Was ist neu

Traumfänger

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22.10.2004
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Traumfänger

Con un caballito blanco el niño volvió a soñar
Y por la crin lo cogía: “ahora no te escaparás”.
Apenas lo hubo cogido, el niño se despertó:
Tenía el puño cerrado. El caballito voló.

Antonio Machado

Als ich acht Jahre alt war, schenkte mir meine Großmutter ein Kästchen aus fast schwarzem Rauchquarz. „Für deine Schätze“, sagte sie dazu. Ich besaß damals nur die üblichen Schätze eines kleinen Jungen: drei Murmeln, die geheimnisvoll bläulich schimmerten, eine Indianerfigur, die mir Opa geschnitzt hatte, und eine Schwanenfeder. Doch nichts davon kam mir kostbar genug vor, um es in dem Schatzkästchen aufzubewahren. Also stand die kleine Schatulle zunächst leer in meinem Regal, und von Zeit zu Zeit nahm ich sie mit beiden Händen heraus und strich einfach nur andächtig über die glatte, kalte Oberfläche.
Bis ich eines Nachts von einer Sekunde auf die andere erwachte. Ich schlug die Augen auf und war wach, starrte in die Dunkelheit meines Zimmers und überlegte, was mich geweckt hatte. Dann bemerkte ich es. Es kam aus der Richtung meines Fensters, und es war etwas, was ich noch nie gehört hatte. Ich hörte es auch nicht. Es war wie ein feines Wispern, aber ich nahm es nicht direkt mit den Ohren wahr. Eher wie einen zarten Luftzug, der den Geruch von dunkelgrüner Seide mit sich trug und sanft in der Finsternis schimmerte. Es ist kaum zu beschreiben. Sobald ich glaubte, dass ich etwas hörte, stellte ich fest, dass doch tiefste Stille herrschte; sobald ich glaubte, etwas zu sehen, war da doch nichts als Dunkelheit. Aber etwas war da, und ich konnte es spüren. Etwas saß, schwebte, wartete auf meinem Fensterbrett. Mit klopfendem Herzen richtete ich mich auf, langsam, denn ich hatte die unbestimmte Furcht, dieses Etwas fortzuscheuchen. Es blieb, wie es war: unbestimmt, aber da. Behutsam glitt ich aus dem Bett und tappte auf nackten Füßen zum Fenster. In mir pulsierte eine Spannung, die beinahe wehtat. Dann stand ich am Fensterbrett. Es war natürlich leer.
Jedenfalls, wenn ich einfach nur hinsah. Aber als ich ganz langsam die Hände ausstreckte, konnte ich das Etwas spüren, deutlicher denn je. Ich spürte es unter meinen Fingern, es vibrierte, schmiegte sich an meine Handflächen, es fühlte sich an wie blätternde Seiten, gleitender Sand, hauchdünne Seide, es war weich und kühl und auch wieder nicht, es war nichts von alledem, was ich zu fühlen glaubte. Ich war verwirrt. Vorsichtig griff ich zu.
Eigentlich fassten meine Hände nur ins Nichts, aber ich wusste, dass ich das Etwas erwischt hatte, und schloss heftig meine Finger darum.

Ich wandere durch einen dunklen Wald. Der Boden fühlt sich an wie Samt, und die Vögel fliegen auf dem Rücken. Ich beginne zu tanzen. Eigentlich bin ich auf der Suche nach dem Roten Turm, aber stattdessen komme ich an eine Holzbrücke. Immer, wenn ich sie überquere, erreiche ich die Seite, von der ich losgegangen bin.

