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Treppengeschichte
Die Sonne versank hinter den Bergen und ließ die Welt im Dunkel zurück. Das Zwitschern der Vögel war lange, lange verhallt, und die spröde Erde war soweit das Auge blickte kahl. Einzig ein verkohlter Baum, dessen Zweige schlapp hinabhingen, zierte die Landschaft mit seiner bedauernswerten Anwesenheit.
Die Druckwelle entwurzelte Bäume und ließ Land und Leben in Trümmern zurück. Steine wirbelten durch die Luft, Schreie wurden im Keime erstickt, Haut von den Knochen gelöst und der letzte aller Vögel starb einen schnellen, schmerzlosen Tod. Einige wenige Bäume verblieben als Schatten ihrer Selbst auf Erden, einige Monumente wurden verschont und die Gerüste der Bomben steckten mahnend in den Trümmern, die sie selbst geschaffen hatten, wie als paradoxes Mahnmal an jene die da kommen würden, gäbe es jemanden der kommen könnte . Und ein Baum, vor einem Zentrum der Macht, das keines mehr war, trutzte der Explosion, als wolle er beweisen, dass ihm das gelang, was Jahrhunderte der Technologie und Architektur nicht vollbrachten.
Die Straße vor dem Park war leergefegt, die Sirenen des Luftalarms heulten noch immer. Dennoch verlieh das imposante Gebäude, auf dessen Spitze ein steinerner Adler unermüdlich Wache hielt der gesamten Szenerie eine eigentümliche morbide Erhabenheit, die in Verbindung mit den befremdlichen Rottönen, in die die Szenerie ob der Explosionen am Horizont und der herbstlichen Röte der Bäume getaucht war, eines Gemäldes wohl mehr als würdig war. Die Luft roch nach Schwefel und Verwesung, und das letzte verbleibende Geräusch auf dem Mitchell's Square war das Rattern der Ticker, die noch immer unermüdlich Meldungen abdruckten. Eine Weile noch hörte man das monotone Klackern, bis es von einer markerschütternden Explosion abgelöst wurde.
Beide schlenderten, es gab keinen Grund zur Eile. Marcus hatte seinen Beruf vor geraumer Zeit aufgegeben, da er begonnen hatte Probleme mit der Lunge zu entwickeln und die Dämpfe, die aus den Lösungsmitteln seiner Schreinerei aufstiegen, sein Leiden nur verschlimmerten. Joel hatte nie wirklich gearbeitet und hatte nicht vor, nun damit zu beginnen. Sie genossen die sommerliche Wärme, die um diese Zeit besonders angenehm war, und setzten sich in einem Café nieder, das ihnen den besten Blick auf den Regierungspalast bot. Viele lehnten es mittlerweile ab, ihn sich zu betrachten, aber keiner der beiden störte sich an dem Anblick, der trotz der Implikationen, die sich aus seiner Verwendung ergaben, eine architektonische Meisterleistung darstellte. Joel brach das Schweigen als Erster.
"Ist das das Ende?"
"Natürlich, das wissen wir doch beide."
"Es hat begonnen, jetzt schon?"
Marcus nickte. "Ja. Ja, natürlich. Der Krieg. Das Ende, wenn du so willst."
Die Kellnerin erschien, und obwohl sie ob ihrer hageren Gestalt wohl etwas älter wirkte, als sie es tatsächlich war, erschien sie dennoch beinahe jugendlich. Wortlos warf sie den beiden die Speisekarte hin, die mehr als spärlich bestückt war. Obwohl sich sowohl Medien als auch alle anderen bemühten es zu vertuschen: Es war Krieg, und jeder war sich dessen bewusst.
Joel betrachtete die Karte gedankenverloren, nur um kurz danach wieder zu Marcus zu blicken.
"Hättest du damit gerechnet? Ich meine... HAST du damit gerechnet?"
Sein Gesprächspartner hatte sich seiner letzten verbleibenden Zigarette gewidmet, und versuchte gerade diese anzuzünden.
" Ja. Aber nicht so früh, glaube ich. Ich hätte gedacht, sie schieben noch etwas Diplomatie und so vor, bevor sie all diesen nuklearen Mist abfeuern. Außerdem dachte ich, die anderen fingen an. Es sind immer die anderen. Zumindest werden die anderen es beenden. Wie du sagtest... das Ende. Immer und überall endet etwas."
Joel nickte schweigend, ließ Marcus fortfahren.
"Denn siehst du, auf lange Sicht betrachtet... ist es unwichtig was geschieht. Weil alles endet, und es nur eine Frage der Zeit ist."
Joel nickte wieder, auch er hatte ein Päckchen Zigaretten hervorgeholt.
"Du weißt, dass wir hier nicht sicher sind?"
"Natürlich. Ab jetzt sind wir nirgends mehr sicher. Niemand ist das, nehme ich an."
Es gelang ihm die Zigarette anzuzünden. Er lehnte sich zurück und betrachte den Baum vorm Regierungspalast.
"Denn letzten Endes, weißt du, ist es alles scheißegal."
Joel nickte nur, dann bestellte er seinen Kaffee. Ohne Zucker, ohne Aroma.
