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Trip
Es ist bald Mitternacht. Ich komme von der Feier meiner Freundin. Sie hat sich betrunken. Alle haben sich betrunken. Die Musik war immer lauter geworden und ich stand mitten in einem Haufen von Idioten. Die Kerle waren völlig zu und die Mädchen tanzten mit ihnen, wenn sie nicht gerade über dem Fensterbrett hingen und kotzten. Ein Jammer, nicht dabei sein zu können. Aber das sind halt wir. Ich bin dieses kleine Dorfmädchen das sich gerne mal selbst abschießt, weil es einfach keine Alternativen sieht. Das soll keine Anklage sein - ich kann mich bloß nicht so richtig leiden. Stell dir vor und du guckst in den Spiegel, siehst aber immer eine andere Person, die ich unter anderem ausmacht. Heute Abend wäre es diese aggressive, dumme Göre, die sich einen hinter den Durst kippt und genervt von einer Party flieht. Vielleicht jammert diese Göre zuviel. Vermutlich lasse ich mich zu sehr von ihr bestimmen. So schlecht geht es mir doch eigentlich gar nicht. Bis auf die Tatsache, dass ich jetzt laufen muss.
Denn eine andere Freundin von mir schläft gerade ihren Rausch aus. Ich bin mit ihr dahin gefahren, sie bleibt zurück und ich kann nicht fahren. Für ein Taxi bin ich zu geizig. Drei Kilometer auf gerader Linie sollte man schaffen. Aber auch ich bin ein wenig angetrunken. Habe Probleme mit dem Laufen und bin auf den falschen Weg gekommen. Das darf nicht noch einmal passieren. Es ist noch früh, aber ich bin mitten in der deutschen Pampa, wo niemand wohnt. Wald umgibt mich, ich weiß nicht mehr, wo mein Haus ist. Tiere rascheln im Gebüsch, hoffentlich sind es Tiere. Keine Autos. Keine Leute. Nur der Geruch von Moos und Wald. Ein zerplatzter Kürbis liegt auf der Straße und grinst mich mit dem Rest seines Gesichtes dumm an. Der Schleim sieht aus wie Gehirnmasse. Wütend trete ich dagegen. Was ein beschissener Abend. Wieso liegt hier überhaupt ein Relikt von Halloween, ohne dass hier jemand Halloween gefeiert hätte? Erleichterung überkommt mich. Ein Haus, alt und vergammelt, steht ein paar hundert Meter vor mir. Ich blicke mich um. Ich kann noch Stunden weiter umherirren. Die Alternative allerdings ist das Betreten dieses offenbar verlassenen Hauses, um dort zu übernachten. Was würden meine Eltern sagen, wenn ich um die Uhrzeit zu Fuß und angetrunken von einer Feier komme? Was würden sie sagen, wenn ich ausgeschlafen von einer Freundin komme, die mir einen Platz zum Übernachten geboten hat? Die beiden Szenarien sind rasch durchgespielt. Ein kalter Windhauch umstreift meine nackten Beine. Ich gehe auf das Haus zu. Die vielen Bäume weichen einer nackten Fläche aus Erde. Flach. Und leer. Ich erklimme die Steintreppe und gehe auf der Veranda umher. Kein Laut. Kein Licht. Die Tür ist geöffnet, quietscht im kalten Wind. Ich schiebe das Holz vorsichtig von mir weg und betrete das Haus. „Hallo? Ist jemand da?“ Keine Antwort. Der Boden ist leer, ein paar alte Stühle stehen herum. Ich gehe in das Zimmer nebenan. Ein ausgefegter Kamin steht vor mir. In solchen Häusern findet man blaue Blumen oder Material für den Schrottplatz. Aber keine Einwohner, sage ich mir. Ich lege die Handtasche ab und blicke umher. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Mondlose Nacht. Es ist schwierig, etwas zu sehen. Aber man kann die Kälte fühlen. Sie durchdringt meinen Körper. Ein Fenster ist kaputt. Es ist zu kalt, als dass man hier übernachten könnte. Ich gehe in Richtung Tür. Doch auf einmal knarrt der Boden hinter mir.
