Mitglied
- Beitritt
- 12.08.2006
- Beiträge
- 90
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Und Eiter trieft vom Totenkopf
______________________________
Und Eiter trieft vom Totenkopf
(Kurzgeschichte von Leichnam)
"In deinen eigenen Abgründen wirst du sie finden - die Dinge, die du nie sehen wolltest..."
(Pierre Gilbot)
Der verstaubte, klapprige Leihwagen - ein uralter Ford - brachte mich Armseligen mehr schlecht als recht über jene verdammte Einöde dahin. Abend in entlegensten deutschen Flecken. Ich liebte das nicht, ich hasste das nicht. Graue Gleichgültigkeit hatte sich breit gemacht, und da hier kein Radioempfang möglich war, heulte mir der Wind hinter den Scheiben sein Klagelied.
Ich wurde erwartet im trüben Hause eines alten Freundes namens Konrad von Gölzenstock. Er hatte endlich sein Experiment vor. Und ich sollte Zeuge werden, obwohl ich eher vermutete, ich sollte ihm Gesellschaft leisten. Gesellschaft im Grauen... Und ihm möglicherweise die Angst nehmen.
Das würde nicht funktionieren. Ich hatte selber Angst.
Nach endloser Fahrt sah ich schließlich aus der Ferne das einsame Gebäude, jene betagte Villa. Konrad hatte Geld wie Heu - dafür hatte eine Erbschaft gesorgt. Nicht in 50 ausufernden Leben würde er seine Finanzen ausschöpfen können - dies stand für mich fest. Doch ich gönnte es dem Manne, der in meinem Alter war. Beide befanden wir uns in der goldenen Mitte des Lebens.
Schmunzelnd lenkte ich das Automobil auf den Fahrweg, der direkt zum Portal führte und dort auch in einen größeren, staubigen Platz auslief. Ich dachte daran, wie ich vor über 10 Jahren einen Spaziergang in diese Gegend hier unternommen hatte, im Herbste. Von Gölzenstock hatte vor seinem Haus gestanden und mich auf einen Drink eingeladen. Einfach so - aus Langeweile, wie er gesagt hatte. Ein langes Gespräch über tiefe und mystische Dinge am Kamine hatte sich angeschlossen, und seit diesem Tage waren wir beste Freunde.
Ich hielt an. Erschaudernd starrte ich das Haus an, das mir plötzlich unangenehme Mentalwelt einjagte. Die drei kahlen Baumleichen, die am Haus standen, gestalteten die Situation ernüchternder, als sie ohnehin schon war. Wieder einmal sollte ich Heimstatt nehmen hinter Mauern, die verrufen waren. Man sprach in den umliegenden Orten allgemein vom "Totenhaus"...
Ich stieg schließlich aus, sehr in Gedanken versunken. Eine merkwürdige Aufregung hielt mich umkrallt. Während ich das Automobil abschloss, schaute ich seitlich auf den geisterhaften Bau, der von leichten Nebelschleiern umflort wurde. Und nun richtete ich die volle Aufmerksamkeit auf dieses Haus.
Die Erker, die Fenster, die grotesken, dämonischen Fresken - von Mauerschwamm umgeben... All dies blickte mir starr und irgendwie feindlich entgegen.
Immer wehte hier der Wind. Er heulte gespenstisch. Hier direkt am Haus war das stetig so. Doch etwas ließ mich vereisen...
Zwischentöne! Laute, die berüchtigt waren in der Gegend.
Durch das Stöhnen des Windes schlängelte sich das Geräusch hindurch: Ein Pfeifen. Ein Tönen, das lauter wurde - unangenehm lauter!
Es handelte sich um ein Phänomen, welches zwar selten auftrat, doch immer etwas nach sich zog... Schon viele Einheimische hatten es vernommen - mit Grausen.
Das Schallheimer Pfeifen!
Wenn es erklang, würde in den nächsten zwei bis drei Tagen ein Mensch dieses Landstriches sterben. Der Begriff ´Schallheim´ stand für den nächstliegenden Ort.
Es pfiff mit wimmernden, ja fast anklagenden, jaulenden Untertönen. Es hörte sich furchtbar an. Mir lief eine Gänsehaut den Rücken hinab. Ich stierte nach vorn zur Villa, stand auf dem Vorplatz wie ein Pfahl, inmitten des verstörenden Pfeifens. Nach einer Minute vielleicht ebbte es ab und schwand ganz. Lediglich das Windheulen blieb...