Das war es, was ich in der Hand hielt. Das Bild des Waldes durchflutete mich, machte mich schwindlig. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich nicht loslassen durfte. Dieses Etwas musste ich behalten. Und jäh begriff ich auch, wo ich es aufbewahren konnte. Mit zwei großen Schritten ging ich zum Regal, hob mit einer Hand den Deckel des Quarzkästchens und stopfte das Etwas mit der anderen hinein – zumindest machte ich eine Stopfbewegung. Dann schob ich den Deckel wieder zu. Einen Moment lang blieb ich stehen und starrte das Kästchen einfach an. Mein Verstand teilte mir mit, dass es leer war, denn ich hatte nichts hineingetan. Mein Gefühl wusste es besser. Mein Gefühl nahm wahr, dass etwas in dem Kästchen war und darin herumwirbelte wie ein gefangenes Tier. Man konnte das nicht direkt hören und auch nicht wirklich sehen, obwohl es schien, als dringe ein ganz sanfter Schimmer durch den Quarz. Als ich das Kästchen berührte, war es so kalt wie eh und je, aber es knisterte, als sei es elektrisch geladen, und in mir formte sich erneut eine vage Ahnung von Wald und Holzbrücke.
Mit einem ungewissen Gefühl der Zufriedenheit kletterte ich zurück ins Bett und kuschelte mich in meine Decke. Der Schatz, den ich nun besaß, machte mich glücklich.

Dies war meine erste Erfahrung mit verlorenen Träumen – die erste von vielen. Ich weiß heute nicht mehr, wann genau ich begriff, was es mit diesen Etwas auf sich hatte, aber eines Tages ist es mir klargeworden. Einige Wochen nach jener Nacht weckte mich ein anderes Etwas, das sonnengelb prickelte, als ich es einfing, und das mit einem Flug über das Meer zu tun hatte und einem Strand von Mohnblumen in der Ferne. Und wiederum einige Wochen danach fand ich das nächste Etwas außerhalb meines Zimmers und am helllichten Tage: Es hockte auf einem Gartentor, als ich von der Schule nach Hause ging. Ich musste es in meine Jackentasche stopfen und festhalten, und während des gesamten Heimwegs spürte ich etwas von einem großen leeren Haus mit unendlich vielen Gängen, in denen man mit bleiernen Schritten umhertaumelte. Es verursachte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, aber ich behielt es trotzdem.
Im Laufe der Zeit merkte ich, dass sie praktisch überall sein konnten. Die Welt ist voll von verlorenen Träumen. Jedenfalls nenne ich sie verloren, denn ich stelle mir vor, dass es jene sind, die dir in der unachtsamen Sekunde zwischen Schlafen und Erwachen entwischen. Nur ein Hauch bleibt zurück, eine unbestimmte Ahnung, die wie ein Spinnwebenschleier zerreißt, wenn du dir erst einmal die Augen gerieben hast. Diese Träume stehlen sich unbemerkt davon.
Ich glaube, es gibt auch jene, die bei uns bleiben, wenn wir aufwachen, und sich erst nach einer Weile enttäuscht davon machen, weil wir ihnen keine Beachtung schenken.
Jeder von uns hat solche Träume, und jeder verliert sie. Doch ich war in der Lage, sie zu finden – nicht meine eigenen, aber die anderer. Ich konnte sie wahrnehmen, ich konnte meine Sinne dafür schärfen im Laufe der Jahre; und sie ließen sich von mir einfangen und in mein Quarzkästchen sperren.
Alle Träume sind anders, und doch gibt es etwas wie ein gemeinsames Wesen. Ich nahm sie wahr und wusste nicht, mit welchen Sinnen. Sie hatten etwas ganz Leichtes, Zartes, Flüchtiges. Meistens brachten sie eine Ahnung von Farben, Klängen, Gerüchen oder Geschmäckern mit sich, die nicht unbedingt mit ihrem eigentlichen Inhalt zu tun hatten. Wenn ich einen verlorenen Traum einfing, genoss ich ihn in aller Ruhe, einmal oder öfter, je nachdem, wie gut er mir gefiel. Dann packte ich ihn in das Kästchen zu den anderen. Obwohl es mir schien, als ob sie wild darin herumwirbelten, solange der Deckel zu war, machte keiner von ihnen je den Versuch zu fliehen, wenn ich das Kästchen öffnete und einen neuen hineintat.
Ich brauchte nicht mehr im Schlaf zu träumen. Es reichte mir, bei vollem Bewusstsein die Quarzschatulle in beide Hände zu nehmen und die Augen zu schließen. Aus dem unbestimmten knisternden Prickeln der steinernen Oberfläche kristallisierten sich Stück für Stück andere Empfindungen heraus, als könne ich die Träume durch die Kästchenwand hindurch wahrnehmen. Manchmal vermischten sich auch zwei oder mehrere von ihnen. Ich wusste nie ganz genau, welchen Traum ich spüren würde, und manchmal saß ich stundenlang mit meinem Schatzkästchen im Schoß da, weil ich auf einen ganz bestimmten wartete. Meine Sammlung wurde immer größer. Am Anfang zählte ich noch, aber als ich fünfzehn war, hörte ich damit auf.

