Trois
Stefan war 18 und hatte gerade den Führerschein gemacht. Nun saß er vor dem Lenkrad und fuhr eine Landstraße entlang, während seine Mutter auf dem Beifahrersitz schlief. Links und rechts dehnten sich braune und gelbe Felder aus. Stefan konnte seinen allwöchentlichen Spaziergang kaum erwarten. Glücklicherweise erwartete seine Mutter nicht mehr, dass er den gesamten Besuch über anwesend war. Er sollte ihre Tante nur kurz begrüßen, danach durfte er durch die Wälder streifen. Mama und er verstanden sich wirklich – was in seinem Alter keine Selbstverständlichkeit war. Vielleicht waren sie sich deshalb so nah, weil sie nur einander hatten. Sein Vater war vor Jahren gegangen. Wenn Stefan nunmehr an ihn dachte, spürte er keinen Schmerz war. Noch vor wenigen Wochen hatte er mit Mama darüber gesprochen. Es schien, als könnte er ihr alles erzählen – und doch gab es da etwas, was sie nicht wusste. Er hatte schon oft daran gedacht, es ihr zu eröffnen – denn irgendwann, darüber war er sich vollständig im Klaren, würde der Moment kommen, an dem er es nicht länger verheimlichen könnte. Es war seltsam: Seine Mutter war für ihn der Mensch, den er am besten kannte – und dennoch hatte er keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Sicher, sie war alles andere als konservativ, aber wenn es um das eigene Kind ging… „Sind wir schon da?“ fragte sie. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen erwacht war. „In ein paar Minuten,“ sagte er. Mama gähnte und lehnte sich entspannt zurück. „Jetzt wäre noch Zeit dafür“, dachte er. „Warum sagst du es ihr nicht gleich?“ Stefan fühlte, wie die Spannung von seinem Körper Besitz ergriff. Er wandte den Blick von seiner Mutter ab und starrte geradeaus. Ob sie etwas ahnte? Er konnte nicht mehr darüber nachdenken, denn nun kam das Haus der Tante in den Blick. Wieder war eine Gelegenheit vorüber.
Nachdem Stefan seine Verwandte begrüßt und pflichtschuldig alle Fragen nach der Schule beantwortet hatte, bog er in den Waldweg ein. Er spürte bereits die schattige Kühle und den Duft der wild wachsenden Kräuter. Etwas veranlasste ihn, sich noch einmal umzudrehen. Mama stand an der Türschwelle und lächelte ihm zu. Er winkte zurück. „Würdest du auch dann lächeln“, dachte er , „wenn du es wüsstest?“
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Stefan war 21 und studierte Jus. Nun saß er neben Anna und hielt ihre Hand. Sie hatte große braune Augen und dunkelblondes Haar. Ihre Wangen waren von einem kaum sichtbaren weichen Flaum überzogen. Jedes Mal, wenn er bei ihr war, empfand er das Verlangen, darüber zu streichen. Als er seine Hand über ihr Gesicht gleiten ließ, formte sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln. Der Himmel über ihnen war sommerlich-blau. Stefan dachte, dass er in diesem Moment tatsächlich glücklich war. Und dennoch: Wenn er darüber reflektierte, glücklich zu sein, war er es dann wirklich?
Seit mehr als drei Monaten waren Anna und er nun zusammen. Seine Mutter hatte sie bereits kennen gelernt und schien sie überaus zu mögen. Allerdings wusste sie noch immer nicht, was er vor ihr verbarg. Vor zwei Jahren war Mamas Tante gestorben – ein Ereignis, das sie sehr mitgenommen hatte. In dieser Zeit hätte er sie nicht noch mehr belasten wollen. Und als er sich in Anna verliebte, erübrigte sich jedes Wort – zumindest nahm Stefan dies an. Wie aber stand es mit Anna? War es nicht sinnlos, es ihr zu erzählen? Sein Verstand sagte ihm, dass es das war, doch er konnte ihm nicht zustimmen. Er wollte, dass Anna ihn so liebte, wie er war – mit allem, was zu ihm gehörte. Täte sie das nicht, welchen Sinn hätte ihre Beziehung noch? Oder war dieser Gedanke absurd? Er beschloss, seine Reflexionen abzubrechen, denn sie führten zu nichts. „Schau mal, dieser süße Hund dort vorne!“ rief Anna. Er nickte lächelnd, obwohl er Hunde eigentlich nicht mochte. Auch das wusste Anna noch nicht. Vielleicht war er naiv, aber in seiner Vorstellung sollten Leute, die einander liebten, einander auch in- und auswendig kennen. Wenn er es ihr sagte – würde sie befürchten, er könnte sie verlassen? Konnte sie ihn überhaupt auf diese Weise annehmen? Denk an etwas anderes! Denk an Annas Gesicht… Er rückte näher zu ihr und küsste ihre Nase. Sie lachte und strich nun über seine Wange. „Würdest du mich auch dann streicheln“, dachte er, „wenn du es wüsstest?“
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Stefan war 24 und würde bald sein erstes Gerichtsjahr beginnen. Nun saß er auf einem Baumstamm in jenem Wald, den er schon von seinen früheren Spaziergängen her kannte. Noch immer fuhr er gerne in den Ort, in dem Mamas Tante gewohnt hatte. An diesem Tag war Robert das erste Mal dabei. Er lehnte sich an Stefan und blickte zu den Baumkronen hinauf. „Es gibt doch fast nichts Besseres, als in der Natur zu sein,“ sagte er. „Finde ich auch,“ antwortete Stefan. Robert und er hatten viel gemeinsam – doch nicht alles. Im Grunde genommen war er von Anfang an nicht aufrichtig zu ihm gewesen. Robert dachte, Stefan sei wie er. Einmal hatte er gefragt, warum er sich von seinem früheren Freund getrennt hatte. „Unsere Beziehung ist einfach ausgetrocknet – wie ein Fluss in der Wüste,“ hatte Stefan geantwortet. Das entsprach der Wahrheit. Gegen Ende hatten er und Anna sich nichts mehr zu sagen gehabt. Vielleicht wäre es anders verlaufen, wenn er es Anna anvertraut hätte – wenn er ehrlich gewesen wäre. Vielleicht auch nicht. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn nun gab es Robert. Mama wusste von seiner Existenz, wenngleich sie ihn noch nicht getroffen hatte. Stefan fiel es schwer, ihre Gefühle einzuordnen. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, dass es für sie völlig in Ordnung war, und doch hing sie immer noch an Anna. Immerhin war er überaus froh, dass sie einander nun tatsächlich verstanden. Würde er dasselbe empfinden, wenn Robert es erführe? Dieser Gedanke machte ihn unsicher. Selbst wenn Robert kein Problem darin sähe, würde er fragen: „Warum hast du mir nicht gleich die Wahrheit gesagt?“
Eine Stimme riss ihn zurück in die Realität. „Wo bist du denn gerade?“ wollte Robert wissen.
„Bei dir, wo sonst?“ Er strich durch Roberts feines schwarzes Haar, als wolle er ihn beruhigen. Ihre Gesichter näherten sich einander, bis sich ihre Lippen berührten. „Würdest du mich auch dann küssen“, dachte Stefan, „wenn du es wüsstest?“