Mir hatte es die Kehle regelrecht zugeschnürt. Sofort hatte ich gewußt, gewußt, gewußt - jenes geheimnisvolle Todes-Omen gehört zu haben. Nur langsam setzte ich mich in Richtung Hauseingang in Bewegung, rieb dabei nachdenklich durch meinen Vollbart. Das Pfeifen - ich hatte es gehört... Unfassbar!
Das Portal war erreicht, und nachdem ich geläutet hatte, wurde mir alsbald aufgetan. Mir wurde der schlauchartige Vorraum geöffnet, der mit feinster Holztäfelung ausstaffiert war.
"Mein Lljungse, kommm hein, rein! Wwwir habens dich sss-schon erwartet..."
Von Gölzenstock stand vor mir, oder besser gesagt, er lehnte am verschmutzten Türrahmen. Sturzbetrunken. Im Hintergrund schob sich eine weitere besoffene Gestalt vor.
"Hallo, Freunde! Ahh - der Gast! Hirzzlich swilkommen, hick..."
Ich schaute verdattert drein. Die Situation hatte mich vollkommen aus der Erstarrung gelöst, und nun konnte ich nicht anders, als einfach herzlich drauflos zu lachen. Man würde mich über die Situation bestimmt noch aufklären. So trat ich also ein, immer noch heftig lachend. Eigentlich war ich den beiden dankbar für diese unkonventionelle Begrüßung. Nichts hätte die Situation mehr auflockern können als eben dies.
"Ihr habt ja ganz schön getankt, Freunde!", rief ich fröhlich aus, während ich ablegte und in bereitgestellte Hausschuhe schlüpfte.
"Und vorstellen muß sss is, ich - dir noch diesen Herrn hier. Ups...", lallte von Gölzenstock. "Darfff ichs - sss - bekannt macksen: Petrich Boll - der Mann, hick, der so nu- , mutigs, war, das Ixpersiment auf sichs zu nehmen..."
Dieser Petrich Boll reichte mir die Hand, und auch ich stellte mich vor. Ein unglaublich intensiver Alkoholnebel umgab mich. Für mich war klar, dass aus dem ´Ixpersiment´ - also Experiment, heute zumindest nichts mehr werden konnte. Doch die Situation an sich fand ich köstlich entspannend, zumal ich es mit äußerst gutartigen Betrunkenen zu tun hatte, wie mir meine Menschenkenntnis sagte.
Während die beiden Alkoholisierten herumlallten, fiel mein Blick auf eine bestimmte, grobe Türe im Vorraum. Ich wusste, dass diese in den Bereich führte, welcher mit dem Grund meines Besuches zu tun hatte. Hinter dieser Tür ging es steil hinab in die Dunkelheit. Dort unten waren die Keller...
Mich fröstelte ein wenig. Gedankenverloren steckte ich mir ein Zigarillo an. Dann folgte ich Konrad von Gölzenstock sowie Petrich Boll in den Salon. Dort knisterte ein Feuerchen im Kamin, und die legere Sitzgruppe, welche aus drei schwarzen Ledersesseln bestand, lud zur Plauder-Runde ein. Auf einem Beistelltisch sah ich zwei fast leere Whiskey-Flaschen, und in einem Steinkrug schien sich Bier zu befinden.
Wir setzten uns. Ich wurde aufgefordert, mir einen Whiskey zu genehmigen. Da ein frisches Glas bereit stand, schenkte ich mir gerne ein. Guter Stoff! Da war von Gölzenstock schon Kenner!
Draußen wurde es dunkel, die Nacht sickerte heran. Ich sah es durch die beiden hohen Bleiglasfenster. Irgendwie war ich beunruhigt, trotz der belanglosen Unterhaltung, die locker geführt wurde. Immer wieder schaute ich mich im Raum um. In den kurzen Pausen, die entstanden, wenn meine zwei Gegenüber tranken, schien es mir, als hätte ich etwas gehört. Etwas wie einen langgezogenen, peinvollen Seufzer, welcher aus unbestimmbaren Tiefen des Hauses erklungen war... Ich blickte schnell zu meinem Gastgeber hinüber, der, wie mir auffiel, kaum merklich - aber doch furchtsam zuckte. Er bemühte sich allerdings, so gut es in seinem Zustande möglich war, die Fassung zu behalten. Boll hingegen grinzte weiter vor sich hin. Er hatte wohl nichts vernommen.
