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Traum der Kindheit

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31.08.2008
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Traum der Kindheit

Fallen - Dunkel - Schmerz - Licht - Schreien - Wärme


Ich fall in das Dunkel - Angst - ich schrei - Schmerz - endloses Fallen - Licht - trink Warmes - Schlaf


Eine dunkle Röhre - wie ein Brunnen - ich falle und falle - ich schreie - Messer zerstückeln mich - heftige Schmerzen in den Beinen - gleißendes Licht - ich wache auf. Meine Mutter nimmt mich aus dem Bett und zieht mich an.


Da ist sie wieder: die dunkle Röhre - ich falle mit den Füßen voran in die rotierenden Messer - ich löse mich auf - ich falle und falle; es gibt keinen Boden - und tauche in gleißendes Licht - der Wecker klingelt. Ich wache auf. Heute geht meine Kindergartengruppe einen Ausflug. Meine Brottasche liegt schon bereit.


Männer packen mich - warum? Warum nur? - Ich schreie: Neeeiiiiin ! - sie werfen mich in einen großen Trichter - es folgt eine Röhre von ungefähr einem Meter Durchmesser - unten rotieren gegenläufig Messer, mit hoher Geschwindigkeit - ich sehe den Stahl aufblitzen - wie im Zeitlupentempo erlebe ich: sie zerstückeln zuerst meine Füße, dann die Beine, dann mich… - ich löse mich auf und falle immer noch - es gibt keinen Boden - am Ende des Tunnel wird es hell - gleißendes Licht erfüllt mich - ich wache auf. Völlig verschwitzt, mit rasendem Herzschlag liege ich in meinem Bett. Da war er wieder, mein alter Traum. Ich stehe auf. Heute schreiben wir französisch, und ich muß mir die Vokabeln noch einmal ansehen.

40 Jahre später:
Das Summen dringt weit durch den Tigris, stromauf und stromab. Die Flußbarsche kennen den Ton und versammeln sich an einem Rohr am Flußufer, mitten in Bagdad. Sie öffnen und schließen erwartungsvoll ihre großen Mäuler.
Am Ufer des Tigris ist eine große Maschine angelaufen; sie besteht aus einem riesigen Trichter mit anschließendem Blechrohr, so groß, daß man hier ganze Rinder hineinwerfen könnte. Am Ende des Trichters rotieren scharfe Messer. Hier gibt es eine Sondiervorrichtung, die dafür sorgt, daß harte Gegenstände in einem separaten Behälter aufgefangen werden und die sensible Mechanik nicht beschädigen. Im folgenden Verlauf des Produktionsprozesses, der in einer Anlage in einem tiefer gelegenen Geschoß von statten geht, ist ein Extruder aufgestellt; eine mannshohe Maschine, die große Mengen Fleisch zu Hack verarbeiten kann. Von hier aus müßte eigentlich der Verarbeitungsprozess mit einer Trocknung fortgesetzt werden, um das Produkt zu Tiermehl weiter verarbeiten zu können; stattdessen wird es durch eine Pipeline in den Tigris entsorgt.- Haben die deutschen Ingenieure, die die Anlage hier aufgestellt haben, sich gefragt, warum die Produktion hier nicht weitergeführt wird, wie sonst an allen anderen Standorten, wo sie diese großen Anlagen installiert haben? Wie in Indien oder Pakistan oder wo immer sonst die Tierhaltung so geschieht, daß regelmäßig eine große Zahl toter Rinder komplett entsorgt werden muß? Nein, haben sie nicht, denn diese Anlage steht nicht nur mitten in einer Großstadt, sondern auch in einem Gefängnis. Hier gibt es keine offenen Fragen.
Das Heulen der Turbine und das tiefe Dröhnen der angeschlossenen Extrusionsanlage durchdringen das gesamte Gebäude. Auch hier wissen alle Gefangenen, was die Vibrationen bedeuten, wenn sie sie auch mit anderen Empfindungen begleiten als die Barsche unten im Fluß.
Die Delinquenten treten in einer Reihe an, zu beiden Seiten bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren. Sie rücken langsam vor. Am Trichter angekommen, nehmen zwei Gefängniswärter den Gefangenen und werfen ihn in den Trichter. Ein kurzer Aufschrei, dann ist der nächste dran. Unten am Ufer haben die Flußbarsche sich zu einer dichten Masse dunkler Fischleiber zusammengerottet und fressen den aus dem Rohr quellenden rötlichen Brei. Sie vollziehen den Rest der Aufgabe: von den Menschen verbleiben keine Spuren. Oben im Gebäude rückt die Reihe weiter vor, unter dem scharfen Kommando der Soldaten; wer zögert, wird erschossen und in den Trichter geworfen.
Plötzlich geschieht etwas Besonderes: ein Gefangener, der bereitwillig vorangeschritten war, wendet sich in einer blitzschnellen Drehung einem Soldaten zu, packt ihn und wirft ihn in den Trichter. So schnell konnte der Soldat gar nicht begreifen, was ihm geschieht, da vermischen sich schon das Grün der Uniform mit dem Rot seines Fleisches zu einem homogenen Brei… sein Maschinengewehr erzeugt ein leises Klacken, da ist es auch schon sauber aussortiert; es bringt die Anlage nicht zum Stehen. Sofort nehmen die daneben stehenden Soldaten den Gefangenen und werfen ihn, die Füße voran, hinterher. Und weiter geht’s; es ist für heute noch viel zu tun.-

