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Unbewaffnet bei Aldi
Mein Wecker klingelt mich wie jeden Morgen mit seinem emotionslosen, nüchternen Gepiepe wach. Dabei hätte er doch wissen sollen, dass der Beginn dieses Tages eine andere akustische Untermalung erfordert. Ein fröhlich rustikales Hallalli und schmetternder Hörnerklang wären eher angebracht gewesen. Halbwach tappe ich zum Schrank, steige in Springerstiefel, Hotpants und Tanktop, schnalle mir die Halfter um die Hüften, greife nach der Pump-Gun und säusele meinem Spiegelbild ein verträumtes „Guten Morgen, Lara" zu.
Dann holt mein Hirn meinen Körper langsam ein. Die Fiktion weicht der Realität. Meine Haare sind blond und ich bin nicht Lara Croft. Und heute gibt es Kinderklamotten bei Aldi. Die Wirklichkeit ist ein bisschen weniger glamurös, aber der Auftrag ist nicht minder gefährlich.
Da die durchschnittliche deutsche Hausfrau eher selten mit nützlichen Accessoirs wie einer abgesägten Schrotflinte ausgestattet ist, muß ich unbewaffnet gehen und spätestens auf dem Parkplatz bereue ich diesen Umstand bereits. Ein von Herzen kommendes „Ihr seid wohl nicht ganz dicht!" entfährt mir, als ich die hoffnungslos überbelegten Reihen entlangfahre. Es ist noch nicht einmal neun Uhr und die sonst so gesitteten Damen parken schon auf jedem erdenklichen Fleckchen. Grimmige Blicke schneiden Löcher in die Windschutzscheiben beim alten Spielchen „Ich war erste hier!".
Mit viel Geduld und eindeutigen Gesten gelingt es mir, ein Fleckchen Beton für mich und die vier Räder meines fahrbaren Untersatzes zu beanspruchen und gestärkt durch diesen ersten Erfolg, schreite ich erhobenen Hauptes auf die Einkaufswägen zu. Das heißt, ich schreite dorthin, wo die Dinger sonst immer geparkt sind. Die langen Schlangen sind bereits geplündert. Nur noch die letzten fußlahmen Exemplare stehen mit hängenden Ohren in der Reihe. Ich drücke meinen Chip in einen dieser Übriggebliebenen und habe natürlich wieder einmal jenen besonderen Wagen, bei dem alle vier Räder in verschiedene Richtungen wollen. Na prima! Möglichst souverän zerre ich das bockende Ding durch die automatische Tür und betrete das für heute zum gelobten Land erklärte Terrain.
Hastig streben andere Mütter an mir vorbei und mir ist längst klar, dass die nächste Stunde mir einiges an Taktik, Unverfrorenheit, Durchsetzungsvermögen und Schnelligkeit abverlangen wird. Aber ich bin ja nicht zum ersten Mal hier. Ich bin Profi!
Ich eile also zum Schauplatz des Geschehens. Eigentlich genügt es auch, wenn ich mich treiben lasse, denn die Strömung zieht im Moment sowieso jedes bewegliche Teilchen in die hintere Mitte, wo üblicherweise die Sonderartikel aufgebahrt werden. Im Vorbeidriften greifen meine Hände automatisch nach den standardmäßig benötigten Lebensmitteln. Müsli, Toastbrot, Süßigkeiten, rechts abbiegen und gleich wieder links und - der erste Stau!