Irgendwann schliefen die Herren ein. Ich rüttelte Konrad sachte wach, denn mir war noch nicht einmal mein Zimmer zugewiesen worden. Er grunzte und fuhr erschrocken auf.
"Ach", murmelte er mit tiefer, versoffener Stimme. "Ich muß wohl eingenickt sein... Unhöflich von mir."
Er erhob sich mühsam und hatte kurze Orientierungsschwierigkeiten. Das schwache Licht der Stehlampe sorgte für rechte Düsternis im Zimmer, und aus dem Kamine kam nur noch ein Glimmen.
"Ich muß dir etwas zeigen!", sagte der Mann leise mit einem kurzen Blick auf den schlafenden Petrich Boll. Es war eigenartig, dass mir der Hausherr plötzlich nüchterner erschien als bei meinem Empfang, obwohl er inzwischen noch wesentlich mehr Getränke intus hatte. Ein typisches Anzeichen für einen Alkoholiker.
Allerdings wusste ich, dass ihn das Haus selbst zum Trinken gebracht hatte...
Leise verließen wir den Salon. Petrich Boll schlief tief. Sollte er ruhig seinen Rausch auskurieren.
Wir erreichten über eine breite Treppe das Obergeschoss der Villa. Hier blieb der Hausherr zunächst stehen und wandte sich zu mir um. Seine schwarzen Pupillen stachen aus der Dunkelheit heraus.
"Du kennst den Schädel noch?", fragte er mich.
"Den Knochenkopf der Elise von Klatten?", hakte ich nach.
"Ja. Ihn meine ich. Ich habe einen extra Raum für ihn eingerichtet. Komm!"
Ich folgte von Gölzenstock steif. In mir befand sich schleichendes Unbehagen. Den Schädel hatte ich schon bei meinem allerersten Aufenthalt im Hause kennenlernen dürfen. Der Totenkopf einer vor über 60 Jahren verstorbenen Bewohnerin dieses Hauses. Sie war mit von Gölzenstock nicht verwandt.
Nicht nur einmal hatte mein guter Freund behauptet, Elise von Klatten ginge noch immer im Gebäude um... Ich hegte keine Zweifel daran. Warum auch? Konrad wußte mit Sicherheit, wovon er sprach. Er lebte Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit dem Phänomen des ortsgebundenen Spukes. Einige hätten ihn darum beneidet, viele aber auch nicht. Es war immer eine Frage, wie man dazu stand.
Wir betraten eine kleine Kammer. Von Gölzenstock´s Hände hatten beim Aufschließen dieser heftig gezittert...
Und der Hausherr schaltete Licht an.
Ich war höchst erstaunt. Das kleine Zimmer war fast komplett leergeräumt, nur ganz hinten stand ein niedriger, quadratischer Tisch mit schwarz lackierten Beinen. Auf dem Tisch befand sich ein Laken, welches wie eine Art Vogelnest geknüllt war. Und auf diesem Laken, das hässliche Verfärbungen aufwies, befand sich der Schädel! Er grinzte uns an, und die leeren Augenhöhlen zeigten sich düster zu uns gerichtet. Eine mumpfig-stickige, übelriechende Luft füllte das Zimmerchen aus.
Aber da war noch etwas! Und als wir langsam näher herangingen - die nackte Holzdielung knarrte dabei leise unter unseren Füßen - konnte man es sehen... Im schwachen Lichte der verstaubten, einzelnen Glühlampe, die von der niedrigen Decke hing, erblickte ich eine etwas zähe, gelbliche Flüssigkeit, welche von der Schädeldecke aus nach unten rann - hin zum Gebiss. Auch seitlich lief das Zeug herab.
"Was um alles in der Welt...", stöhnte ich auf, den Mund vor Erstaunen halb geöffnet.
"Ich habe das Sekret chemisch untersucht.", antwortete der Hausherr tonlos. "Es handelt sich um menschlichen Eiter."
Ich schaute Konrad von Gölzenstock an, als wäre er ein Irrer. Doch ich wußte, dass der wissenschaftlich vielschichtig bewanderte Mann Recht hatte. Und seufzend gab er mir noch zusätzliche Erläuterungen.