Ein weites Feld aus roter Erde. Blühende Mandelbäume. Die Luft flirrt vor Hitze. Du gleitest von der warmen Steinmauer und gehst über das Feld, Schritt für Schritt, und du sehnst dich nach dem Meer und bist froh, dass es nicht da ist.

Ein Weg aus festem Lehm führt bergauf. Du läufst, aber du wirst immer langsamer. Du weißt, dass du fliegen kannst, aber du bist zu schwer.

Der Mann mit der Brille erzählt dir von China. Dort züchten sie geröstete Champignons. Du hörst ihm nicht zu, denn du musst die Teekanne finden, bevor es hell wird.

Eine endlose Allee von Lindenbäumen, eine endlose Reihe von Häusern, und eines von ihnen ist dümmer als die anderen.

Die Frau mit den dunklen Haaren schreit dich an, doch du kannst sie nicht hören. Zorngerötet springt sie auf und ab. Du fühlst dich schuldig. Du verwandelst sie in einen Hasen.

Du hastest die Treppe hinauf. Sie sind hinter dir her. Du wirfst mit alten Büchern nach ihnen. Du hast Angst. Die Treppe endet an einer weißen Wand. Du hämmerst dagegen. Man muss dir öffnen, bevor es zu spät ist. Du hörst das Rasseln von Säbeln …

Es war alles dabei.
Und dann – eben, als ich fünfzehn war – fand ich den schönsten von allen. Er weckte mich in der Nacht wie der erste, aber er war zutraulicher. Ich spürte ihn direkt neben mir auf meinem Kopfkissen und begriff auf der Stelle, dass er etwas Besonderes darstellte. Statt des zarten Wisperns brachte dieser Traum ein Klingen mit sich, wie der Wind, der über eine Harfe fährt. Da war das Schwirren eines Kolibris, das blaugrüne Schillern einer Pfauenfeder, die Traurigkeit eines Sommerabends, die Wärme des Meeres, das um die nackten Füße spielt, der Geschmack von Sahne und braunem Zucker. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, mein Herz schlug schmerzhaft, in meinem Hals bildete sich ein Kloß. Dieser Traum war alles. Ich streckte die Hand aus und fürchtete für einen Moment, er würde sich meinem Zugriff entziehen, aber das tat er nicht. Meine Finger schlossen sich fest um ihn.
Im nächsten Moment fuhr ich in die Höhe und stellte fest, dass es Morgen war, dass ich geschlafen und geträumt hatte. Nur was? Die Erinnerung blieb vage. Der Traum auf meinem Kopfkissen war wirklich da gewesen, dessen war ich mir sicher, und ich hatte ihn auch in der Hand gehabt. Danach aber hatte er mich überlistet. Er hatte mich etwas träumen lassen, das so groß, so vollkommen gewesen war, dass ich ganz darin aufgegangen war. Und dann war er mir entwischt. Mir! Je deutlicher mir das wurde, desto stärker empfand ich ein Gefühl von verletztem Stolz. Kein verlorener Traum war mir jemals entschlüpft. Nicht einmal der, in dem man glaubte, in ein schwarzes Loch aus Vergessen gezogen zu werden, oder jener, in dem der Mörder einem in die eigene Brust griff, das Herz umfasste und einen daran hochhob. Weder über schreckliche noch über schöne Träume hatte ich mich jemals vergessen. Dieser eine seltsame Traum sollte mich zum Narren gehalten haben? Gleichzeitig spürte ich Sehnsucht. Schmerzhafte, sich durch jede Faser meines Seins ziehende Sehnsucht. Ich wollte ihn wiederhaben. Wollte ihn noch einmal träumen und noch einmal und noch einmal. Wollte ihn in eine eigene Schatulle stecken und immer bei mir tragen. Mein Traum. Mein schöner verlorener Traum!

