.
Josefina sah in die gleiche Richtung, doch da war weit und breit kein Pferd zu sehen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, ansonsten waren keine Tiergeräusche zu hören. Sie schaute ihre Schwester besorgt an. Wieso fing sie plötzlich mit dieser uralten Geschichte an?
"Ich weiß noch genau, wie er mich immer beißen wollte!"
"Weil du Angst vor ihm hattest!" Reginas Lachen klang immer noch glockenrein, nur die zu einem Dutt hochgesteckten weißen Haare ließen ihr Alter erahnen. Sie soll ja schon von Geburt an ein Sonnenscheinkind gewesen sein.
"Weil ich laut rumgemault habe, wenn ich den Stall ausmisten musste!" Josefina kniff die Augenbrauen zusammen. Obwohl sie die Jüngere war, hatten die Jahre viel tiefere Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
"Ich musste ja den ganzen Tag trainieren." Es klang weder vorwurfsvoll noch stolz, es war einfach eine Tatsache.
"Oh ja, das ist dir ja sooo schwer gefallen!"
Jetzt wandte Regina sich direkt an ihre Schwester. "Ohne meine Nummer wäre der Zirkus schon viel früher bankrott gewesen!" Sie richtete sich kerzengerade auf.
Zum ersten Mal erschien der Anflug eines Lächelns auf Josefinas Gesicht. "Mir hat es hinterher in der Drei-Zimmer-Wohnung vom Sozialamt schon besser gefallen als in dem schimmeligen Wohnwagen! Kein Pferdegestank mehr! Endlich konnte ich regelmäßig zur Schule gehen und mir später ein bisschen Wohlstand erarbeiten. Etwas, worauf du ja noch nie Wert gelegt hast!" Bei den letzten Worten beugte sie sich weit zu ihrer Schwester hinüber.
"Jeder sollte das tun, was er am besten kann", sagte Regina mit sanfter Stimme und nahm wieder ihre Stickarbeit auf.
"Jeder sollte das tun, wozu er in der Lage ist! Nicht mehr und nicht weniger!" Josefina schlug mit der rechten Faust leicht auf die Lehne ihres Gartenstuhls. "Du hättest auch eine Ausbildung machen, unabhängig werden können und vorher -"
"Vater hat mich darum gebeten", erwiderte Regina schlicht. "Er hat mich geliebt, da konnte ich doch nicht -"
"HA! Liebe!" Josefinas Lachen klang rau wie ein Reibeisen. "Hast du nie gemerkt, dass er dich genauso gelobt und ermutigt, ja dressiert hat, wie unsere Pferde, Löwen und all die anderen Viecher?"
Die Sticknadel stach in den Stoff, wurde durchgezogen und von der anderen Seite wieder durchgestoßen. Lautlos, im gleichmäßigen Auf und Ab.
"Du hast Dein ganzes Leben lang geglaubt, mit Deinem Engelsgesicht immer alle um den Finger wickeln zu können! Dabei hast du bloß nicht gemerkt, wie du selber benutzt worden bist!" Josefina stand auf, stützte sich auf ihren Stock und fuchtelte mit dem rechten Zeigefinger vor Reginas Gesicht herum. Es tat gut, dies endlich einmal auszusprechen. "Du meinst also wirklich, du hättest dich für die Familie aufgeopfert? Du hast doch immer nur das getan, was dir Spaß macht!"
Ganz kurz fiel ein Schleier über Reginas Augen, dann glänzten sie wieder. "Weißt du noch, wie wir alle meinen ersten Salto rückwärts gefeiert haben?" Ihre Stimme vibrierte vor Begeisterung. "Nicht der Applaus war die Krönung jeder Vorstellung -"
Josefina blieb abrupt stehen. "Weißt du auch noch, wie du gestürzt bist?"
Ein Strahlen umgab Reginas Gesicht. "- Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese Auftritte hätte ich nie alleine geschafft. Vater hat immer betont, der Beifall würde jedem von uns gelten. Stallausmisten ist genauso wichtig." Die sanften Worte vibrierten durch den Garten, bedeckten alles mit einem zärtlicher Schleier.
Josefinas Stock stocherte im Boden herum. Ein paar Spatzen schimpften irgendwo am Ende des Gartens. Ein leichter Wind wirbelte die Blätter auf.
Regina legte ihre Stickerei ab, zog die Schultern hoch. "Es wird kühl."
Ihre Schwester schaute zu ihr hinunter, wie hatte diese zarte Person bloß ihr Leben gemeistert?
Josefine seufzte. "Soll ich dir eine Jacke holen?"
"Nein, bitte bring mich auf mein Zimmer!", flüsterte Regina.
Josefina nickte und schob den Rollstuhl in das große Haus, auf das sie so stolz war. "Ich werde dann auch gleich noch einmal nach Vater schauen."