 
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Hallo Setnemides,
ein so harmloser Titel und dann das Grauen!

Alles nur ein böser Traum?
Alles nur eine seltsame Fiktion?
Alles zu grausam, zu unvorstellbar?
Aber doch denkbar, dass es ...

Nach diesem starken Tobak fällt es mir schwer, zur Tagesordnung überzugehen und dir augenzwinkernd die Neue Rechtschreibung
unterzujubeln (mein Auge will nach dem Lesen dieses Textes nicht mehr zwinkern).
ß => ss: muss, müsste, Flussbarsche, dass

„… wendet sich in einer blitzschellen => blitzschnellen Drehung …“

Deine Schlussreflexion würde ich weglassen.
„Was erleben diese Menschen, welche Bilder nehmen sie mit, mit welchen Träumen erwachen sie eines Tages, in ihrem nächsten Leben…?“

Diese Frage stellen sich die Leser auch ohne deinen Hinweis.


Gruß
Kathso

 

hallo Kathso,

der erste Teil sind Träume, der zweite Teil folgt einem ZDF-Bericht aus dem Jahr 2005. Ob das irgendwie zusammenhängt? Ich weiß selbst keine Antwort.

Danke für die Antwort.

Hallo Rueganerin,

das kann ich nicht verantworten! Ich bin zwar Vegetarier, aber daß Du diese Botschaft der Geschichte entnimmst, kann ich mir nicht erklären, sollte mir da etwas durchgerutscht sein? ... bitte, iß wieder Fleisch, mit Herkunftsnachweis. Oder Flußbarsche.

Grüße an Euch beide,

Set

 

"Was erleben diese Menschen, welche Bilder ...", den Schlusssatz (starke drei s dank Rechtschreibreform!) setz ich sogar an den Anfang, denn was und wie ein anderer denkt, vermag ich nicht zu beurteilen. Bekanntermaßen schaut jeder dem andern nur vor, nicht in den Kopf, obwohl sich letzteres gar mancher auf Sicherheit bedachte Mensch wünschte.

Und damit

grüß Dich Set!

Da quälen einen Alpträume von Kindesbeinen an bis ins reife Alter, bis sich herausstellt, dass sie Wirklichkeit sind/sein könnten. Die Angst (besonders vor der Schule) mit prophetischen Qualitäten? Zu welch technischen Leistungen "made in Germany" wir fähig sind, weiß man ja aus der Geschichte. Die Fähigkeiten sind keineswegs verschütt' gegangen. Man interessiert sich halt nicht dafür, was aus den Höllenmaschinen wird, was damit geschieht.

Da wirken die Verhältnisse zur Bronzezeit geradezu humanistisch angehaucht: Menschenopfer sind abgeschafft, selbst wenn das Schicksal des "kleinen" Bruders der Medea noch wie ein solches wirkt und wir das Verhalten, das Apsyrtos zum Schicksal wird, als unmenschlich bezeichnen werden. Die Argonauten opferten ihn, um den Verfolgern aus Kolchis zu entkommen.
Auch wurden kleine Altäre - "Herd" genannt - aus dem mykänischen Griechenland gefunden, die trichterförmig gebaut waren. Das Blut der Opfertiere floss in die Opfergrube hindurch, die Kadaver wurden anschließend verbrannt. Diese Opferung galt nicht den Olympiern, sondern den Halbgöttern und Heroen.

Noch ein Vorschlag zur Dramaturgie: I. d. R. schwebstu im Fallen nicht, sondern stürzt, beschleunigst evtl. Lass zur sprachlichen Beschleunigung bei den Verben das abschließende e weg und zieh zusammen, was sich zusammen ziehen lässt. Danach sähe der einleitende Satz z. B. wie folgt aus:

"Ich fall ins Dunkel - Angst - ich schrei - Schmerz - endlos' Fallen - Licht - trink' Warmes - Schlaf" usw.

So viel, so wenig für heute

Friedel

 

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