Von da an war ich auf der Suche. Ich hatte eine unbestimmte Vorstellung davon, wie jämmerlich gering meine Aussichten auf Erfolg waren. Ich war sicher, dass für einen Traum räumliche Distanz keine Rolle spielte. In einem Wimpernschlag konnte er am andern Ende der Welt sein. Also, wo sollte ich eigentlich suchen? Und konnte ich überhaupt einen Traum finden, der vor mir geflüchtet war? Nur an einem zweifelte ich nicht im Geringsten: dass ich ihn wiedererkennen würde.
Noch immer war die Welt voll von verlorenen Träumen. In den nächsten Jahren fing ich jeden, den ich bekommen konnte, ich entwickelte sogar einen gewissen Jagdinstinkt, aber erstmals begann ich, manche auch wieder loszulassen und nur noch die schönsten, traurigsten, sinnlosesten und furchtbarsten aufzuheben. Jene, die mich enttäuschten, warf ich sogar in hohem Bogen weg. Ich wurde reichlich wählerisch. Aber selbst die Träume, die ich aufbewahrte, kamen mir entsetzlich unbedeutend vor im Vergleich zu jenem einen, der mir entwischt war.
Das Verlangen, ihn wiederzufinden, wurde immer stärker, und als ich schließlich von der Schule ging, war es kurz davor, mich in den Wahnsinn zu treiben. Meine Sinne waren geschärft und stets in Bereitschaft. Wenn ich mich mit jemandem unterhielt, hörte ich nur mit halbem Ohr zu und suchte mit den Augen die Umgebung hinter meinem Gesprächspartner ab. Es kam vor, dass ich im Restaurant, im Bus oder im gemütlichen Freundeskreis plötzlich hochsprang; dass ich den Telefonhörer mitten im Gespräch aufknallte, um ans offene Fenster zu sprinten; dass ich auf dem Weg irgendwohin herumwirbelte und in eine ganz andere Richtung rannte. Alles das, weil meine Sinne mir die Präsenz eines verlorenen Traumes irgendwo in der Nähe mitteilten. Am Anfang schien sich niemand daran zu stoßen, aber diese Ereignisse häuften sich, bis ich langsam selbst merkte, dass es so nicht weitergehen konnte. Noch hielten sie mich einfach für hochgradig nervös, aber nicht lange, und sie würden mich verrückt nennen.
Trotzdem, auch wenn ich all das genau wusste: ich hätte nichts gegen mein Verhalten tun können, wäre ich nicht irgendwann in dieser Zeit Alicia begegnet.
An meinem ersten Tag in der Universität stieß ich mit ihr zusammen. Wir stammelten beide eine Entschuldigung, und ich schaute auf ein kleines, ebenmäßiges Gesicht, auf glattes goldblondes Haar, das ihr zahm über die Schultern fiel, auf eine zierliche Gestalt. Alicia war durchaus hübsch zu nennen. Aber der eigentliche Grund, warum ich nicht wieder wegschaute, waren ihre Augen. Tiefblau wie der strahlendste Sommerhimmel. Und in diesen Augen leuchtete ein Traum.
Ich war wie vom Schlag getroffen. Bisher hatte ich fremde Träume immer nur wahrgenommen, wenn sie schon verloren waren. Dieser hier, der Alicia aus den Augen strahlte, war nicht verloren, er gehörte noch zu ihr, vielleicht hatte er sich letzte Nacht von ihr träumen lassen, vielleicht würde er es in dieser tun. Auf jeden Fall begriff ich, dass ich ihn haben musste, koste es, was es wolle. Vielleicht war es mein Traum. Doch selbst wenn nicht. Ich wollte ihn.
Dazu musste ich erst Alicia haben. Das brauchte seine Zeit, war aber sonst nicht weiter unangenehm. Schließlich sah sie gut aus und war in jeder Hinsicht ein nettes Mädchen. Als ich sie das erste Mal küsste, schmeckte ich gebrannte Mandeln. Im Lauf der Zeit lernte ich, dass jedes Mädchen anders schmeckte. Das hatten sie mit Träumen gemeinsam.
Schließlich lag ich neben ihr, verschwitzt und zufrieden, und lauschte auf ihre friedlichen Atemzüge. Schlafen durfte ich nicht. Ich hatte den Traum aus ihren Augen leuchten sehen, bis sie eingeschlafen war, und ich wusste mit seltsamer Bestimmtheit, dass er sie jetzt verlassen würde. Vielleicht, weil sie ihn nicht mehr brauchte – vielleicht, weil er zu mir wollte.
Ich richtete mich auf, als die Stille zu leuchten, die Luft zu vibrieren begann, und machte das Etwas irgendwo über Alicias Kopf aus. Behutsam griff ich zu. Der Traum war frisch und perlte. Er schmeckte grün.