Der untersetzte Mann in dem engen Anzug eilte dem Präsidenten hinterher.
"Warten Sie, nur eine Sekunde. Bitte."
Mit einer Handbewegung hieß letzterer den ersteren, ihm zu folgen, und führte ihn in sein Büro, dessen schusssichere Fenster einen beeindruckenden Blick auf den Park vor dem Regierungspalast gewährten. Er ließ sich in dem ledernen Sessel nieder und legte das Lächeln auf, das ihn in die Position gebracht hatte, in der er sich jetzt befand. Es war die Art von Lächeln, die man gemeinhin zu verabscheuen vorgab und als "Schmierig" bezeichnete, die einem insgeheim aber dennoch so schmeichelte, dass man durchaus bereit war, ein unbedeutendes kleines Kreuzlein an eine bestimmte Stelle vor bestimmten Namen zu setzen.
"Hören Sie, meine Zeit ist kostbar. Ich bin über die Fakten durchaus informiert, die unser Land leider dazu zwingen, einen Rückschlag mit Waffengewalt zu führen."
"Aber..."
"Was wollen Sie sagen? Dass es keine Veranlassung gibt? Dass der Rückschlag kein Rückschlag ist? Ich lese Ihre Kolumne. Sie versuchen mich madig zu machen mit ihrem liberalen, pseudoanarchistischen Geplapper."
" Auf ein Wort, ich bitte Sie." Schweiß lief über die roten, fettigen Wangen des Mannes.
"Bitte Sie inständig. Sehen Sie davon ab, was immer genau Sie vorhaben. Die Anderen könnten einen echten Rückschlag fahren, der unsere Nation – oder gar die Welt – so sehr erschüttert, dass wir uns nie mehr davon erholen."
"Wissen Sie, wovon wir uns nie mehr erholen, wenn wir jetzt nicht handeln? Von den Dingen, die wir uns in jahrhundertelangem Kampf erarbeiteten und die DIE jetzt versuchen uns wegzunehmen. Die Sozialsysteme, unser Rechtssystem, unsere Arbeitsteilung... die anderen unterhöhlen das alles. ALLES. Ich habe mich hochgearbeitet, von ganz unten. Ich wuchs hier in der Nähe in einer miesen Bretterbude auf. Und immer wenn ich auf dieses Gebäude sah, da sagte ich mir: 'Da kommst du einmal hinein'. Wissen Sie, warum ich das geschafft habe? Weil dieses Land jedem eine Chance gibt. Und ich lasse diese Möglichkeiten nicht von dieser Nation von Emporkömmlingen zerstören, die jetzt versuchen, sich einen Lebensstandard wie den unseren zu verschaffen. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich Emporkömmlinge verabscheue?"
"Überlegen Sie es sich. Sorgfältig. Um mehr kann ich Sie nicht bitten."
Der Mann erhob sich und verließ den Raum, nervös an seinem Schlips herumnestelnd. Er wusste, es war seinem Gegenüber ganz egal, was die Folgen seines Tuns waren. Es gab Menschen, die für den eigenen Vorteil lebten, und diese Art Mensch lebte stets in einem Jetzt, das von Vergangenheit und Zukunft nur peripher tangiert wurde. Die Basis ihrer Überlegungen bestand niemals in einem sorgfältigen Abwägen der Erfahrungen, die man bereits gesammelt hatte, und der Folgen, die eine Entscheidung nach sich ziehen könnte, sondern stets in einem relativ pragmatischen Denken der einfachen, auf den Moment konzentrierten Vorteilsmaximierung.
Er hätte sich gerne noch weiter unterhalten, um mehr Stoff für seine Kolumne zu haben, aber er hatte Wichtigeres zu tun. In wenigen Minuten würde sein Golfspiel beginnen, und seine Trainerin würde anwesend sein, um jeden seiner Schläge prüfend zu kontrollieren und zu bewerten. Während er seine Krawatte zurechtrückte und einen Knopf an seinem Hemd öffnete, um besser atmen zu können, rechnete er sich seine Chancen bei ihr aus.
"Heeee, hab dich."
Sie lachten und ließen sich ins Gras fallen. Alle fünf stammten sie aus den ärmeren Vororten der Stadt, was sie jedoch nicht daran hinderte, des Öfteren einmal im Park vor der "endgeilen Hütte" zu spielen. Der Baum, der hier stand, bot immer genügend Schatten und zudem einige hervorragende Klettermöglichkeiten. Eine Weile lagen sie schnaufend da und schauten in die Krone hinauf, dann setzte sich Jonas auf.
"Ey, das hier, das wird eines Tages mein Baum sein. Und meine Hütte. Dann geh ich von daheim wech."
Iven blickte zu ihm hinüber.
"Und was is’ mit uns? Nimmst du uns mit?"
Entschieden schüttelte Jonas den Kopf.
"Wenn ich mit euch teile, dann hab ich ja nich’ mehr den ganzen Baum und das Haus..."
"Aber wir sind doch Freunde?"
Jonas lachte.
"Mama hat auch keine Freunde. Freunde brauch’ man nur als Kind, als Großer sind die einem egal, glaub ich."
