Mitglied
- Beitritt
- 10.09.2016
- Beiträge
- 895
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Ulmann der Große
Ein guter Freund aus Berlin hat ihn neulich gesehen. Er hat ihn am Hüsteln erkannt.
„So hustet nur Ulmann Kowicz“, hat er gesagt. „Schon verrückt jemanden am Husten zu erkennen.“ Ich habe aus Höflichkeit mitgelacht und mich gefragt, wie es Ulmann wohl so geht. Nicht dass ich ihn vergessen hätte, wie könnte ich? Ja, ich hatte mit Ulmann gebrochen – hieß aber nicht, dass das unsere Zeit ungeschehen machte. Eine tolle Zeit. Ich habe Ulmann immer für eine Reinkarnation Alexander des Großen gehalten: Völlig größenwahnsinnig, egomanisch und unaufhaltsam.
Wir waren in derselben Klasse. Beide dreizehn und befreundet. Ich hatte diesen frühen Hang, mich für Kriminelle und anders seltsame Menschen zu interessieren. Ulmann war mindestens beides. Sein Bruder Danny war nicht mal fünfzehn, rauchte Bong und hatte im Kleiderschrank eine Graspflanze versteckt. Wie auch immer die dort wuchs. Die beiden lebten mit ihrer Mutter über einem altehrwürdigen Berliner Puff. Die Mutter war Schauspielerin und selten zu Hause. Keine hübsche Schauspielerin, keine bekannte Schauspielerin. Hier und da einen Tatort. Rauchte und trank wie sonst was und hatte das Gesicht einer Großmutter – mit Ende vierzig? Der Vater führte eine Druckerei und war für die gelegentliche Bespaßung seiner Söhne zuständig. Ein ruhiger Typ mit Glupschaugen, der ebenfalls rauchte und trank wie sonst was. Ab und an gingen Ulmann und sein Vater Enten jagen oder solch seltsame Dinge. Ulmann besaß einen achthundert Euro Kompositbogen. Mit dreizehn. Er kiffte Blunts. Mit dreizehn. Er hatte ernstzunehmenden Bartwuchs. Mit dreizehn. Das ist keine Lüge. Das ist Ulmann Kowicz. Und Ulmann Kowicz hatte auch nicht an seinem Alter gedreht, selbst wenn er einen oder mehrere gefälschte Ausweise bei sich trug. Auf seinem Bett, wo ich meinen ersten Joint rauchte, mit dreizehn, bemerkte ich einen langgezogenen, sehr breiten Spuckestreifen. Ich dachte, es wäre ein Spuckestreifen. „Fotzenschleim“, sagte Ulmann. Als seine Mutter reinkam ohne anzuklopfen, schrie er sie an, sie solle sich verpissen, was sie augenblicklich tat. Ich kommentierte das nicht. War feiger Voyeur, stummer Chronist Ulmann des Großen, dem selbstgerechten Sohn des Zeus, der jeden und alles verachtete außer sich selbst und seine Pläne – irgendwie musste ich also schon Teil davon sein. Am nächsten Morgen fuhren wir von Ulmann aus zur Schule. Rauchten noch einen Joint im U-Bahnhof. Zu spät kommen war nie schlimm. Nichts, was Folgen für uns gehabt hätte. Wir gingen so durch. Zwar besaß Ulmann aus verschiedenen Gründen Geld, was er allerdings nicht besaß, war ein Schulranzen. Er trug eine abgenutzte Plastiktüte mit sich, darin ein karierter Block und ein Stift. Ulmann machte keine Hausaufgaben, keine Notizen – außer, jemand hielt ihm eine Pistole auf die Brust. Aber das waren andere als die Lehrer der Oberschulen Berlins. Ulmann verstand mehr von Mathematik als die, die es uns beibringen wollten. Er konnte Aufgaben lösen, ohne jemals die dazugehörige Formel gesehen zu haben. Irgendeinen Weg fand er immer. In Physik und Chemie dasselbe. In Kunst zeichnete er mit Fluchtpunkten, während Mitschüler noch lächelnde Sonnen malten.
