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Treppen. Überall Treppen.
Treppen. Überall Treppen.
Kennen Sie diese Kaufhäuser, aus welchen die Kunden als Sonderangebot gekennzeichnete Kleidungsstücke wie Ameisen herausschleppen, die so zur Erhaltung ihrer Art beitragen müssen?
Acht Jahr etwa ist es her, dass ich zum letzten Mal mit meinen Eltern in solch einem Kaufhaus war. Die Sonne brannte an diesem Tag besonders heiß, es war Sommer und ich hatte wenige Wochen zuvor meinen zwölften Geburtstag gefeiert. Klimaanlagen gab es damals noch nicht, zumindest nicht in dem Kaufhaus, in dem wir waren. Meinem Vater und mir lief der Schweiß schon beim bloßen Warten von der Stirn. Wir saßen auf einem Ledersofa, wie es meist nur in Damenabteilungen aufgestellt ist, für den Zweck, dass Frauen sich auch dann noch nach neuen Kleidern umsehen können, wenn die Beine ihrer Angehörigen schon lange nicht mehr tragfähig sind.
Glücklicherweise befand sich die Damenabteilung im Kellergeschoss des Kaufhauses, wo die Hitze noch deutlich erträglicher war als in den Etagen darüber. Meine Mutter hatte uns bereits vor 20 Minuten auf dem Sofa abgesetzt, da wir beide zu erschöpft waren, um sie noch weiter zu begleiten oder gar fachmännisch zu beraten. Anders ausgedrückt hatte sie einfach keine Lust mehr auf unser ständiges Gejammer.
Mir war entsetzlich langweilig, denn ich wollte unbedingt so schnell wie irgend möglich nach Hause, um mit dem Auto zu spielen, das mir meine Eltern rund eine Stunde zuvor gekauft hatten, weil ich so brav war und auch fast nicht gequengelt hatte.
Hinzu kam, dass mein Vater nun auch noch anfing zu erzählen, seinen Blick auf die Rolltreppe vor uns gerichtet, auf der die Kunden ins Erdgeschoss fuhren. So was machte er ständig, vor allem in diesen Momenten, in denen ich einfach nur meine Ruhe haben wollte.
„Siehst du all die Menschen, die auf der Rolltreppe in Richtung Ausgang fahren?“, fragte er mich. Ich hatte zwar nur mit halbem Ohr zugehört, seufzte aus Höflichkeit dann doch ein gestresst wirkendes „Was ist mit denen?“ heraus, ohne auf solch ausführliche Antwort zu hoffen:
„Sie lassen sich tragen von der Rolltreppe. Ganz automatisch. Ohne, dass sie sich selbst bewegen müssten halten sie sich am Geländer und werden nach oben gefahren. Als führen sie alle direkt in den Himmel.“
Folgen konnte ich meinem Vater zwar nicht, dennoch wusste ich, dass er jetzt, wo er einmal angefangen hatte, sowieso nicht mehr zu stoppen war. Aus irgendeinem Grund, wohl aus purer Langeweile, gab ich mir jetzt Mühe, konzentriert zuzuhören, da ich ohnehin keine andere Beschäftigung hatte.
„Sie bemerken nicht einmal, dass sie befördert werden. Sie meinen, sie gingen selbst. Dabei transportiert man sie auf die gleiche Weise zum Ausgang, wie den Müll, der in Recyclingfabriken auf dem Fließband zu einer Maschine transportiert wird, die die brauchbaren Stücke, eines nach dem anderen, aussortiert: Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.“
Bei seinem letzten Satz musste ich an die Märchen denken, die er mir, als ich noch ein Kleinkind war, Abend für Abend erzählte. Teils waren sie sogar selbst erfunden, er hatte schon immer eine ausgeprägte Phantasie. Jedenfalls unterbrach ich ihn. Wohl weil ich ihm widersprechen wollte, zeigte ich mit meinem Finger auf einen Mann, der die fahrende Rolltreppe nach oben sprintete. „Was ist mit dem da? Der lässt sich nicht fahren, der läuft doch selbst!“, gab ich ihm zu Bedenken.
„Der läuft die Stufen, weil er meint, er müsse schneller sein als alle anderen. Er meint, er könne die Treppe überlisten, wenn er sich die Kraft ihres Motors zu Nutze macht, doch just in dem Moment, als er die Treppe betrat, hatte sie ihn bereits überlistet, denn wie alle anderen auch, ist auch der da von ihr abhängig: Würde sie plötzlich, sei es aufgrund technischer Mängel oder weil man sie einfach abgestellt hat, ihre Funktionsbereitschaft aufgeben, wäre das für sie solch ein Schock, dass sie nicht mehr wüssten, wie sie zum Ausgang kommen können. Plötzlich würden sie alle umherirren wie Hänsel und Gretel, als sie sich im Wald verlaufen haben.“
„Aber“, widersprach ich erneut, „Kaufhäuser werden doch gesetzlich verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Kunden auch in Notfällen das Gebäude verlassen können.“
„Das ist richtig, dafür gibt es stets Hintertreppen. Doch man hat es nicht gerne, wenn sie benutzt werden. Die Menschen sollen nicht selbst laufen, sie sollen sich automatisch hochfahren lassen, dabei von der bunten Werbung rechts und links der Rolltreppe fasziniert und geblendet werden. Was meinst du, warum solche Hintertreppen stets kühl und düster sind und schlecht beschildert werden?“
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet, so dass mein Vater fortfuhr:
„Es gibt auch Leute, die generell diese Hintertreppen bevorzugen, weil sie der Technik nicht trauen und den Weg zum Ausgang lieber selbst laufen wollen.
Doch die Gesellschaft verachtet diese Menschen: Sie seien Schuld, dass der Fortschritt auf der Strecke bleibt, sie würden Innovation verhindern und weit hinter ihrer Zeit zurück leben und dabei auch noch glauben, sie seien freier und unabhängiger, wenn sie sich von der Masse abzuheben versuchen. Völlig außer Atem kämen diese Menschen oben an und würden auch noch damit protzen, mit ihren eigenen Beinen Treppen gelaufen zu sein.
Man warnt seine Kinder vor diesen Treppenhäusern, sie würden so ganz sicher im Kröpfchen landen.“
Ich weiß zwar nicht wie, aber er hatte es tatsächlich geschafft, mich mit seiner Erzählung zu fesseln. Beinahe aufgeregt fragte ich ihn, was er von alledem hielt und wie er sich vorstellt, dass ich zum Ausgang gelangen soll.
„Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, so gern ich es auch möchte. Du musst deinen eigenen Weg finden, deine innere Stimme wird ihn dir weisen.“
Noch bevor er seinen Satz zu Ende sagen konnte, rannte ich los. Ich stürmte zu den Aufzügen und drückte alle Knöpfe an den Wänden und harrte ungeduldig, bis sich endlich eine der Türen auftat. Ich sprang hinein und stand innerhalb nur weniger Sekunden oben am Ausgang.
Ich wusste, dass meine Entscheidung richtig war: Mit der Rolltreppe wollte ich auf keinen Fall fahren und der harte Fußmarsch nach oben wäre zu anstrengend, als dass ich ihn hätte überstehen können.
Noch heute warte ich hier auf meine Eltern. So sehr ich sie vermisse bin ich mir auch sicher, dass ich sie hier oben, im Töpfchen, wiedersehen werde.