Ein Schwarm von Zitronenfaltern braust um dich herum. Du spürst ihre zarten Flügel überall und riechst den Duft süßer Zitronen, und du möchtest weinen.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Ich hielt den Traum in der geschlossenen Faust, während ich vorsichtig aufstand. Es war nicht einfach, sich mit einer Hand anzuziehen.
In den folgenden Jahren sollte ich allerdings eine gewisse Geschicklichkeit darin erwerben. Alicia war nur die erste von vielen. Wenn ich ein Mädchen traf, dann schaute ich ihr in die Augen. Wenn ich einen Traum darin sah, schlief ich mit ihr. Erst, wenn man es getan hatte, kam der Traum heraus. Offenbar steckte eine gewisse Gesetzmäßigkeit dahinter, auch wenn ich ihre Logik nicht begriff. Ich fing den Traum dann jedenfalls ein und ging.
Seitdem ich die neue Methode anwandte, war ich nicht mehr nervös. Die verlorenen Träume, die an allen Ecken und Enden auf mich warteten, interessierten mich nicht mehr. Ich wollte die aus den Mädchenaugen, die noch nicht verlorenen. Etwas in mir wusste mit Sicherheit, dass ich meinen Traum nicht auf einem Fensterbrett, einem Gartentor oder in einer Telefonzelle wiederfinden würde. Nein. Ich war sicher, dass er in den Augen eines ganz bestimmten Mädchens Zuflucht gesucht hatte. Jetzt musste ich nur noch dieses Mädchen finden. Zwar hatte ich damit noch immer eine reichlich anstrengende Suche vor mir, aber ich hatte wenigstens eine Richtung.
Meine jetzige Art zu suchen brachte mir zwar den Ruf ein, ein hoffnungsloser Casanova zu sein, doch damit hatte ich kein Problem. Mit den Mädchen übrigens auch nicht. Ein paar Komplimente taten nicht weh, einen Blumenstrauß, ein Fläschchen Parfüm oder ein romantisches Abendessen konnte man sich ab und zu leisten, und was danach kam … mir gefiel es immer. Den Mädchen auch, soweit ich das beurteilen konnte. Manche von ihnen hatten ein Problem damit, in meinen Armen einzuschlafen und alleine aufzuwachen. Manche von ihnen suchten mich hinterher auf, stellten Fragen und machten mir Vorwürfe. Aber ich hatte ihnen nie etwas versprochen. Was ich versprach, galt ihren Augen. Ich brauchte kein Mädchen, ich brauchte meinen Traum.