Eine Zeit verging. Ich hatte mich von Ulmanns Größenwahn inspirieren lassen und träumte davon, Deejay zu werden und in jedermanns Mittelpunkt zu stehen. Für zwanzig Euro pro Stunde ließ ich mir das Auflegen beibringen. Und ich bekam meine Gelegenheit. Mit ein bisschen Chuzpe sprach ich den Mann hinter der Garderobe eines zwielichtigen und schäbigen Clubs an, der sich nicht allzu sehr für das Alter seiner Gäste interessierte. Der Mann behauptete, Veranstalter zu sein, und meinte, ich solle nächste Woche wiederkommen – was ich auch tat. Dort stellte er mich dem dreißigjährigen und verheirateten DJ Waterman vor. Waterman mochte mich, vielleicht weil er es witzig fand, dass ich vierzehn war und offensichtlich den Mut und vielleicht auch das Zeug hatte, hier mein erstes Geld zu verdienen.
Für mich begann eine Zeit unversteuerter Fünfzigeuroscheine. Waterman schusterte mir alle Gigs zu, die er aufgrund seiner eigenen Auftragslage nicht wahrnehmen konnte. Außerdem legte ich in besagtem, schäbigen Club auf und in einem anderen, der vom selben Veranstalter bespielt wurde. Manchmal fuhr Waterman mich sogar zum Gig. Vielleicht behielt er ja auch etwas Geld für sich. Allerdings glaubte ich, dass er mich, warum auch immer, einfach mochte. Für mich lohnte es sich jedenfalls. Pro Abend waren das oft dreihundert Euro. Das war die Zeit. Kein Spotify, kein Deejay-Überhang. Nur eine Menge Leute, die Bock auf Feiern hatten. Ich kaufte mir teures Deejay-Equipment. Erst die kleinen CDJs von Pioneer, dann die richtig fetten Teile mit zwölf Zentimeter Jogwheel. Ich perfektionierte es Beats anzugleichen und Zusammenhänge in Melodien und Rhythmen aufzuspüren. Nichts, was ich in den Clubs bringen konnte, wo ich unterwegs war. Eine wummernde Basedrum von Len Faki, darüber die bassbereinigten Hi-Hats eines spröden Marcel Dettmanns. Das machte einfach Bock. Zugleich war mir klar, dass nicht ich, sondern andere die Songs produziert hatten und das ärgerte mich. Also begann ich selbst Sequencer-Musik zu machen. Ich klaute mir Tonspuren, kaufte mir ein Tonbandgerät, nahm die Stimmen meiner Freunde auf und Schnitt alles zu ersten halbgaren Eigenproduktionen zusammen. Mit der Zeit wurde ich besser. Einmal legte ich das meinem Publikum auf. Die Gesichter der Tanzenden zeigten mir, dass ich noch einen Weg vor mir hatte. In jeder freien Minute machte ich Musik. Meine liberalen, antiautoritären Eltern störte das kaum. Im Gegenteil. Sie förderten mich, zeigten mir, dass sie stolz darauf waren, dass ich neben der Schule was auf die Beine stellte. Nur was ich von meinen aktuellen Gigs, die mich die Wochenenden kosteten, halten sollte, wusste ich nicht. Weder gefiel mir die Musik – ich hatte die Aufgabe Mashups gängiger Charttitel und Electronic-Klassiker einem halbwegs anspruchslosen Publikum möglichst technisch zwischenfallsarm darzubieten – noch konnte es Gutes verheißen, dass ich mir vor Aufregung vor jedem Gig in irgendeiner schrammeligen Kneipe zwei Bier reinstellte. Die Sache passte nicht ganz zu mir. Das war vielleicht auch der springende Punkt. So ein eigentlich nachdenklicher Typ, für den ich mich zurecht hielt, wollte ich nicht sein. Auch kein Ulmann Kowicz. Aber irgendwas dazwischen.