Charlene, das einzige Mädchen der Gruppe, drehte sich so, dass sie zu Jonas hinübersehen konnte.
"Aber... wenn das einem später egal is’... was is’ einem dann nich’ egal?"
Er zögerte. Kurz nur, aber lange genug um sich einen Hauch der kindlichen Unschuld zu bewahren, die die Menschen jenes präpubertären Alters stets umspielte.
"Na ja, Häuser. Und Geld."
Iven schüttelte den Kopf.
"Du hast sie nich’ alle. Ich geh heim. Wird eh bald dunkel."
Die anderen nickten, und das allgemeine Gemurmel hatte als Tenor die Aussage, Jonas solle doch mit seinem Haus und seinem Geld spielen.
Dann gingen sie und trafen ihn von dieser Zeit an nicht wieder, aber keiner bedauerte das.
Am wenigsten Jonas, der an jenem Abend noch lange alleine am Baume vor dem Palast der Regierung stand und immer und immer wieder murmelte, das Haus würde eines Tages ihm gehören, bevor er sich schließlich in seine ärmliche Hütte in einem der Vororte zurückzog, wo ihn seine Mutter mit dem Riemen eines Gürtels windelweich schlug.
Sie hatte den ganzen Abend getanzt und sich prächtig amüsiert. Die Nacht jedoch hatte sie mit etwas anderem verbracht, daran konnte sie sich erinnern. Dennoch mochte ihr nicht einfallen, wer denn genau der Glückliche gewesen war. Es war ihr im Grunde auch ganz egal, sie hatte nicht vor ihr Leben mit jemandem zu teilen, das würde vermutlich nur zusätzliche Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Und ihre Freiheit einschränken, noch mehr als ein Kind es ohnehin schon täte. Abtreibung kam in dieser prüden Zeit nicht in Frage und im Grunde hatte sie sich von Zeit zu Zeit ein Kind gewünscht.
Ihr Kinderwunsch gestaltete sich im Grunde so, wie es der Wunsch eines Kindes nach einem Hund oder eine ähnlichen Haustier tat. Es war eine Lust, ein Begehren, das aus einer willkürlichen Laune heraus entstanden war und erst dann minder erstrebenswert schien, wenn es einmal erfüllt war.
Dennoch wollte sie dieses Kind, da es für sie Freiheit vom maroden sozialen System bedeutete. Sie würde jemanden haben, der sich im Alter um sie sorgte – hoffentlich. Die Zeit, in der sie sich um den Kleinen würde sorgen müssen, war ihr relativ gleichgültig, sah sie diese doch eher als störende Übergangsphase an, die sie so schnell als möglich zu überspringen gedachte.
Der Zwerg würde es ihr ermöglichen, eines Tages in Frieden und gebettet auf Rosen zu versterben, weshalb sie ihm den Namen Jonas gab. Taube... Symbol des Friedens, der Freiheit und beschissener Denkmäler. Sie blickte am Baum vorbei auf den Regierungspalast, auf dessen Front sich einige derselben der Öffentlichkeit darboten. Sie grinste leicht. Wie sich doch alles ergab. Sie legte einige Cent auf das Tablett des neu gegründeten Cafés, dann ging sie zurück zu ihrer Hütte vor der Stadt.
Das Ford T-Modell tuckerte durch die Weizenfelder, die die Vororte umgaben. Das einzige Licht der beiden Insassen war der Mond, der fahl am Himmel stand. Als sie die Stadtgrenze erreicht hatten, stieg einer der beiden Insassen aus und setzte sich auf den Vorsprung, der einen überwältigenden Ausblick über die Stadt darbot. Zentral stand der Palast der Regierung mit seinem Baum, der von einigen schwachen Scheinwerfern schräg angestrahlt wurde, um den Touristen noch spektakulärer zu erscheinen.
Er blickte hinüber zu der Frau, die im Wagen verblieben war.
"Du lässt sie nicht wirklich gerne zurück, oder?"
"Es gäbe Sachen, die ich lieber täte, ja."
Er hob die Schultern und schnippte einen Stein den Abhang hinab.
"Wenn wir unser Leben genießen wollen, dürfen wir uns nicht mit einem solchen Ballast beladen. Sie hat die Hütte, und ich habe ihr Geld zurückgelassen. Den Rest wird Väterchen Staat schon richten."
Die Insassin des Wagens nickte.
"Es ist ja letztlich egal, ob sie unter uns leidet oder allein... glaube ich."
"Ja. Natürlich. Völlig egal."
Er lächelte sie im Dunkel an und fragte sich insgeheim ob sie später am Abend Lust auf Sex haben würde.
Sie hatten das Haus bezogen, als die Bauarbeiten am neuen Regierungssitz begonnen wurden. Sicherlich hatten sie es nicht gerne getan, hatte der neue Bau doch nicht einmal annähernd die Qualität des alten Grundstücks mit dem Garten, in dem der Baum stand, den vor Generationen ihre Ahnen gepflanzt hatten. Aus dem ganzen Land waren Maurer, Architekten und Zimmermänner angereist, sodass die Konstruktion zügig voranging. Bereits im Sommer, so sagten sie, würde der Bau vollendet sein.