Eines Abends klingelte Marina bei mir.
Sie war das, was man Sandkastenfreundin nennen würde; wir hatten als Kinder miteinander gespielt. Marina war ein wildes, fröhliches Mädchen mit zarten Sommersprossen und kurzen braunen Haaren gewesen, das am liebsten mit Jungs herumtobte. Ich hatte sie auch nie wirklich als Mädchen betrachtet. Wir blieben gute Freunde, auch als die Zeit des ausgelassenen Spielens im Freien schon längst vorbei war. Als sie an diesem Abend bei mir auftauchte, hatten wir allerdings schon seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Ehrlich gesagt brauchte ich ein paar Sekunden, um sie zu erkennen, denn sie trug ihr Haar jetzt lang, was sie insgesamt weicher und weiblicher wirken ließ. Ihr Lachen hatte noch immer die alte Wärme, die gleiche Kraft.
Wir saßen bis tief in die Nacht bei mir auf der Couch und redeten über Gott und die Welt, über das, was wir gemeinsam und getrennt erlebt hatten, über das, was vor uns lag, was sein könnte. Mitten in dieser Unterhaltung schaute ich ihr das erste Mal in die Augen. Ich hatte es so noch nie getan. Mir war nie aufgefallen, dass Marina wunderbare tiefgrüne Augen hatte, in denen winzige goldene Punkte schillerten wie Funken aus Sonnenlicht. Unglaubliche Augen. Ich musste noch ein zweites Mal hinsehen, um zwischen den goldenen Funken meinen Traum zu entdecken. Er hatte sich hinter dem Goldleuchten versteckt und schimmerte nur ganz sacht. Da also war er. Hatte er in Marinas Augen auf mich gewartet? Oder war er erst vor kurzem zu ihr gekommen?
Im Grunde spielte das keine Rolle. Ich hatte ihn jetzt gefunden und würde ihn diesmal nicht entwischen lassen.
Marinas Lippen schmeckten ein bisschen nach Zimt, wie ich noch an diesem Abend feststellte. Mit ihr war es anders als mit den Mädchen, aus deren Augen ich mir die gewöhnlichen Träume geholt hatte; das war nicht überraschend. Es schien nur logisch, dass mein Traum sich nicht die Augen irgendeines Mädchens ausgesucht hatte.
In dieser Nacht schlief sie eng an mich gekuschelt, lächelnd. Ich lag da, in stiller Vorfreude auf das Erscheinen meines Traumes, die Wärme ihres Körpers spürend.
Und nichts geschah.
Es war nicht mehr besonders viel von der Nacht übrig gewesen, als Marina eingeschlafen war, aber dennoch hatte ich ganz sicher geglaubt, der Traum würde sich noch vor dem Morgen zeigen. Doch das tat er nicht. Als Marina irgendwann die Augen aufschlug und mich anstrahlte, konnte ich den Traum noch immer dort sehen, oder besser, ich merkte, dass er noch immer da war. Aus Marinas Augen leuchtete das reine Glück, aber mein Traum, der sich dahinter verbarg, schien mir spöttisch zuzuzwinkern. Ein zweites Mal hatte er mich überlistet.
Also musste ich mit Marina zusammenbleiben, damit ich meinen Traum nicht aus den Augen verlor – im wahrsten Sinn des Wortes. Dass Marina über diese Entwicklung glücklich war, vereinfachte die Sache enorm. Dass ich es mehr und mehr als angenehm empfand, überraschte mich selbst. Ihr Lachen, ihre Wärme, ihre Anwesenheit taten mir gut.
Jedes Mal, wenn wir miteinander schliefen, wartete ich vergebens darauf, dass mein Traum seine Zuflucht verließ. Am nächsten Morgen vergewisserte ich mich, dass er noch immer in ihren Augen saß und zufrieden vor sich hin schimmerte. Im Prinzip war ich sehr geduldig und Marina machte mir das Warten in höchstem Maße erträglich – ohne dass sie je wusste, dass ich auf etwas wartete. Aber nach und nach wuchs doch eine gewisse Unzufriedenheit in mir. Ich war meinem Traum so nah, und trotzdem blieb er mir unerreichbar fern. Es war nicht fair. Meine Sehnsucht nach ihm wuchs ins Unermessliche, schnürte mir die Kehle zu und brannte in meinen Augen.