Nun sehe ich, was mir hier tatsächlich erwartet. Für den Einkaufswagen kein durchkommen, selbst wenn er parieren würde. Ein unüberwindliches weibliches Menschenknäuel! Diese Situation bedarf Plan B. Der ohnehin lästige Wagen wird in einem lauschigen Durchgang geparkt, der Rucksack mit der Haushaltskasse auf den Rücken geschnallt und hinein geht‘s in die tosende Flut. Ich überhole ein paar unschlüssig und uninformiert erscheinende junge Männer, die mit entsetzt geweiteten Pupillen auf das bunte Treiben schauen. „Was gibt‘s denn da umsonst?", fragt mich einer schüchtern. Man will ja auch als Mann nichts verpassen! Auf mein fröhliches „Winterklamotten für Kinder!", verzieht er desillusioniert das Gesicht und wendet sich mit Grausen ab und dem Süßigkeiten- und Chips-Terrain zu. Ohne weitere Unterbrechungen nähere ich mich nun dem Pulk aus sparwütigen Hausfrauen. Ich fühle mich zurückversetzt in meine Teenagerzeit als es beim Einstieg in den Schulbus täglich darum ging, unauffällig für die Augen des gestrengen Busfahrers durch jede verfügbare Lücke zu schlüpfen, um einen der heißbegehrten Sitzplätze zu ergattern. Sowas verlernt man nicht, auch wenn man Jahre nicht geübt hat. Ich mogle mich also durch und nutze jeden nicht-vorhandenen Zentimeter meiner kleinen Statur.
Irgendwann erreiche ich eine Lichtung im Dickicht der Menschenleiber. Hier steht ein Hubwagen mit mehreren vielversprechenden Kartons und eine mutige Angestellte versucht diesen unter Lebensgefahr auszupacken und in die dafür vorgesehenen Körbe zu verteilen. Leider wird dieses Vorhaben gnadenlos von den kaufwütigen Hyänen vereitelt, die der Frau die Ware aus den Händen reißen, sobald diese das fahle Licht der Aldi-Neonleuchten erblickt. Mit einem schnellen Blick sondiere ich die Lage. Was gibt es hier? Brauche ich das? In welcher Größe und Farbe? Ein gezielter Griff und ich bin Besitzer eines Fleece-Pullis in Größe 140, der fürs erste Hinsehen akzeptabel erscheint. Für eine genauere Prüfung ist jetzt keine Zeit, denn die Aldi-Mitarbeiterin hat nun diesen Karton glorreich geleert und zieht mit ihrem Hubwagen weiter.
Einer Herde schnatternder Enten gleich, die dem Stallbesitzer bei der Fütterung nachläuft, folgen wir der guten Frau mit gierigem Blick auf die verbliebenen zwei Kartons: Kinder-Winterjacken, gefüttert, mit Reflektions-Streifen, das Stück zu 9,99 €. Preislich absolut unschlagbar! Zweimal um die Ecke. Anhalten. Die Menge rückt näher. Die Angestellte zückt ein Messer. Aber nicht gegen uns - ein Glück - sie schlitzt den Karton auf. Aus der vierten Reihe ruft eine verzweifelte Mutter, die nichts sieht: „Jungs oder Mädchen?" Der Karton öffnet sich. Rosa, hellblau, beige. „Mädchenjacken!" Nicht relevant für mich. Trotzdem verteidige ich meinen Platz in der ersten Reihe und harre des zweiten Kartons. Wie durch Zauberhand verteilt sich die Ware über die Menge. Die Frauen an der Front plündern den Karton. Was von Größe oder Farbe einigermaßen zu passen scheint wird sofort gehamstert, unter die Arme oder zwischen die Knie geklemmt, um es vor unbefugten Zugriffen zu schützen. Alles andere wird großzügig und ohne zu schauen nach hinten gereicht.
Fasziniert beobachte ich das Treiben, werde unachtsam und lasse mich abdrängen. Ich treibe an einem Korb mit Kinder-Winterstiefeln aus wasserabweisendem Material vorbei. Moment mal! Mein Ältester braucht dringend Stiefel! Ich kralle mich an den Körben fest und quetsche mich zwischen die wühlenden Frauen. Welche Größe, welche Größe? Jetzt heißt es schnell sein und die Nerven behalten! Braucht der Kleine auch Stiefel? Ein Paar in Größe 35 fällt mir in die Hand. Das könnte passen! Und hier noch ein Paar in Größe 30. Ich habe den Überblick verloren. Was hat der Kleine nochmal für eine Größe? In Stress-Situationen geht mir regelmäßig die Kontrolle über jegliche Zahlen flöten. Egal. Ich nehme beide mit. Überlegen kann ich später. Ich klemme meine Beute zu dem Fleece-Pulli unter den Arm und wende mich wieder dem Karton mit den Jacken zu.