Das nützte der kleinen Familie, die nun in die Vororte gezogen war, jedoch herzlich wenig. Die klägliche Abfindung, die vom Staat gezahlt worden war, war schnell verbraucht gewesen und die Baracke, die ihnen anfangs als Übergang, später als "gleichwertiger Ersatz" gegeben ward, bot bei weitem zu wenig Platz für eine dreiköpfige Familie in diesen Zeiten. Dem Ausschuss war das natürlich egal gewesen, war diese Lösung doch die kostengünstigste.
"Es macht Sinn, sie zu enteignen, das muss jeder der hier Anwesenden einräumen, nicht wahr?"
"Natürlich macht es Sinn. Immerhin steht das Grundstück der Gemeinde, ja, dem Staat zu."
Ältere Herren in Nadelstreifen nickten zustimmend, einige jüngere Mitglieder der Versammlung machten Notizen.
"Die Bauarbeiten werden... ja... im Winter beginnen, nicht wahr? Wir sollten Sorge tragen, dass diejenigen, die die 'Leidtragenden' unserer kleinen Transaktion sein werden, im Warmen untergebracht sind. Das werden Presse und Wähler zu schätzen wissen."
Einige Stifte notierten Worte wie Heizung und Bad, nur um dann letzteren Punkt unter den strengen Blicken des Herren, der die Finanzen verwaltete, wieder zu streichen.
Sie würden nicht erfrieren, das war das einzig wichtige. Niemand wollte einen mit Blut befleckten Regierungsbau. Zumindest nicht so offensichtlich. Und der gestrenge Verwalter der staatlichen Kasse, dessen Augen an der vernarbten Adlernase vorbei stets auf Gewinne stierten, nickte zufrieden. Sein Vorschlag war angenommen, das wunderbare Grundstück bald Staatseigentum.
Sie hatten im Garten gespielt, und der Baum war stattlich genug, um einige behutsame Kinderspiele zu ertragen. Die Großeltern hatten ihn gepflanzt, wie Mary und Louise immer wieder aufs Neue aus den Geschichten derselben erfuhren. Sie trugen beide ihre Sonntagskleider und bereiteten sich auf den wöchentlichen Kirchgang vor. Louise hatte sich herausgeputzt, wie sie es für gewöhnlich zu tun pflegte, wenn sie beabsichtigte, in die Öffentlichkeit zu gehen. Mary trug ein schlichtes schwarzes Kleid, welches ihr angemessener zur Andacht erschien. Pete Hawkson, dessen Name in Verbindung mit seiner eigenartig geformten Nase stets für die Erheiterung seiner Freunde und Feinde sorgte, erwartete die beiden Mädchen direkt vor ihrer Haustür. Er hatte sich immer Chancen bei Mary ausgerechnet, obwohl er wirkliche Zuneigung in dem Sinne, der gemeinhin schon bei Kindern als Liebe bezeichnet wird, nur zu Louise empfand, die ihm jedoch aufgrund ihrer mondänen Art unerreichbar erschien.
Er beabsichtigte, Mary nach dem Kirchengang auf seine Gefühle, oder was auch immer er dafür ausgeben wollte, anzusprechen.
Bis dahin jedoch begnügte er sich damit, die beiden Mädchen wie jeden Sonntag zu geleiten. An ausgerechnet diesem Tage jedoch hatten sich die Beiden, aufs Drängen Louises hin, verabredet mit zwei Jungen des Debattierclubs. So blieb ihm nichts andres übrig, als hinter den Pärchen herzutrotten, um schließlich, nach seiner Rückkehr aus der Kirche und dem allsonntäglichen Heimweg vor verschlossenen Türen zu stehen, während die debattierfreudigen Jungen Einlass in die gute Stube der Mitchells fanden.
Er seufzte, als er realisierte, dass so vieles in einer Welt wie der seinen egal war, nicht aber Äußerlichkeiten. Er ließ sich ins Gras vor dem Bäumlein fallen und rieb sich seine Hakennase, während er die Silhouetten, die sich hinter den Vorhängen vergnügten und gemeinsam lachten, neidisch beobachtete.
Es gab Dinge, das akzeptierte er nun, die ihm ewig verschlossen bleiben würden. Und die Welt der Mitchells hinter den Vorhängen gehörte dazu. Dafür verabscheute er sie.
Mary war immer das Lieblingskind ihrer Großeltern gewesen. Schon früh hatte es sich abgezeichnet, dass sie ein braves, gelehriges Mädchen war und ihre Entwicklung wohl dementsprechend positiv verliefe. Louise, ihr Gegenpart, war dagegen jedoch schon immer etwas renitent gegenüber Anweisungen und Pflichten gewesen.
Ihr Widerwillen rührte wohl daher, dass ihre Schwester stets bevorzugt wurde, seit ihre Eltern verstorben waren. In frühkindlichem Eifer versuchte sie sich durch Trotz und Widerwillen dagegen zu wehren, was bei den pädagogisch wenig bewanderten Großeltern jedoch stets zu noch größerer Abneigung führte, obwohl freilich auch die größte Unverfrorenheit, die sich Louise erlaubte, nie das Band zwischen Großeltern und Enkeln zu kappen vermochte. Zudem fühlten sich die beiden Alten zusätzlich in die Pflicht genommen, da sie sich bis zu einem gewissen Grad für den frühzeitigen Tod der eigentlichen Bezugspersonen der Kinder verantwortlich fühlten.