Ulmann hatte sich quasi aus Versehen den Daumen abgeschnitten, war dabei halb verblutet und verbrachte so sein vierzehntes Lebensjahr zwischen Krankenhaus, Drogenentzugsklinik und betreutem Wohnen. Im Suff hatte er mit seiner Mutter telefoniert, sie beschimpft, das Handy aus dem Fenster geschmissen und vor Wut das Einlegeglas der Küchentür mit der Faust zerschlagen, wobei ihm eine Scherbe den Daumen sauber abgetrennt hatte. Scheinbar war er ohnmächtig geworden, hatte vier Liter Blut verloren und war halbwegs zufällig von seinem Bruder gefunden worden. Vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht gab es etwas, wofür Ulmann sich schämte, ein Detail, das er mir verheimlichte, so wie manch anderes, das ich später über ihn erfuhr. Aber halbwegs stimmig war die Geschichte. Ich besuchte ihn im Krankenhaus. Den Daumen hatten sie annähen können, der schlummerte noch unterm Verband. Wir spielten Schach und als ich Ulmann besiegte, bekam er einen Wutanfall und meinte, ich hätte mit meiner Räubertaktik einfach an jedem rational nachvollziehbaren Zug vorbeigespielt und mir auf diese betrügerische und amateurhafte Weise den Sieg ergaunert. Vielleicht hätte man Alexander den Großen damals auf ähnlich bescheuerte Weise schlagen können. Banalität schien gegen Ulmann eingesetzt so eine Art Wunderwaffe zu sein, was sich Jahre später traurigerweise bewahrheitete.
In Ulmanns Blut waren diverse Opiate gefunden worden. Ich erfuhr, dass er mit dem Handel von Heroinkugeln erwischt worden war und eine BTM-Anzeige am Hals hatte. Die Anekdoten vermengten sich zu etwas, das mir das dringende Gefühl gab, dass Ulmann am Ende war. Was für ein Fehlschluss, was für eine grandiose Unterschätzung. Nach seinem Krankenhausaufenthalt wurde Ulmann in die stationäre Drogentherapie überführt. Ein Jahr lang sollte er im betreuten Wohnen leben. Trotzdem ging er zur Schule und er vertrug sich mit seiner Mutter. Ich besuchte ihn ein, zwei Male und was sollte ich sagen: er war clean, ja, er war wirklich clean.
Während ich Hunderteuroscheine verdiente, kam Ulmann auf den Boden der Tatsachen zurück. Sein Größenwahn blieb, aber hatte nun den Beigeschmack professioneller Geschäftigkeit, wie man sie von einem Manager erwarten würde. Da waren Pläne und gefühlt war ich darin bereits völlig verstrickt. Ulmann wollte nun Partys veranstalten. Ich war ja neuerdings Deejay, also wären wir Partner, legte er fest. Doch zunächst musste er aus dem betreuten Wohnen raus. Langsam ging es ihm wirklich auf den Sack. Er zeigte mir eine Videoaufnahme von einem anderen Patienten, den sie ‚The Maggot‘ nannten. Ein shizophrener Metaller, der seinen Kopf zum Spaß hundertmal auf eine Tischplatte schlug und der in manischen Phasen davon sprach, am liebsten einen Kindergarten abzufackeln. Selbst für Ulmann war das auf Dauer nicht der richtige Umgang. Am Tag seiner Entlassung – einem Sonntag – kam er spontan zum Essen bei uns vorbei. Es gab Coq au vin und hinterher stand ich mit meiner Mutter auf der Terrasse. Es regnete und sie rauchte, wir schauten in den Garten und dann fragte sie: „War der eigentlich völlig dicht?“
„Nee, nee“, sagte ich schnell. „Ulmann ist doch jetzt clean.“
Ulmann war jetzt eine Mischung aus clean und GHB-abhängig. Das waren KO-Tropfen, die leicht zu bekommen waren und in der richtigen Dosis angenehm besoffen machten. Er machte seine Versprechen wahr. Wir waren jetzt eine Party-Crew, auch wenn wir noch keine einzige Party gemacht hatten. Mittlerweile hörte ich nur noch Techno. Das Zeug aus den Ramsch-Clubs, in denen ich auflegte, hing mir zum Hals raus. Außerdem hatte ich alles, was ich mir von Geld hatte kaufen wollen und noch einen Tausender auf der Bank. Das Timing stimmte also. Wir waren wieder synchron.