Mist! Gerade werden die letzten Exemplare in die Körbe weitergereicht. Und es waren Jacken für Jungs. Ich reiße dreist an einem grauen Exemplar in Größe 128. Die ist perfekt für den Kleinen. Keiner merkt es, keiner beschwert sich. Juhu! Frech kommt weiter! Ich probiere eine weitere Taktik: „Ist da noch irgendwas in Größe 140?" gröhle ich von hinten an die wühlenden Damen. Irgendwer antwortet mit „Ja!". Eine Hand löst sich aus dem grabbelnden Pulk und reicht eine blaue Jacke raus. Perfekt! Einen Augenblick ringe ich mit mir, ob ich mich bedanken soll, aber ein Blick auf die abweisenden Hinterfronten der gesichtslosen Beutetiere belehrt mich eines besseren.
Ich trete einen Schritt zurück aus der Gefahrenzone und atme tief durch. Ich habe zwei Jacken, zwei Paar Stiefel und einen Pulli. Nicht schlecht bisher. Aber mit vollbeladenen Armen läßt sich schlecht weitere Beute machen. Also ist ein Zwischenstopp an meinem Wagen angesagt. Wo hatte ich den nochmal geparkt? Ah ja, dort im Durchgang. Eine ältere Lady versucht sich gerade seiner zu entledigen, weil sie sich in den Kopf gesetzt hat, unbedingt diese Abkürzung befahren zu wollen. Leider wehrt er sich mit seinen krummen Rädchen nach Kräften. Braves Wägelchen! Großzügig lächele ich die Dame an, lade dem Eselchen die Beute auf den Rücken, klopfe ihm besänftigend auf die Seite und gebe den Weg frei.
In einer ruhigen Ecke analysiere ich erst einmal meine bisherigen Errungenschaften. Die Größen stimmen. Die Farben sind ok. An Schnitt und Form gibt es auch nichts zu meckern. Die Sachen sehen keinesfalls so billig aus wie sie es bei diesen Preisen durchaus dürften. Nur bei den Boots für den Kleinen hat mein Erinnerungsvermögen immer noch nicht eingesetzt. Egal. Verschieben wir auf später. Auf in die zweite Runde.
Bei den Thermo-Hosen gibt es nicht mehr viel zu holen, aber dafür ist der Andrang auch entsprechend human. Wild wühle ich mich zusammen mit einer anderen Anwärterin durch einen Haufen gleichaussehender, sandfarbener Beinkleider. Da ist was in Größe 128 und was in 134. Irgendwas wird irgendwem schon passen und wenn nicht wird es unten einfach umgekrempelt und oben ein Gürtel rein. Die nehm‘ ich!
Ein paar Meter weiter, komme ich an Socken vorbei. Kindersocken braucht man ständig, weil naturgemäß immer einer von einem Paar an irgendeinem geheimen, dunklen Ort verschwindet. Einmal reingreifen - Größe ist hier ein dehnbarer Begriff. Passt!
Ich atme aus. Ich glaube, ich habe alles gekriegt. Die Spannung fällt von mir ab. Die Schätze im Wagen gebunkert, umkreise ich noch einmal sicherheitshalber den Tatort. Hab ich auch nichts übersehen? Was hat die Frau da in ihrem Wagen? Brauche ich das auch? Langsam flaniere ich an den Kühltruhen vorbei. Dort liegen noch ein paar herrenlose Kinderregenschirme, ebenfalls aus dem aktuellen Angebot. Was haben die nochmal gekostet? Egal. Wir sind bei Aldi. Viel kann‘s nicht sein und daheim ist eh bei fast allen die Mechanik kaputt.