Die Erinnerung an ihre Tochter, Eleonore, war es wohl auch, die Mary gleich zu Beginn die leicht bevorzugte Behandlung durch ihre Großeltern sicherte, da sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Der Weg durch das Montana Territory verlief lange Zeit ruhig, obwohl natürlich alle an Bord von den Unruhen im Gebiet informiert waren. Dies war auch der Grund, warum das Dampfschiff nicht wie sonst gefüllt war, sondern nur mit wenigen Passagieren über den Little Bighorn River dümpelte. Als sie den Kanonendonner und die Salven Custers hörten, war es bereits zu spät, um entgegen der Strömung umzukehren. Die Rettungsboote wurden hinabgelassen, um sämtliche zahlenden Kunden frühzeitig an Land gehen lassen zu können.
Keinem der Passagiere gelang es, das Gebiet um den Little Bighorn River wieder zu verlassen. Und weit entfernt pflanzte man einen kleinen Baum – zum Gedenken und den Kindern zur Hoffnung.
"Und das war das Billigste."
Der Mann, dem man im Grunde nicht ansah, dass er soeben zum zweiten Male Großvater geworden war, nickte, während seine Frau ihn zweifelnd betrachtete.
"Es missfällt dir, dass das alles ohne Heirat passiert ist, aber das ist kein Grund eine solche Flitterwochentour zu planen. Du weißt, das ist weniger Geschenk denn Bürde...so sollten die Flitterwochen nicht sein."
Er hob die Schultern. "Das sollten auch Enkel nicht sein, nicht wahr? Um ehrlich zu sein, es ist mir völlig egal ob sie sich amüsieren, da oben. Sollen sie bleiben wo sie sind, und die Bälger mit sich nehmen. Kinder vor der Ehe, das ist nicht recht. Und Gott der Allmächtige, er soll mir ein Zeichen geben, wenn ich in auch nur einem Punkt nicht im Recht bin."
Und gütig schien die Sonne durch das Fenster, ganz als wolle sie ihn in jedem Punkt bestärken.
Und der Schmetterling saß still auf seinem Blatt und starrte in die grüne Hölle der indischen Wälder.
Und der Schmetterling schlug mit den Flügeln, erhob sich von dem Ast auf dem er solange gleichgültig verweilt hatte. Wohin auch immer er nun fliegen würde, es würde eine willkommene Abwechslung sein.
Und vor der Küste Indiens trafen einige wenige Luftmoleküle auf einige andere, veränderten ihren Strom beinahe unwesentlich.
"Und es war das Billigste."
Der Mann, dem man im Grunde nicht ansah, dass er soeben zum zweiten Male Großvater geworden war, nickte, während seine Frau ihn zweifelnd betrachtete.
"Es missfällt dir, dass das alles ohne Heirat passiert ist, aber das ist kein Grund eine solche Flitterwochentour zu planen. Du weißt, das ist weniger Geschenk denn Bürde... so sollten die Flitterwochen nicht sein."
Er hob die Schultern. "Das sollten auch Enkel nicht sein, nicht wahr? Um ehrlich zu sein, es ist mir völlig egal ob sie sich amüsieren, da oben. Sollen sie bleiben wo sie sind, und die Bälger mit sich nehmen. Kinder vor der Ehe, das ist nicht recht. Und Gott der Allmächtige, er soll mir ein Zeichen geben, wenn ich in auch nur einem Punkt nicht im Recht bin."
Ein einziger Windstoß, der Meteorologen noch Tage später rätseln ließ, ließ das Fenster zuschlagen.
Trudy lächelte Albert gütig zu, bevor sie sich wieder ihrem Bügeleisen widmete, nur um nach einer Weile mit einem leisen "Na?" nachzusetzen.
Albert setzte sich nieder, sein Zorn war etwas abgeklungen, so als hätte er einen leisen Dämpfer von einer höheren Instanz bekommen.
"Sie haben nichts Besseres verdient..."
Seine Frau setzte das Eisen wieder auf den Kohlenofen, damit sie sich möglichst bald würde dem nächsten Kleidungsstück zuwenden können.
"Albert, du weißt so gut wie ich, keiner der beiden hat etwas Sündiges getan. Jedenfalls nicht sündiger als manches, was wir damals angestellt haben."
Er lächelte schief.
"Aber bei uns ist nicht so ein Resultat herausgekommen, Schatz... hör doch nur, wie die Leute tratschen über uns."
Sie nickte, begann sein Hemd zu bügeln.
"Dann lass das Geschnatter nicht dein Problem sein, mein Herz. Gönn lieber deiner einzigen Tochter ihre Ehe, egal wie verspätet sie kommt. Und freu dich, du bist mehrfacher Großvater."
Albert Mitchell grinste, zum ersten Mal seit dieses neue Bündel Leben zu seiner Familie gestoßen war. Es war einer der Momente, in denen er wusste, warum er seine Frau geheiratet hatte.