Für achttausend Euro kaufte Ulmann eine Musikanlage. Damit war für mich der Moment gekommen, ihn nach seinen finanziellen Verhältnissen zu fragen. Seine Version der Geschichte, die sich in großen Teilen bestätigen ließ, konzentrierte sich auf eine reiche Großmutter, die ihm allen möglichen Scheiß finanzierte. Warum war sie reich? Nun, Ulmanns Großvater schien ein berühmter Immunologe gewesen zu sein, nach dem sogar ein kleines Haus auf dem Campus der Freien Universität benannt worden war. Ein, zwei relevante Patente hatten gereicht, um seine nunmehr verwitwete Frau zu einer Millionärin zu machen, die überdies eine Schwäche für ihren vielversprechenden und eigenartig frühreifen Enkel hatte. Zu Ulmanns Freunden, von denen ich wenig wusste, zählten allerlei Nachwuchsberühmtheiten – und wer selbst nichts konnte, hatte zumindest interessante Eltern. So holten wir uns einen Dritten ins Boot. Sein Spitzname war Stone und Stones Vater war Besitzer diverser Berliner Clubs. Der Vater wurde so etwas wie Ulmanns Vorbild und Ulmann so etwas wie sein Protegé. Mit Stones Vater hatten wir jemanden gefunden, von dem wir immer Unterstützung erhalten konnten, den wir immer wegen irgendeinem Scheiß anpumpten, der einfach nur wollte, dass sein Sohn mit Ulmann abhing.
Unsere ersten Partys waren Open Airs. Ein Rave im Tiergarten an der Siegessäule, ein Rave in der Hasenheide, ein Rave am Sterndamm und am Möhnesee – so spielten wir uns ein. Immer wenn Ulmann anrief, wusste ich, dass er was ausgeheckt hatte. „Wir machen am Wochenende einen Rave. Du bist der Mainact.“ Schon das hatte was Rauschhaftes. Du wirst von Alexander dem Großen angerufen und erfährst, dass er dich und niemand anderen zum General seiner nächsten Schlacht ernennt. Dass du in Wirklichkeit einfach nur die erstbeste Person in Reichweite warst, das umsonst machtest und selten unangenehme Fragen stelltest – das ist der Teil der Geschichte, den man sich weniger gern erzählt. Ulmann behandelte mich wie einen Prinzen, wie seinen ersten Mann. Natürlich gab es immer ein symbolisches bisschen Geld, Freigetränke und alle erdenklichen Schmeicheleien und Bekanntschaften. Mittlerweile kamen bis zu tausend Leute zu den Raves. Das Gefühl vor so vielen Menschen extatische Musik aufzulegen und dabei den Funken überspringen zu fühlen, entzieht sich für einen, der nie zu krassen Drogen gegriffen hat, dem offensichtlichsten Vergleich. Es war immer wie ein erster Kuss, ein erstes Mal, ein geiler Sprung in den Abgrund mit Gänsehaut am ganzen Körper.
Wie fange ich an? Klar, ein Klassiker, Joss Moog. Wir gehen das ganz langsam an. Da kommen ja schon die Leute. "Hey bring mir mal eine Mate!" – jetzt ein bisschen was Heftigeres. Langsam werden die warm. Was für ein geiler Ort ist das eigentlich? Da ist Ulmann. "Danke, geil, dass es dir gefällt. Wer spielt denn heute alles noch? Geil!" Dann dieser Moment, wenn du den falschen Song erwischst und die Leute den Track nicht feiern und du, um ehrlich zu sein, auch nicht. Du willst ihn canceln, aber das geht jetzt nicht. Viel zu langer Break. Du musst ihn irgendwie abwürgen. Auf einmal hast du nur scheiß Tracks dabei. Was bist du für ein Versager? Nein, Moment. Das ist der Track. Oh ja, den werden sie lieben. Oh ja, Oh ja. "Bring mir mal bitte ein Bier!" Geil, jetzt läuft es. Jetzt passt mal auf. Den nächsten Song werdet ihr nicht überleben. Das Ding brettert euch runter. Das werdet ihr nicht überleben. Oh nein. Wie krass, wie absolut krass. Und dann stehen die 'Experten' vorne bei dir, wollen hinters Pult, finden deinen Sound geil, fragen dich nach 'Track-ID', wollen wissen, wo du noch auflegst oder ob du mal bei ihnen spielst. Und die Leute rasten aus und du hast es gar nicht nötig zu antworten. Du steigst auf und wirst eins mit diesem Gefühl. Du musst gar nichts tun, du hast schon alles getan. Du hast den Vibe gespürt, du bist es. Du bist das Zahnrad der Zeit.
