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Unbekannter Freund
Es war schon spät. Ich saß allein in meinem Arbeitszimmer und nur die kleine rot-weiß karierte Tischleuchte spendete mir das nötige Licht, das ich zum Zeichnen brauchte. Ich liebte es zu zeichnen. Am liebsten kleine Daumenkinos, mit denen ich als kleiner Junge immer so gern gespielt hab. Etwas, worüber man lachen kann. Meine Frau hielt nie viel davon. Sie sagte immer, davon könne man nicht leben. Sie hatte ja Recht, aber es bereitete mir irgendwie Freude.
Mein Vater hat mir schon früh erklärt, dass es im Leben nicht immer um Spaß geht. „Junge, du musst etwas Anständiges lernen, etwas Handfestes!“, waren seine Worte. So trat ich vor knapp siebzehn Jahren meine Elektrikerlehre an. Heute bin ich in einem kleinen Betrieb bei uns im Ort beschäftigt. Nicht gerade die Erfüllung, aber am Anfang des Monats ist das Geld auf dem Konto.
Ich drehte mich in meinem ledernen Chefsessel, den ich mir vor knapp drei Jahren unter lautem Protestgeschrei meiner Frau gekauft hatte, um und schaute aus dem Fenster. Plötzlich sah ich jemanden, einen Mann. Sein Blick war ausdruckslos und er schien jegliche Lebensfreude verloren zu haben. Verschüchtert winkte ich ihm zu. Ebenso verschüchtert winkte er zurück. Ich musste schmunzeln. Unbewusst fing ich an verrückte Grimassen zu schneiden und er stand mir in nichts nach. Einige Minuten lang saßen wir uns gegenüber und freuten uns wie kleine Jungs über die Verrücktheit unserer Gesichter. Dann stand ich auf. Er erhob sich zeitgleich. Ich stellte mich breitbeinig hin, meine Arme hingen lang nach unten. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und spreizte Zeigefinger und Daumen ab. Ich fühlte mich wie John Wayne in einem dieser alten amerikanischen Western. Ich wollte gerade die Revolver im Zeigefinger kreisen lassen, als der Raum plötzlich hell erleuchtet war. Der Mann war verschwunden.
Ich drehte mich um und sah meine Frau in ihrem verwaschenen Schlafanzug im Türrahmen stehen. „Was zur Hölle treibst du hier mitten in der Nacht?“, fragte sie mich auf diese herablassende Art und Weise, in der sie ständig mit mir spricht.
Ekel stieg in mir auf. Eine Art Hassgefühl. Hass auf alles, Hass auf sie, Hass auf meine Eltern, Hass auf mich und auf die Art und Weise, wie ich mein Leben führe.
„ Ich sehe aus dem Fenster und warte auf Inspiration!“, antwortete ich ihr.
Mit ihrem hämischen Grinsen und der klassischen Verachtung in ihrer Stimme antwortete sie: „Dann mach doch beim nächsten Mal die Jalousien hoch, du Trottel. Vielleicht kannst du sie dann sehen!? Und jetzt komm ins Bett, du musst morgen früh arbeiten.“
Erstaunt drehte ich mich um und sah die verschlossenen Jalousien. Danach folgte ich ihr ins Bett. Meinen unbekannten Freund sah ich nie wieder.