Dann machte er sich auf den Weg zu den Menschen, die ihm die Karten für die Dampferfahrt schmackhaft gemacht hatten.
Die Wälder, wenige Kilometer nordwestlich ihrer Heimatstadt boten einige durchaus sehenswerte Attraktionen und Naturschauspiele. Zudem waren Karen und Robert im besten Hotel der Umgebung eingemietet, sodass sie sich um nichts zu sorgen brauchten. Sie verbrachten einige der schönsten und geruhsamsten Tage ihres Lebens dort, und brachten zum Andenken an diese Zeit eine kleine Eibe mit zu ihrem Heimatort, wo sie sie vor ihrer Türe pflanzten.
Mary war immer schon etwas kleiner als Louise gewesen, und hatte auch ansonsten ganz die Statur ihrer Mutter, während Louise eher nach dem Vater zu kommen schien. Beide jedoch genossen die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die sie von ihren Eltern erfuhren.
Schon in frühester Kindheit zeichneten sich unterschiedliche Neigungen der beiden ab, die jedoch, trotz einigem Widerwillen der Großeltern, uneingeschränkt gefördert wurden.
Louise hatte einen Hang zum "Tomboy"tum und verbrachte ihre Nachmittag bevorzugt mit den balgenden Jungen der Umgebung. Mary hingegen war, auch hier ganz wie ihre Mutter, etwas stiller veranlagt und bevorzugte es, in ihrer Stube zu bleiben und zu lesen. Anfangs die grimmschen Märchen, um sich später anspruchsvollerer Literatur, wie beispielsweise Dickens zu widmen, für dessen Oliver Twist sie stets eine besondere Zuneigung besaß. Später würden einige sagen, ihre besondere Fähigkeit der Empathie stamme aus der frühen Beschäftigung mit diesen Werken.
Beide jedoch entwickelten sich zu jungen Frauen, die uneingeschränkt von der Nachbarschaft anfangs bewundert und später gar von einer jüngeren männlichen Klientel angehimmelt wurden.
Sie hatten im Garten gespielt und die junge Eibe, die mittlerweile einen durchaus stattlichen Wuchs aufwies, bot ihnen wie stets Schatten. Louise trug ein ehemaliges Kleid ihrer Mutter, während Mary jene schlichte Robe trug, die sie zu ihrem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte. Sie würden, wie üblich an diesem Tag der Woche, die Kirche besuchen und hatten sich schon darauf vorbereitet, wie stets von Pete Hawkson geleitet zu werden, mit dem Mary sich bereits vor geraumer Zeit angefreundet hatte.
Seine adlerhafte Nase und sein Name luden geradezu dazu ein, ihn zu verspotten, was ihn Mary auf Anhieb sympathisch machte. Sie fühlte sich zu seinem Beschützer berufen und entwickelte jene Art der mütterlichen Liebe, wie man sie für gewöhnlich eher bei älteren Frauen fand.
Einige Jahre noch hielt ihre Beziehung an, bis Hawkson sich von Mary, deren mütterliche Gefühle ihn einengten, als er versuchte sich von seiner Kindheit zu lösen, trennte, um in die Politik zu gehen, wo er es bis in eine einflussreiche Stadtratsposition schaffte. In Gedenken an die Zeiten mit seiner früheren Flamme, und ihrer liebsten Geschichte, erwies er sich als besonders engagiert im Bereich der Waisenpflege, und begründete, nur wenige Straßen von dem kleinen Haus mit der Eibe im Garten, das Twist-Mitchellwaisenhaus, dessen beträchtliches Engagement für die Elterlosen ihm mehrere Preise einbrachte.
Mary und Shaun liebten das Haus, das ihnen von ihren Eltern hinterlassen worden war. Louise war schon lange weggezogen, hinaus aufs Land. Denn obwohl das Häuschen mit der Eibe stets eine Landidylle vorgaukelte, war es doch nicht das gleiche. Sie war in die Emanzipationsbewegung eingetreten und engagierte sich auch auf Seiten der Schwarzen, die begannen, sich gegen die Segregation aufzulehnen. Sie wussten, dass die Regierung und die Behörden über einen Umzug nachdachten, der sie wohl in eine der benachbarten Großstädte schicken würde. Wenn nicht gerade eine Enteignung stattfände, so würde das ihrem Grundstück im Falle eines Umzugs in diese Stadt – vielleicht gar in dieses Viertel... eine beträchtliche Wertsteigerung bescheren.
Jedoch dachte keiner der beiden an einen Verkauf, hatte Mary doch eine der glücklichsten Kindheiten überhaupt hier verbracht. An der Eibe im Garten hing nunmehr eine Schaukel, die Shaun für die junge Tochter der beiden aufgehängt hatte. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sie würde benutzen können, aber er fieberte dem Tag mit einer vollkommen unbegründeten Sehnsucht entgegen.
