Traumfänger
Serénas nackte Füße tasteten sich über den mit Moos bedeckten Boden, der von der Dunkelheit der Nacht überschattet wurde. Der Saum ihres weissen Nachtkleides schaukelte von der lauen Nachtbrise gewogen behutsam hin und her und umspielte ihre weissen Knöchel mit sanftem Tanze.
Trotz der einsamen Stille und des ahnungslosen Dunkels fühlte Seréna sich geborgen, sodass sie sich ganz der magischen Kraft hingeben konnte, die sie zu dem unbekannten Zielpunkt leitete, der sich ihr wie ein freundlicher Sommerregen durch wohliges Herzklopfen ankündigte.
Sie spürte, dass sie sich nun nichtmehr auf der Wiese hinter ihrem Haus befand, doch ihr Verstand war von der wohltuenden Ära der Nacht derart betört, dass es ihm nichtmehr möglich schien, den Weg zu ermitteln, den Seréna nun beschritt. Zu ihrer Rechten vernahm sie das sanfte Rauschen von Baumkronen, die sich weit über ihrem Kopf in den Schlaf zu wiegen schienen. Auch vernahm sie den süßlichen Geruch des Harzes, der, so erschien es ihr, lautlos die Stämme hinunterperlte. Hie und da raschelte es verdächtig unter ihren leichten Schritten, wenn sie von dem Moos in ein anderes Weich übertrat. Sie stellte sich vor, in eine weiss- verschnörkelte Badewanne gefüllt mit weissen Rosenblättern zu steigen und doch war es ihr noch viel angenehmer, mit ihren nackten Füßen einen Haufen von Laub zu erwecken.
Zu ihrer Linken schien ein sanfter Bach sich stetig neben ihr her zu schlängeln, lautlos und beharrlich. Es schien ihr, als würde sein Wasser die schönsten und wundersamsten Dinge mich sich tragen, während es sie zu ihrem Ziel begleitete, doch noch mochte sie diese nicht in Gedanken fassen.
Alles schien so ruhig und doch so lebendig, so voller Leben! Wie lange schon hatte sie es nicht mehr gespürt, wie lange schon hatte sie nichtsmehr fühlen können, außer eines momotonen Sich-Rührens um nicht zu verwehen. Die Luft schien auf einmal voll von vertrauten und wundersamen Düften, die sie niemals zuvor hatte wahrnehmen können. Sie sog ein wenig Luft ein, die sie mit dem Duft von abendlichem Sommerregen, bunten Wiesenblumen und gesunder, wohltuender Nachtluft überflutete.
Gleich, so fühlte sie, hatte sie ihr Ziel erreicht. Noch wollte sie jedoch die Augen nicht öffnen, denn zu schön war der Moment inneren Wohlklangs. Ein sanfter Trommelklang umspielte ihre Sinne, während sie sich ihrem Ziel mit leichtem Schritt nährte.
Nun spürte sie einen flackernden Lichtschein auf ihren geschlossenen Augen auf und ab tanzen. Sie wusste, es war Zeit die Augen zu öffnen, doch zu sehr genoss sie diesen Moment. Ihre Füße, die über das weiche Moos zu schweben schienen, die wundersame Ansammlung der vielzähligen Gerüche, der sanfte Klang der Seelentrommeln und der glückselige Fluss, all jenes wollte sie in sich bewahren, nichtmehr abgeben müssen.
Doch das Flackern erinnerte sie an ihre Pflicht und sie öffnete unglücklich die Augen.
"Herzlichen Glückwunsch zu deinem 43. Geburtstag Seréna", hörte sie ihre Mutter sagen. Missmutig starrte sie auf die monströsen Kerzen, die auf der Torte, die ihr ihr Sohn Jerémia vor das Gesicht hielt, umhertanzende Schatten warfen. Noch missmutiger starrte sie auf die karierte Decke, die man ihr über die tauben Beine gelegt hatte.
"Wie gefällt dir unsere Überraschung, Mama?", fragte Jerémia mit strahlender Engelsmiene.
"Wir dachten uns, du würdest es mögen, wenn wir dich ein wenig in den Wald fahren. Hörst du den Bach plätschern? Er ist direkt neben dir. Siehst du ihn? Auf dem Wasser, da schwimmen weisse Rosenblätter, Mama, sieh nur".