So ging das drei, vier Jahre lang. Unvorstellbar eigentlich. Wir waren nicht nur die glücklichste Generation, wir nutzten dieses Privileg vollkommen aus. Freiheit und Sorglosigkeit auf den Fahnen – und wir hatten es uns nicht selbst draufgeschrieben. Kein Krieg, keine Schulden, keine deutsch-deutsche Teilung – nur ein riesiger Tisch voller Geschenke. Ulmann eroberte sich Stück um Stück seinen Drogenkonsum zurück. Mittlerweile nahm jeder Keta, Emma und Co. – warum nicht auch Ulmann? Nur von Gras hatte er seit dem Entzug die Finger gelassen. Vielleicht machte ihn das zu behäbig. Jedenfalls konnte auch ich mir keinen kiffenden Ulmann mehr vorstellen. Wir beide und sowieso alle hatten sich verwandelt wie die Motten und langsam nahm irgendwer häufiger das Wort Abitur in den Mund und im nächsten Moment hielten wir unsere mittelmäßig bis schlechten Zeugnisse in der Hand. Wir hatten eh nicht vor, einen dieser Scheißberufe zu wählen, für den man eine Zensur auf einem Blatt Papier vorzuweisen hatte – wer wollte denn drei Jahre BWL studieren, Mitte zwanzig werden und jede Chance auf den großen Preis verspielt haben – den wir aus unserer Sicht ohnehin seit ein paar Jahren quasi in Händen hielten. Trotzdem war das eine Zeit von Umbrüchen. Ein guter Freund von mir bekam eine schwere Krebsdiagnose. Hirntumor mit neunzehn. Kein Tränendrüsen-Klischee für die besonders emotionale Story, einfach eine traurige Wahrheit. Er war ein Techno-Nerd wie ich. Wir hatten uns bei Kleinanzeigen einen Atari mit Cubase gekauft und Blechmucke gemacht wie Anfang der Neunziger. Samuel war einer der coolsten Typen, die ich je kennengelernt hatte, und ich wusste, ich würde ihn vermissen, denn Hirnkrebs war nichts für Teenager.
In dieser Zeit war ich ziemlich unglücklich verliebt in meine Freundin. Ich hatte extreme Minderwertigkeitskomplexe und immer das Gefühl, ihrer nicht würdig zu sein. Entsprechend eifersüchtig und beschissen verhielt ich mich ihr gegenüber. Irgendwie wollte ich sie besitzen, wollte sie sein und nicht so ein gefühlter Hochstapler und Kack-Deejay, der ich war. Nach dem Abi arbeitete ich auf einem Friedhof mit einem netten Typ namens Hauke. Das ist eine Geschichte, die man nachlesen kann. Habe ich irgendwann mal aufgeschrieben. Danach hatte ich jedenfalls genug Geld zusammen, um mit meiner Freundin einen riesigen Roadtrip zu veranstalten. Wir setzten nach England über, fuhren durch Schottland, reisten nach Island und wieder zurück. Als wir in den Niederlanden waren, bekam ich einen Anruf von Ulmann. Er machte mir verständlich, dass ich Ende des Monats bei unserem größten Rave überhaupt in einer stillgelegten Brauerei auflegen würde. Ich wusste, ich hatte keine Wahl. Ida wollte weiter, vielleicht noch ein paar Monate reisen. An einer Autoraststelle erklärte ich ihr, dass ich mich für den Rave entschieden hatte. Ida weinte und sagte, dass sie vielleicht ein paar Reisen alleine machen müsste und irgendwie war klar, dass diese Aussage – auch wenn die Worte nicht passten – einen Schlusspunkt darstellte. Auch ich weinte, weil ich Ida logisch nicht verlieren wollte. Aber was sollte ich tun? Zu verpassen, was Ulmann da vorhatte, glaubte ich mir künftig noch viel weniger verzeihen zu können.