Später fuhren sie mit ihrem Ford T durch die Weizenfelder, die die Stadt umgaben. Ihre Tochter hatte den Sitz in der Mitte der Rückbank bezogen und betrachtete jede Einzelheit der Landschaft mit jenem kindlichen Erstaunen, das einem ab einem gewissen Alter verlustig ging. Es waren die Blicke, die alles aufsogen und jegliche Kleinigkeit, von einem Kiesel bis zu einem Schmetterling, als neue, wundervolle Erfahrung auffassten. Als sie die Spitze des Berges erreicht hatten, hielten sie an und blickten auf die abendliche Stadt hinab.
Die Eibe war zu einem Baum solcher Größe herangewachsen, dass er selbst von hier in der homogenen Masse der Stadtlichter zu erkennen war.
Sie setzten sich auf einen Felsvorsprung und ließen die Beine hinunterbaumeln.
"Es ist... schön", sagte Mary in einem Ton, der offen ließ ob sie sich auf die Aussicht bezog.
Shaun nickte. Es gab nichts zu sagen, was nicht in diesen drei Worten zum Ausdruck gekommen wäre. Gar nichts.
Karen hatte Philosophie studiert, als eine der wenigen Frauen ihres Jahrgangs hatte sie überhaupt eine Universitätsbildung genossen, die von der humanistischen Erziehung ihrer Eltern nur noch ergänzt und unterstützt wurde. Sie war nun nicht einmal drei Monate schwanger, und verbrachte ihre Tage tatsächlich bereits mit jenen Verrichtungen, die Schwangeren für gewöhnlich angedichtet werden, also hauptsächlich mit Stimmungsschwankungen und Fressorgien. Dennoch genoss sie die Zeit. Sie wohnte noch immer mit ihren Eltern zusammen, da das Haus genug Platz bot und das einzige Grundstück der Stadt mit einem richtigen Garten war. Sogar ihre Schaukel hing noch an einem der Äste, wenngleich sie mit dem Wachstum der Eibe und dem Sprödewerden der Seile einige Veränderungen erfahren hatte.
Das Hanfseil war durch Kettenglieder ersetzt und die Schaukel um einige Äste nach unten verlegt wurde. Dennoch verspürte sie stets ihre Kindheit, die vergangen war, wenn sie sich darauf niederließ. Dazu bei trug der Geruch der Eibe und des Grases unter ihren Füßen, der sich mit den Gerüchen der Stadt, Schweiß und Abgasen vermischte.
Das war nicht die beste Mischung, aber es war der Geruch ihrer Kindheit, und jedes Mal, da sie ihn registrierte, überlief sie ein wohliger Schauer.
Sie hatte ihrem Kind ein kleines Plüschtier gekauft, das auch seinen Namen bestimmen sollte. Ein Königspinguin, dessen Haarkranz sie zu Stephen, respektive Stephanie inspiriert hatte. Zudem würde er, dessen war sie sich gewiss, trotz der beträchtlichen Erfolge, die sie beruflich erzielt hatte, eine Art Krönung ihres Lebenslaufes darstellen.
"Hey, ich hab' dich."
Sie lachten gemeinsam, trotz der Unterschiede, die zwischen ihnen lagen. Vier der fünf entstammten dem nahe gelegenen Twist-Mitchellwaisenhaus, während der fünfte, Stephen, zufällig den Nachnamen trug, der auch zur Taufe derselben Institution beigetragen hatte.
Seine gesamte Familie hatte sich stets dort engagiert, und auch er kam, seinem geringen Alter zum Trotz, ab und an, einfache Arbeiten zu verrichten. Dennoch, wenn er mit seinen Freunden spielte, so lud er sie stets zu seinem Garten ein, dem der betonierte Spielplatz des Waisenhauses auf keinen Fall das Wasser reichen konnte.
Sie ließen sich ins Gras fallen, und nach einer Weile setzte Stephen sich auf.
" Ich finde, das Leben sollte ganz anders sein."
Iven sah zu ihm herüber.
"Was meinst du?"
"Ich weiß nicht. Ihr solltet es besser haben. Ihr solltet... glücklich sein."
Sharon, das einzige Mädchen der Gruppe, drehte sich so, dass sie zu Stephen herüberblicken konnte.
"Wir sind glücklich. Wir haben den Garten und den Himmel."
"... aber keine Eltern."
Sie hob die Schultern.
"Aber gerade jetzt, gerade jetzt sind wir doch glücklich, oder?"
Die anderen Kinder kommentierten die Bemerkung mit Nicken und zustimmendem Gemurmel, einzig Stephen schien nicht recht überzeugt.
"Ihr seid doch sicher auch oft unglücklich."
Mark, der jüngste, fühlte sich bemüßigt, ebenfalls seinen Beitrag zur Diskussion zu leisten, und rief zu Jonas, der ihm genau gegenüber saß, herüber:
"Türlich."
Sharon lächelte leicht. "Weißt du, ich glaube, man sollte darüber gar nicht so nachdenken irgendwie... über das, was ist und das, was war." Sie hob die Schultern. "Daran ändern wir sowieso nichts. Aber wenn wir groß sind, dann machen wir alles anders. Als die Erwachsenen jetzt. Und dann sind die Leute einfach glücklich, oder?"
Stephen nickte. "Klingt wie eine gute Idee, glaube ich."