Dann, eines Tages, beging Marina diesen entsetzlichen Fehler.
Ich kam erst ins Zimmer, als es schon zu spät war. Sie stand da und hielt mein Schatzkästchen in der Hand, den Deckel geöffnet. Als sie mein Gesicht sah, zuckte sie leicht zusammen und entschuldigte sich für ihre Neugier.
„Aber es ist ja sowieso leer“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Das stimmte.
Denn was meine Miene versteinerte, war das, was ich sah, hörte, spürte, erahnte.
All die verlorenen Träume, die ich jahrelang sicher aufbewahrt hatte, die niemals einen Fluchtversuch unternommen hatten, schwirrten und wirbelten jetzt aus ihrem geöffneten Gefängnis heraus. Sie tanzten um Marina herum, die von alledem natürlich nichts wahrnahm, zwitscherten stumm und pulsierten in unsichtbarem Leuchten. Und dann machten sie sich davon. Einer nach dem anderen.

Das Haus ist so weiß, dass es deinen Augen wehtut, das Meer ist so weit und blau, und du wirfst Kieselsteine hinter dich und möchtest die Wolken treffen.

Das Feld aus Mohnblumen erstreckt sich bis zum Horizont. Du bist ein Wildpferd. Du jagst den Himmel.

Der lila Palast dröhnt wie riesige Glocken, wenn du auf einen der Steine tippst. Eine der Treppen führt ins Freie, aber du kannst sie nur finden, wenn du das Kranichlied spielst.

Sie alle – sie alle, die mich über so lange Zeit begleitet hatten, die mir gehörten, weil ich sie gefunden, gefangen hatte, die mich getröstet und beruhigt hatten, wenn ich es gebraucht hatte, die mir im Vergleich zu meinem einen verlorenen Traum nichtig und unbedeutend erschienen waren und doch einen unermesslichen Schatz darstellten – sie alle flogen davon und ließen mich alleine zurück mit einem Traum, der sich hartnäckig in Marinas Augen versteckte, und mit Marina selbst, die an alldem schuld war.
Sie hatte mir alles genommen, was ich besaß. Und was ich am meisten besitzen wollte, das gab sie mir nicht. Ich spürte einen Zorn, der größer war als alles, was ich jemals empfunden hatte, der mich von innen zersprengen wollte. Ich riss ihr die Schatulle aus der Hand und schrie sie an, ohne zu wissen, was ich sagte; ich sah, wie ihre Augen sich in verständnislosem Erschrecken weiteten und sie vor mir einen Schritt zurückwich. Und ich sah, wie mein Arm ausholte und ihr das Kästchen an die Schläfe schleuderte. Marina taumelte noch einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand. Dann rutschte sie langsam an ihr hinunter, blieb auf dem Boden sitzen. Schloss die Augen, aus denen jetzt gar nichts mehr leuchtete. Ließ den Kopf zur Seite sinken. Die leere Schatulle lag neben ihr.
Ich empfand nichts. Es war, als ob ich träumte, auch wenn alle meine Sinne sich darüber im Klaren waren, dass es das Wahrhaftigste war, was in meinem ganzen Leben passiert war. Ich starrte auf Marinas Körper, aber da war nichts, was mir vertraut gewesen wäre. Dann drehte ich mich um und betrachtete mich im Spiegel. Betrachtete den, der das getan hatte. Mein eigenes Spiegelbild sah fremd aus. Ich machte einen Schritt auf mich zu und schaute zum ersten Mal seit sehr langer Zeit in meine eigenen Augen.
Mein Traum saß dort, schimmernd, klingend, zitternd. Ich starrte mich selbst an. Er sah so aus, wie ich ihn unzählige Male in Marinas Augen gesehen hatte. In Marinas Augen, wo er sich gespiegelt hatte. Und ich hatte nicht begriffen, dass eben darin das Geheimnis bestand. Ein Traum, der dir gehört, wird sich nicht in irgendwelchen Augen spiegeln. Er sucht sich besondere.
Ich taumelte vorwärts und musste mich am Spiegelrahmen festhalten, meine Stirn schlug gegen die kalte Oberfläche. Etwas in mir zerbrach sehr, sehr langsam. Ich spürte, wie der Traum langsam entwich, aus seinem Versteck kam, um mich zu verlassen. In all den Jahren hatte ich Träume auf alle mögliche Weise wahrgenommen, hatte gemerkt, dass sie alle ihr eigenes Wesen hatten. Aber keiner von ihnen hatte jemals eine Erkenntnis von solcher Deutlichkeit in mir ausgelöst.