„Was machst du hier?“Ich bin verwirrt. Man spricht mich mit „Sie“ an. Ich bin 17. „Entschuldigung dass ich sie so überfalle, aber ich habe gerufen, ob jemand da ist.“
„Beantworte meine Frage, Fräulein“ Eine alte Frau tritt aus der Dunkelheit. Auf ihren Armen lungert eine schwarze, dürre Katze. Die Frau sieht fertig aus. Viele Falten und Pickel. Abgetragene Kleidung aus dem letzten Jahrtausend.
„Ich bin auf der Suche nach einem Schlafplatz für heute Nacht.“ Ich könnte mich selbst schlagen. Einfach aus der Tür rausgehen und nicht zurückblicken. Doch ich muss immer höflich sein. Die Frau blickt mir lange ins Gesicht.
„Komm in die Küche. Ich gebe dir erst etwas zu essen.“Ich wage nicht, zu widersprechen. Wir gehen in die Küche und setzen uns an den Tisch. In einer Schüssel liegt Brot. Sie zeigt darauf und aus Angst nehme ich ein kleines Stück. „Ich dachte, hier lebt niemand.“
„Ich verkaufe das Haus bald. Die Möbel sind schon alle in meiner neuen Wohnung.“
„Wieso wollen sie hier nicht bleiben?“
Die Frau guckt mich ernst an. Sie ist älter, als ich gedacht habe. Doch ihre Pickel sind riesig. Wie bei einer Dreizehnjährigen rot und weiß, ihr Gesicht ist eine Landschaft von hässlichen Ausbeulungen.
„Man will mich hier nicht haben.“
Ich bin überrascht.
„Wer will sie hier nicht haben. Hier lebt doch niemand“
„Wenn du wüsstest …“
Sie argumentiert nicht, sie schweigt. Ich beiße in das Stück Brot. Es ist widerlich. Ich öffne meine Strickjacke. Die Frau blickt sofort auf mein Kreuz. Es hängt da, klein und nicht gerade auffällig.
„Christin?“, fragt sie interessiert.
„Ja.“
„Aus eigenem Willen?“
„Ich weiß es nicht. Jeder in der Familie ist Christ. Ich kenne nichts anderes.“
Sie schnaubt verächtlich. Blickt auf die Katze und streicht hektisch über ihr Fell.
„Leben sie alleine hier?“
Die Frau zeigt stumm auf ihre Katze.
„Hast du schon einmal was von Hexen gehört?“, fragt sie auf einmal.
Ich schaue sie verwirrt an.
„Hexen“, wiederholt sie.
„Die ganz normalen Hexen.“
Ich beiße von dem Brot ab und blicke an die Wand, als ob ich darüber nachdenken würde.
„Ein wenig. Ganz normale Frauen, die ohne besonderen Gründe verbrannt wurden.“
„So normal nun auch nicht.“
„Warum?“
„Hast du eine Ahnung, was so eine Hexe ausmacht?“
„Nein“
Ich blicke sie an. Ihre Augen funkeln und es scheint, als ob sie seit Ewigkeiten um Hexen kreisen würde, alleine, mit ihrer Katze. Sie ist so feurig und aggressiv, dass es mir Angst macht. Eine Frau, die sich seit Jahren hier alleine einschließt und immer mal umziehen will, aber in einer Jahrhunderte Jahre alte Thematik stecken bleibt. Sie öffnet den Mund und holt tief Luft. Ich sehe ihre gelben, vergilbten Zähne. Ihre Art zeugt von einer inneren Verkrampftheit, die diese Frau zu einer Bombe macht. Und ich bin mir nicht sicher wer, aber irgendjemand schreit auf mich herab, dass ich verschwinden solle, rennen, solange es noch möglich ist.