Wir kehrten nach Berlin zurück. Ida bestellte Flugtickets nach Indien. Nicht für uns. Für sich und ihre beste Freundin. Indes begannen die Arbeiten in der alten Brauerei. Das war ein riesiges Gelände mit Klinkergebäuden im Osten der Stadt. Wir trafen Schrottsammler und Ruinen-Touristen. Den übrigen Monat lang schufteten wir, um die modrigen und zugemüllten Räume herzurichten. Es gab mittlerweile so viele, die mitmachen wollten. Ulmann der Große hatte es geschafft, ein Heer aus Freiwilligen um sich zu scharen. Leute, die zuvor noch nie in den zweifelhaften Genuss gekommen waren, an den Lippen eines Halbgottes oder -satans gehangen zu haben.
Der Abend der Party selbst zeigte mir, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Guides holten kleinere Gruppen von Besuchern am S-Bahnhof ab und brachten sie über verschiedene Wege aufs Gelände. Es folgte eine Belehrung zu beinbrecherisch tiefen Schlaglöchern, dem Verbot aufs Dach zu steigen oder außerhalb des Geländes Aufmerksamkeit zu erregen. An diesem Abend legte ein bekannter Deejay aus dem Umfeld der Loveparade bei uns auf. Die Primetime hatte Ulmann aber für mich reserviert. Der Abend war krass. Viele stiegen aufs Dach, traten in Schlaglöcher und tanzten bis zur Besinnungslosigkeit. Irgendwer wunderte sich irgendwann darüber, dass die Leute an der Bar immer schläfriger wurden und als Stones Vater, aus Interesse an der Veranstaltung gekommen, es geschafft hatte, durch die Menschenmengen auf den Korridoren bis hinter die Bar vorzudringen, packte er Ulmann am Kragen und schrie ihn an, er solle sofort, augenblicklich, unverzüglich alle Leute auf den Innenhof schicken. Wäre Stones Vater nicht dagewesen, der Abend hätte sicher nicht allzu gut geendet. Irgendein Idiot, wahrscheinlich Ulmann selbst, war auf die bescheuerte Idee gekommen, die benzinbetriebenen Generatoren in den geschlossenen Räumlichkeiten unterzubringen. In wahnsinnigen zehn Minuten standen an die tausend Leute auf dem Innenhof der Brauerei in der warmen Sommernacht und überall glommen Zigaretten und Joints wie fette Glühwürmchen. Um Haaresbreite hätten wir uns mit dem Kohlenmonoxid der Abgase hingerichtet. Und wenn es nur einer gewesen wäre. Der hätte gereicht, um uns alle lebenslang mit Schuld zu beladen. Vier Stunden später wurde die Party am Höhepunkt von Rausch und Exzess beendet. Schweißkondensat tropfte von den zehn Meter hohen Hallendecken auf die Schirmmützen der Polizei. Wie immer fand sich leider kein Schuldiger. Eine aus den Fugen geratene Facebook-Party – das akzeptierte damals noch jedes Schwein.
Unterm Strich war das eine extrem gelungene Party – für mich aber vorerst die letzte. Ich wollte jetzt etwas anfangen mit meinem Leben. Nach einem schlechten Trip auf Space-Cookies und ein paar ernstzunehmenden Panikattacken sehnte ich mich nach etwas anderem. Man konnte sagen, ich hatte mein Ding gefunden und jetzt, wo dieses Ding eine Arbeit mit berufsspezifischen Begleiterscheinungen werden sollte, hatte ich keinen Bock mehr drauf. Ida hatte überdies angefangen zu studieren und als leicht beeinflussbarer, zwanzigjähriger Selbstfindungssucher wollte ich schleunigst dasselbe tun, um bloß nicht den Anschluss zu verpassen. Ganz nebenbei zog ich nach München und nicht nur meine Freundin, sondern auch Ulmann rückten fern.
Es lässt sich nur im Nachhinein rekonstruieren – das alles ist nichts, was ich zu diesem Zeitpunkt wirklich wusste: Ich glaube auf eine esoterische Weise, dass Ulmann am Tag, als ich nach München zog, seinen Elan verlor. Wie ein Symbiont ohne Wirt oder umgekehrt. Ein Mal noch kam er nach München, um mich zu besuchen und sich Geld zu borgen. In den letzten Jahren unserer Beziehungen hatte er mich, was das Geld anbelangte, immer wieder über den Tisch gezogen. Ich war sozusagen schon daran gewöhnt und nicht sonderlich überrascht, wenn er damit ankam. Selbstverständlich hatten die Partys Geld abgeworfen. Gäste waren bereit gewesen, fünf Euro für eine kriminelle und geile Nacht zu bezahlen. Bei einer Party im Monat war da ziemlich was rumgekommen, auch wenn der Schatzmeister, Ulmann selbst, entgegen jeder Sachlogik das Gegenteil behauptete. Vielleicht tausend Euro war er mir schuldig geblieben und trotzdem scheute er sich nicht, mich anzupumpen. Alles was ich ihm zahlte, war sein Rückticket, und ich beschloss auch, dass unsere Zeit zu Ende war.