Ich lasse den Wagen einen Augenblick stehen und vergleiche zwei Exemplare. Gerade als ich meine Entscheidung getroffen habe, sehe ich aus dem Augenwinkel wie ein im Nachbarwagen geparktes, abgerichtetes Guerilla-Baby meine Habseligkeiten plündert! Das ist doch die Höhe, mit welchen Mitteln hier schon gearbeitet wird! Aber man darf sich ja nicht outen, also setze ich ein zuckersüßes Lächeln auf und sage zu dem Balg „Gib das schön wieder her. Das ist meins. Die Mami kauft dir bestimmt gleich auch so was." Immerhin. Meine Autorität wirkt, oder mein liebes Lächeln. Oder ist es der kalte Glanz in meinen Augen? Das Kind läßt los und ich bringe mich und die heiße Ware in Sicherheit.
Eifrig strebe ich in Richtung Kasse. Da spricht mich eine Frau an, die mich augenscheinlich kennt. Oder mindestens zu kennen glaubt. Wir unterhalten uns geraume Zeit über die Kleidergrößen unserer Kinder, über den Fang, den wir an diesem ereignisreichen Tag gemacht haben, über die ach so unverschämten Preise in anderen Läden. Dann verabschieden wir uns fröhlich und ziehen weiter. Wer zum Geier war das? Sollte ich das Gesicht von irgendeinem Elternabend kennen? Meine überlasteten Schaltkreise suchen verzweifelt nach dem passenden Namen zu dieser freundlichen Frau und kommen zu keinem Ergebnis. Hat DIE nun einen Aussetzer gehabt oder ICH? Ich schüttele benommen den Kopf und mache mir langsam Sorgen über meinen Verstand.
Bei der Gelegenheit sickert langsam die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass ich auch noch eine Menge nötiger Lebensmittel einkaufen sollte. Nur zögernd stellt mein Hirn wieder auf sein gewohntes Programm um und ich kann mich wieder daran erinnern, welche Dinge im Haushalt fehlen. Ich drehe meine gewohnte Runde zwischen Nudeln, Kühlregal und Frischgemüse und gebe mich ganz dem vertrauten Ritual des Einladens von Lebensnotwendigkeiten hin.
Als ich schon fast an der Kasse bin, macht es im Oberstübchen „Bing" und mir fällt ein, dass im Schuhschrank noch ein paar prächtig erhaltene Winterstiefel aus der letztjährigen Jagdsaison vorhanden sind. Damals waren sie dem Großen ein wenig zu klein und dem Kleinen ein wenig zu groß. Das heißt sie dürften eigentlich aktuell genau passen. Mist. Ich muß also zurück. Die überzähligen Stiefel wieder dem Wettbewerb preisgeben. Oder soll ich sie einfach unbemerkt hier auf die Dosen mit den Schältomaten ...? Nein! Ich bin ein ordnungsliebender Mensch. Ich mag das zuhause auch nicht, wenn jeder seine Sachen einfach irgendwo liegenlässt. Gleiches Recht für alle. Ich gehe nochmal zurück.
Ich werfe die Boots in einem eleganten Bogen in den Korb und sehe beglückt dem Gewusel um die besten Schnäppchen zu. Sehe die geschätzten, ausländischen Mitbürgerinnen, die für diesen Anlass die ganze Großfamilie mitgebracht haben und deren Einkaufswägen fast auf die doppelte Höhe angehäuft sind. Sehe Menschen, die von zwei Seiten, an ein und der selben Jacke zerren, wie Hunde an einem Knochen. Sehe strahlende Gesichter mit ihren Schätzen von dannen ziehen und andere mit verbissenen Minen nach der allerallerletzten richtigen Größe wühlen.
Ich gehe an die Kasse, warte träumend in der langen Schlange, schenke dem Kassierer mein schönstes Lächeln und bringe meine Beute sicher in meinem Kofferraum unter. Der Adrenalinpegel sinkt wieder. Erleichterung macht sich breit. Ich habe die mir gestellte Aufgabe erfüllt. Ich war unbewaffnet bei Aldi - und ich war erfolgreich! Jetzt brauche ich erst mal einen Tee - Westcliff, Pfefferminz oder Kamille, 25 Aufgussbeutel zu -,39 € und einen Berliner, im Sechserpack zu 1,49 €.