Auch die andern stimmten zu und so vergruben sie, um ihren Schwur zu besiegeln, am Abend eine kleine Metallkiste in der Erde neben der Eibe, in der sie mit kindlicher Handschrift einige Zeilen gekrakelt hatten.
Beide schlenderten am Garten der Mitchells vorbei, in dem der prächtigste Baum der gesamten Stadt stand. Es gab keinen Grund zur Eile. Sie genossen die sommerliche Wärme und die Geschäftigkeit um sie herum, als sie sich im "Le jardin", dem kleinen Straßencafé niederließen.
"Endet es hier?", fragte Joel nach einer Weile.
Marcus zündete sich eine Zigarette an. "Ich habe keine Ahnung, was du mich gerade fragst."
Joel sah zum Himmel, an dem einige Schwalben flogen. dann antwortete er:
"Der Sommer... er geht vorüber. Ich fühle mich als verschwende ich die Zeit, die ich hier auf Erden habe..."
Marcus nickte."Deine Zeit ist nie oder immer verschwendest, je nachdem was für eine Betrachtungsweise du anlegst, schätze ich. Das Leben ist zu schnell vorbei, um einen sichtbaren 'Erfolg' zu erreichen. Aber in der Ewigkeit... wer weiss schon, worauf das alles hinausläuft."
"Ich weiß nicht. Wenn man einen unendlichen Zeitraum betrachtet, dann ist die Gegenwart doch unendlich klein."
"Die Gegenwart ist immer unendlich klein, egal, was für einen Zeitraum man betrachtet."
Er hob die Hand, um die Kellnerin an ihren Tisch zu locken, bestellte dann zwei Croissants.
"Es ist nur... Alles ist so schön", fuhr Joel fort. " An Tagen wie diesem, weißt du, sieht man, wie... kurz und klein alles ist im Vergleich zur Ewigkeit und zur Unendlichkeit. Wir haben nur so wenig Zeit, um die kleinen Dinge zu tun... und keine Zeit, etwas Großes zu bewirken. Das stimmt einen doch traurig, nicht?"
Marcus hob die Schultern und legte seine Zigarette beiseite, als die Hörnchen gebracht wurden.
"Du hast Recht. Alles endet. Irgendwann. Und wir sind zu unbedeutend, um etwas daran zu ändern. Das ist der Lauf der Dinge. Aber..."
Joel griff nach seinem Croissant. "Aber?"
"Nun, wir können zwar nichts daran ändern, dass irgendwann alles vorbei ist. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir wissen, dass die Sonne nicht um uns kreist. Wir wissen, dass das Universum aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann einmal implodieren wird, und wir wissen sicher, dass schon lange zuvor unsere Sonne erloschen ist. Aber vielleicht sollten wir versuchen, etwas an den Dingen zu ändern, die bis dahin geschehen."
Joel spülte sein Croissant mit einem Schluck Kaffee herunter, bevor er einwarf:
"Wir sind nur kleine Räder in einem riesigen Getriebe, das wissen wir doch auch. Was können wir schon ändern..."
Marcus hob die Schultern. "Ich weiß nicht. Aber ist dir nicht einmal der Gedanke gekommen, dass schon kleinste Gesten... ein freundliches Lächeln... ein Aufschrei in der stummen Menge... alles verändern könnten? Und selbst, wenn es nicht so wäre... wollen wir das Risiko eingehen und resignieren?" Er wies auf den Park, die Stadt die in goldenes Sonnenlicht getaucht war, bevor er fortfuhr.
"Ist es nicht das Leben wert, dass wir uns versuchen, es ein klein wenig besser zu machen?"
Joel nickte stumm. Dem hatte er nichts hinzuzufügen.
Sie zahlten und gingen schließlich.
Und das Ende war tatsächlich gleich. Das Wo, das Wann und das Warum waren nicht entscheidend, aber es war eine Tatsache, dass es passierte. Es gab vielleicht Schreie, vielleicht nur das Schweigen danach. Und kein Vogel sang mehr, und die spröde Erde war kahl. Einzig eine verkohlte Eibe, deren Zweige sich gen Himmel reckten, um nach den Sternen zu greifen, zierte die Landschaft mit ihrer bedauernswerten Anwesenheit. An ihr hingen noch einige baumelnde Glieder einer Kette, die viele Kinder lachen und einige weinen gehört hatte. Das verbrannte Gewebe eines Pinguins, der Tränen getrocknet hatte. Und die vage Erinnerung an Zeiten, die nicht verschwendet worden waren. Und irgendwie war all das furchtbar tröstlich und wunderschön. Und am Fuße der Eibe ein kleines Metallkästchen, aus dessen geöffnetem Deckel ein unleserlicher Zettel hing, auf den von Kinderhand geschrieben war: "und alles besser zu machen."
Und die Erde war spröd und leer, und einzig eine Eibe, deren Zweige sich gen Himmel reckten, um nach den Sternen zu greifen zierte die Landschaft, und winzige Dinge, unwichtige Details und kleine Gesten, die dem gesunden Menschenverstand zufolge nicht in der Lage waren etwas zu verändern, berichteten von vergangenen Zeiten. Und es war gut.