Du bist so blind.
Er war bei dir geblieben, damit du ihn lebst.

Und dann war er fort.

 

Hallo noch einmal!
Es hat zwar ganz schön lange gedauert mit meiner Antwort. Ich bin den Text noch einmal sorgfältig durchgegangen und habe einiges geändert – insbesondere habe ich viele von Kristins Anmerkungen berücksichtigt. (cbrucher: die Pralinen sind jetzt Parfüm geworden. Besser so, oder?)
Schön finde ich es, dass sich „in meiner Abwesenheit“ eine Diskussion entwickelt hat.

Ich möchte den letzten Satz auch so stehen lassen, wie er ist, da ich eher Bernhards Standpunkt teile. Ich finde, dass dieser Satz dem offenen Ende durchaus nicht entgegensteht. WIE der Prot mit seiner Erkenntnis umgeht, bleibt ja offen - vielleicht geht er an ihr auch zugrunde, das würde ihm schließlich auch recht geschen.

Mir ist auch klargeworden, dass ich ansonsten nicht mehr viel an dieser Geschichte ändern kann. Das verursacht mir nun fast ein schlechtes Gewissen gegenüber Kritikern wie Kristin und cbrucher: ihr habt euch so intensiv mit der Geschichte auseinander gesetzt und ich kann eure Kritikpunkte bezüglich der Sprunghaftigkeit u.ä. nachvollziehen.
Trotzdem wird der Text so bleiben.
Würde ich eine Überarbeitung wagen, die alles beherzigt, dann könnte ich die Geschichte im Prinzip neu schreiben. Vielleicht wäre sie dann besser, tiefer und runder, aber es wäre eine völlig andere Geschichte und ich weiß nicht, inwieweit sie dann noch ein Eigenleben entwickeln und sich noch mehr vom Original entfernen würde. Es wäre auch nicht mehr die Geschichte, der der Challengesieg zugesprochen wurde. Wie gesagt, vielleicht würde es eine bessere Geschichte werden, aber ich kapituliere vor dieser Aufgabe und lasse sie nun größtenteils so, wie sie ist. Ich habe es versucht und möchte niemanden vor den Kopf stoßen, der sich mit der Geschichte beschäftigt und mir Verbesserungsvorschläge gegeben hat, aber ich bekomme jetzt nicht mehr den Zugang zum Text, den ich für eine derartige Überarbeitung brauchen würde, und ich habe das Gefühl, dass es mir auch an Energie und Potential fehlt.
Soviel von mir. Einen lieben Dank noch einmal an alle, die den Traumfänger gelesen und kritisiert haben und ich hoffe, es wird klar, dass ich hier niemandes Kritiken abschmettern möchte, aber ein völliges Umkrempeln der Geschichte übersteigt meine Fähigkeiten.
Liebe Grüße
Ciao
Malinche

 

Ich kann vollkommen nachvollziehen, weshalb Du eine gründlichere Überarbeitung ablehnst. Fühle mich deswegen nicht vor den Kopf gestoßen, keine Sorge. Ja, das wäre dann eine andere Geschichte. Und es ist ja Deine Entscheidung, welche Geschichte Du erzählen willst.

 

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