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- 17.10.2001
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Trauer
Am Morgen
Sie wachte auf.
Sie machte den Abwasch und das Frühstück: Rührei und eine große Tasse Kakao. Ein Lied summend, schob sie das Rührei auf seinen Lieblingsteller und stellte ihn auf den Tisch, auf seine Lieblingsseite, zwischen Gabel und Tasse.
Ein paar Minuten später kam er aus dem Bad, gut und frisch riechend, und setzte sich an den Tisch. Lächelnd saß sie neben ihm und schaute zu, wie er aß. Er liebt Rührei, dachte sie.
"Willst du noch welche? fragte sie, als der Teller leer war.
Er schüttelte den Kopf und wischte den Mund mit einer Serviette ab. Stand auf, öffnete den Kühlschrank und nahm einen Schluck kalte Milch, direkt aus der Packung. Dann durchquerte er das Wohnzimmer, schwang die Tasche über die Schulter, öffnete die Wohnungstür und trat heraus.
"Ich liebe dich", sagte sie.
Aber er war schon weg.
Am Mittag
Sie machte die Wohnung sauber.
Sie machte das Bett und moppte den Boden. Dann saugte sie, putzte die Fenster und wusch ihre Wäsche. Als sie fertig wurde, war es schon fast halb zwei. Er müsste schon längst zu Hause sein, dachte sie. Warum ruft er nicht an?
Sie öffnete den Schrank im Schlafzimmer und nahm ein dickes Album heraus. Sie blätterte Seite um Seite um, betrachtete die Fotos, umrandete die winzigen Gesichter mit ihrem Zeigefinger, Fotos von ihrer Hochzeit, Fotos von ihren Reisen. Nach all den Jahren, dachte sie, sieht er noch immer gut und stark aus.
Sie berührte ihr Gesicht und verzog es wegen der vielen Falten und tiefen Augenringe, die sich in letzter Zeit sichtbar machten.
Sie setzte sich aufs Sofa, und wartete.
Am Abend
Er kam spät nach Hause, zerknittert und dreckig.
"Du bist spät", sagte sie und stand auf.
Er zog die Schuhe aus, schälte die Socken von den Füßen und steckte sie fest unter die Schnürbänder.
"Du hättest anrufen können", sagte sie, als sie die Schuhe von ihm entgegennahm.
Er schleppte sich durchs Wohnzimmer, seine nackten Füße quietschten wie Mäuse.
"Du hast bestimmt Hunger. Ich mache dir was zum Abendbrot."
Er drückte die Türklinke herunter, trat ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu.
Sie wollte anklopfen aber änderte dann ihre Meinung. Statt dessen starrte sie auf die Türklinke, stand da wie eine Tonfigur während ihr die Schuhe aus den Händen rutschten, sich in der Luft drehend als würden sie nie zu Boden fallen, gefangen in einem bestimmten Moment der Zeit.
"Liebst du mich denn nicht?"
In der Nacht
Sie schaute im Dunkeln fern.
Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie ging zur Tür hinüber, klopfte und wartete auf seine Antwort. Als sie keine erhielt, öffnete sie die Tür und trat ein.
Er saß vor dem Computer, Hände auf der Tastatur, Augen den Bildschirm fixierend. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante.
"Was machst du?" fragte sie während sie eine Nadel aus ihren Haaren zog und es auf die Schultern fallen ließ.
Er hustete und nahm einen Schluck von dem roten Zeug in seinem Glass.
Während wie zuschaute wie er trank, zog sie ihr T-Shirt über den Kopf und stand auf, ihre nackte Brust sank gegen ihre Rippen. Sie stellte sich hinter ihn, lächelte und streichelte seinen Hals.
Mit einem finsteren Blick wich er von ihrer Hand zurück und schlug die Hand auf den Tisch. Das Glas wackelte, fiel um und das rote Zeug lief über die Tischkante und auf den Teppichboden.
"Bitte, tue mir nicht weh!" rief sie, schlang ihre Arme um ihn und drückte ihre Brust gegen seinen Rücken.
"Bitte Mama". Er schloss die Augen und verkrampfte die Hand zur Faust. "Bitte hör auf."
"Liebst du mich denn nicht?"
Sie schluchzte und schaukelte ihn wie ein Baby.
[Beitrag editiert von: Rabenschwarz am 19.11.2001 um 16:47]