Noch einmal belehrte Ulmann mich eines Besseren. Eine Party noch. In der Radarstation auf dem Teufelsberg, der damals um Pächter warb. Ulmanns vielleicht letztes Ding. Von alten Freunden erfuhr ich, dass er seit einiger Zeit mit GHB handelte. Hätte er mir selbst sicher nicht erzählt. Ich begann an vielen Geschichten oder viel mehr seinen Versionen davon zu zweifeln. Einen Freund nannte ich Ulmann längst nicht mehr. Er hatte ein Physikstudium begonnen und nach schnell eintretender Langeweile, so erzählte er das, wieder beendet. Jetzt erschien er mir wie jemand, der den Absprung nicht geschafft, der das geworden war, wovor ich Angst gehabt hatte. Ein Feldherr ohne Heer. Auf einmal studierten alle, hatten Besseres zu tun oder gingen auf andere Partys, die in Berlin nur so aus den Ritzen der Pflastersteine sprossen. Ulmann entwickelte sich zu einem Typen, der im kulturellen Gedächtnis aller Freundeskreise existierte und doch zu einer Person verkommen war, die man neulich mal wieder irgendwo hatte husten hören. Lange Zeit erwähnte niemand, den ich kannte, seinen Namen, niemand würde seine Geschichte erzählen oder erzählt bekommen und am Ende wäre es so, als hätte das alles überhaupt nie existiert.
Als der gute Freund aus Berlin mir also erzählt hat, er habe ihn am Husten erkannt, habe ich mich auch ein bisschen geärgert. Das ist bei Ulmann wirklich nicht, woran man zu erst denken sollte. Ulmanns Husten ist sogar ein so unwichtiges Detail, dass ich es, wenn ich von Ulmann spreche, überhaupt nie erwähne. Was soll man schon von einem erwarten, der mit zwölf anfing zu rauchen, sich einen Finger abschnitt und in der Drogentherapie mit vielleicht vierzehn beschloss, so eine Art Party-Heiliger zu werden? Da gibt es doch andere Details. So viele eigentlich, dass man gar nicht alles erzählen kann und auch nicht braucht. Das Wichtige ist ja was anderes.
Ich frage mich, ob wir tatsächlich so etwas wie Symbionten waren oder ob ich für ihn in Wirklichkeit gar keine Rolle spielte. Und wenn doch: Warum eigentlich ich? Kann sich das Schicksal zweier Menschen ab einem Punkt miteinander verbinden? Bin ich am Ende Schuld am Untergang von Ulmann dem Großen? Habe ich mich zu früh der Langeweile hingegeben und mich so dem naiven Irrsinn jener Zeit verschlossen?
Ich habe ihm eine Nachricht auf Facebook geschrieben. Er hat geantwortet und so clean geklungen wie damals, als sie ihn aus dem betreuten Wohnen entließen. Eine Nummer, eine Einladung zum Biertrinken. Ein Tropfen Wasser und da wüchse wieder was. Aber warum will ich das nicht? Ist die Zeit wirklich vorbei oder bin ich nur ein anderer geworden? Ist die Mittelmäßigkeit das Problem oder verhindert sie am Ende große Kollateralschäden? Wahrscheinlich bin ich bereits so langweilig, mittelmäßig und scheiße, dass ich Letzteres für wahrscheinlicher halte. Deswegen werde ich mich auch nicht zurückmelden oder zumindest viel zu spät. Dann bin ich eben Schuld. Und so sei es. Vielleicht endete die Epoche Ulmann des Großen, weil es einfach an der Zeit war, vielleicht aber auch allein, weil irgendein Arsch der Weltgeschichte, namentlich ich, darauf bestanden hatte, unbedingt erwachsen werden zu wollen.