„Hören sie -“
„Es wird Zeit, dass du jetzt gehst“, sagt sie auf einmal.
Steht auf und weist in Richtung Tür.
„Was?“
„Du sollst gehen. Du siehst doch, dass ich keinen Schlafplatz hier habe.“
„Aber sie haben mir doch -“
„Ich habe gar nichts. Geh jetzt.“
Ich blicke ihr ins Gesicht. Ich bin wütend. Sie scheint es auch zu sein. Ihr Blick durchbohrt mich. Doch der Alkohol wirkt zu stark, als dass ich Angst vor der Frau haben könnte. Ich schieße in die Höhe, nehme meine Tasche und trete aus der Tür.
„Frohes Halloween, dumme Kuh!“,
rufe ich im Hinausgehen. Soll diese Frau doch elendig verrecken. Von ihrer eigenen Katze zerfleischt werden. Meine Angst wandelt sich in Wut, eigentlich bin ich froh, von diesem Ort wegzukommen, doch andererseits war der Auftritt dieser Frau respektlos. Ich gehe über den leeren Boden. Braune, feuchte Erde saugt sich an meinen Schuhen fest. Mein Magen grummelt. Ich blicke zum Haus zurück. Die Frau steht noch am Fenster. Streichelt ihre Katze. Ich blicke wieder auf den Weg. Es ist schwierig, geradeaus zu laufen. Mein Magen scheint sich aufzufressen. Ich komme an die Straße und blicke mich nach Autos um. Nichts. Hoffentlich werde ich in ein oder zwei Stunden zu Hause sein. Ich gehe den Weg, den ich gekommen bin. Mein zu Hause liegt sicher nicht in der Nähe von dem der alten Frau. Das hätte ich schon einmal gesehen. Ich gehe und gehe. Nach einer Dreiviertelstunde komme ich wieder vor dem Haus an. Was soll das? Ich bin im Kreis gelaufen, obwohl ich nirgends abgebogen bin. Und in der Ferne meine ich, eine graue Gestalt am Fenster sehen zu können. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich gehe in die Knie. Spucke. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kotze ich. Laut und lange. Zum Glück guckt kein normaler Mensch zu. Die rote Verfärbung wundert mich. Ich kotze weiter, das muss am Alkohol liegen. So hilflos. So kalt. Ich gehe weiter und nach fünf Minuten stehe ich wieder vor dem Haus und sehe in dem Fenster immer noch eine graue Gestalt stehen. Zur Hölle mit ihr! Ich schleppe mich über den braunen Boden, doch das Haus kommt nicht näher, es entfernt sich. Es muss eine Stunde vergangen sein, dann bleibe ich stehen. Drehe mich um. Hinter mir liegt Erbrochenes in unglaublichen Mengen, doch nur in einer Entfernung von bis zu drei Meter. War ich so langsam? Ich denke an die alte Frau. An das abscheuliche Brot, das ich gegessen habe. Dann mache ich meine Strickjacke auf und nehme mein Kreuz in die Hand. Atme langsam ein und aus. Doch plötzlich durchzuckt mich einstechender Schmerz, meine Synapsen scheinen zu platzen und ich zucke zusammen. Auf dem Boden breche ich weiter vor mich hin und winde mich in einem Schwall von unglaublichen Schmerzen. Langsam verblasst das Bild. Meine Nase ist verstopft und ich kotze Blut. Ersticke. Ich gebe auf. Bleibe liegen. Sehe, dass ich auf dem Asphalt bin und es kein Haus gibt, dass nur ein leerer Feldabschnitt vor mir liegt. Dass keine Hexe sondern eine Göre mich umgebracht hat. Dass ein zerfetzter Kürbis mich immer noch mit seinem sardonischen Grinsen auslacht.
Ich sterbe. Es ist Mitternacht. Frohes Halloween.