Treuer Freund
Seine Familie, alle Freunde und die meisten Feinde waren tot. Er hatte gehofft, jetzt, dem Ziel zum Greifen nahe, würde er sowas wie Frieden fühlen. Dem war nicht so.
Levio nippte an seinem Wein, und sah auf seine Stadt herab, die sich unter ihm befand. Lichter glitzerten in der warmen Sommernacht, wie Tausende von Sternen. Es war ein schöner Anblick, aber er empfand nichts derartiges. Seine Gefühle waren wie ausgebrannt. Er empfand nichts mehr. Nein, das wäre gelogen, dachte er. Zorn, davon besaß er noch reichlich. Er ließ ihn weiterleben, gab ihm einen Lebenszweck und bestimmte seinen Weg.
Er trank das Glas mit einem Schluck leer. Wenn er genug trank, konnte er der Welt und den Träumen für einen Augenblick entrinnen.
Jemand betrat den Raum und Levio hoffte, dass es einer der zahllosen Diener in seinem Palast war, der eine neue Karaffe mitbrachte. Er wandte den Blick von der Stadt ab und sah in das von Kerzenschein erhellte Innere hinein. Vor ihm befand sich ein Kurier, den er an dessen Kleidung erkannte. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und streckte ihm einen hölzernen Kasten entgegen, der offensichtlich eine wichtige Nachricht enthielt. Levio griff danach und entließ den Mann.
Wer würde ihn zu dieser späten Stunde noch behelligen? Er nahm an den prachtvollen Tisch Platz, entrollte das Papier und begann zu lesen.
Wenn du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich vermutlich nicht mehr am Leben. Diese Zeilen niederzuschreiben beunruhigt mich, wie es jeden Menschen beunruhigen würde, der den eigenen Todeszeitpunkt kennt. Für dieses Wissen habe ich nicht gebeten. Aber laß mich das erklären.
Ein blinder Priester im Tempel des Kaleas, kam eines Tages auf mich zu, und bat um Gehör. Ich gewährte ihm diese einfache Bitte, doch bereute diese Entscheidung schon bald. Was er zu sagen hatte, war nicht das was ich erwartete, was niemand erwarten würde.
Der heilige Boden des Tempels rette ihn davor, von meiner Waffe niedergestreckt zu werden. Wutentbrannt verließ ich den Tempel, und hörte noch seine Worte in meinen Ohren. Er prophezeite, ich würde mich gegen meinen einzigen Freund stellen, weil das die einzige Möglichkeit war, ihn vor einem großen Fehler zu bewahren. Doch ich würde bei meinem Vorhaben scheitern und durch seine Hand sterben. Ich konnte und wollte das nicht glauben. Es war nichts weiter als das verrückten Geschwätz eines senilen Greises. Jetzt, Jahre später, weiß ich, dass er die Wahrheit sprach, und nun begreife ich, warum er mir diesen Blick in die Zukunft erlaubte.
Ich erinnere mich noch gut an unsere unbekümmerte Kindheit. Es war eine wunderbare Zeit, alles schien einfach und möglich. Du warst voller Ideen und deinem Vater sehr ähnlich, als du Pläne für die Zukunft deines Landes geschmiedet hast. Ich hatte keine Zweifel, dass du ein guter und gerechter Herrscher geworden wärst. Wäre nicht dieser schicksalhafte Tag, der mit einem Mal alles veränderte. Ich verfluche diejenigen, die für den Tod deiner Familie verantwortlich waren und hoffe, ihre Seelen brennen ewig in den Feuern der Hölle. Es war eine feige und hinterhältige Tat.
Plötzlich warst du alleine, deiner Familie beraubt, das einzige noch lebende Mitglied entstammt einer langen Linie von Regenten. Doch deine Feinde sind bei ihrem Vorhaben, die ganze Sippe mit einem Schlag auszulöschen, gescheitert. Dieser Fehler war ihr Untergang. Ich verstand dein Bedürfniss nach Rache und unterstützte dich nach besten Kräften, auch wenn das deine Familie nicht zurückbringen würde. Aber es war dein Recht.
Damals erschien es mir richtig, aber heute denke ich anders darüber. Es ist Wahnsinn ein ganzes Volk für die Taten einiger Wenigen zu bestrafen. Du hast die Schuldigen gefunden und hinrichten lassen, aber das schien dir nicht genug, du warst nicht mehr aufzuhalten. Etwas geschah mir dir. Ich kann nicht sagen, was es war, vielleicht der Schmerz über den Verlust deiner Eltern, den du nie überwunden hast. Was auch immer dafür verantwortlich war, es hat dich verändert, und aus einem Freund wurde plötzlich ein Fremder.
Ich nutzte meine letzte Chance dich zur Vernunft zu bringen, flehte um Gnade für die vielen unschuldigen Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, einem fehlgeleiteten Herrscher zu dienen. Ich ersinne mich noch deutlich an den darauffolgenden Streit, an die vielen scharfen Worte und unsere gegenseitigen Argumente, aber du warst nicht von deiner Entscheidung abzubringen. Du nanntest mich einen Verräter. Danach hatte ich keine Wahl mehr. Ich mußte dich aufhalten, deshalb stellte ich mich auf die Seite des Feindes. Die Prophezeiung hatte begonnen.
Die folgenden Jahre waren für uns beide nicht einfach. Der Krieg war schrecklich und forderte viele Opfer. Ich sehe ein, dass ich deinem Zorn und der Macht deiner Armee nichts entgegensetzen kann. Die unbedeutenden Siege, die ich errang, hatten keinen Einfluß auf den Ausgang des Krieges. Sie verzögerten nur das Unvermeidliche.
Nun schreibe ich diese Worte am Vorabend der Schlacht, von der ich weiß, dass es meine Letzte sein wird. Später wird man mich in Ketten legen und du wirst über mich richten. Das Urteil bedeutet meinen Tod, doch ich verspüre keine Angst. Denn ich weiss, dass ich bei meinem Vorhaben nicht gescheitert bin. Du fragst dich vermutlich, wie das möglich sein. Ich bin voller Trauer und schäme mich zugleich über eine schändliche Tat an meinem einstigen Freund, doch du hast mir keine andere Wahl gelassen. Dank des alten Priesters hatte ich viele Jahre, um mich auf diesen Moment vorzubereiten.
Während du diese Zeilen liest, hast du ein tödliches Gift, das man in das Papier imprägnieren ließ, über deine Finger aufgenommen. Es gibt kein Gegenmittel. Es tut mir leid, dass es auf diese Weise enden muss. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.
Nennos
Der Brief entglitt Levios Händen. Er richtete sich auf und ging langsam zum Fenster hinüber. Dort angekommen, liess er sich in einem bequemen Stuhl nieder und sah zum Himmel. Er bewunderte den Glanz der Sterne, bis sich Dunkelheit über ihn senkte. Seine letzten Gedanken galten seiner Familie und Freunden, die er bald wiedersehen würde.