"Der Eiter entsteht unerklärlicherweise in den winzigen Hohlräumen des Knochens. Aus den mikroskopisch kleinen Poren tritt er aus. Erst seit einigen Wochen existiert diese ungewöhnliche, bizarre Tatsache. Mittlerweile habe ich herausfinden können, dass es ein Indikator ist..."
"Ein Indikator wofür?", hakte ich nach, da er länger schwieg, sich müde die Stirne knetend.
"Der Totenkopf trieft nicht immer. Nur dann, wenn Elise von Klatten im Haus unterwegs ist..."
Ich erstarrte wie zur Salzsäule und drehte mich langsam um die eigene Achse...
War da etwas gewesen? Ein Hauch? Sehen konnte ich nichts. Doch ein Unbehagen hielt mich innerlich erfüllt, welches meinen Aufenthalt in der Villa fast unerträglich gestaltete. Ich fühlte mich wie in ein Vakuum verpackt, welches im Inneren eines riesigen, verrotteten Sarges befindlich...
"Ich habe das Schallheimer Pfeifen gehört.", flüsterte ich. "Gleich bei meiner Ankunft am Haus..."
Konrad schaute mich an. Sein Gesicht verriet keine Regung, sondern strahlte eine unendliche Müdigkeit aus.
"Ich hörte es auch.", sagte er mit belegter Stimme. "Vorhin, als ich unten im Salon eingeschlafen war. Es schien mir ein Traum zu sein. Doch jetzt, wo du es bestätigst, weiß ich, dass es Wahrheit ist."
Er rieb sich die zitternden, geröteten Hände. Dann lehnte er sich an die gekalkte Wand, als hätte er einen Schwächeanfall.
"Wenn es hier am Haus war, bedeutet dies den Tod von mir, Petrich, dem Bediensteten oder..." Er starrte mich an.
"Mir!", beendete ich den Satz, bestätigend nickend.
Mein Gastgeber erwiderte nichts. Er drehte sich vielmehr noch einmal zum Schädel um, was ich dann auch tat. Noch immer lief Eiter herab, doch spärlicher, schwächer.
"Willst du wissen, was damals mit Elise von Klatten wirklich geschah?"
Ich nickte entschlossen.
"Gut! Ich berichte nur ungern, was ich in der Schallheimer Bibliothek kürzlich nachlas. Man brachte mir dort Dokumente zum Thema meines Hauses. Geschichtliche Dokumente, die ich abschrieb. Was soll ich sagen - Elise hatte wohl einfach Pech gehabt. Der falsche Ehemann..."
Ich blickte meinen alten Freund fragend an.
"Eigentlich ist es die alte Leier: Ehemann erträgt Frau nicht mehr und handelt... Willst du es wirklich hören? Ah, ich sehe ja an deinen Augen, dass du es willst. Nun, Freiherr Ottfried von Klatten betäubte Elise, schleppte sie in den untersten Keller, häutete sie bei lebendigem Leibe, legte sie in Ketten. Er ließ sie einfach verrecken..."
Ich schaute ungläubig. Von Gölzenstock wich meinem Blicke aus und massierte wieder seine Stirn.
"Tja, mehr kann ich nicht sagen, und Details möchte ich dir lieber ersparen, lieber Freund..."
Ich nickte nur.
"Und jetzt spukt sie deswegen, nicht wahr? Dieses Grauen, diese Torturen, ihr nacktes, hautloses, rohes rotes Fleisch in rostigen Ketten..."
Die Glühlampe über uns wurde plötzlich ein wenig lichtschwächer, dann flackerte sie. Schließlich ging sie aus.
Wir standen im Stockdunklen. Und draußen, vom Flure her, hörten wir auf einmal schlurfende, langsame Schritte...
Mir spannte sich die Nackenhaut wie Gummi. Elise...
Das Geräusch kam eindeutig näher. Mein Herz klopfte schneller. Diesmal erlebte ich Dinge mit, die ich in diesem Hause zwar auch schon erfahren hatte, doch nicht in dieser Intensität. Und dieser eiternde Schädel stemmte sich ohnehin gegen jeglichen gesunden Menschenverstand.
Das fürchterliche Geräusch präsentierte sich nicht gleichmäßig. Es wirkte abgehackt. Einmal polterte es, und erst nach einigen Sekunden gab es wieder das Schlurfen - jetzt direkt an der nur angelehnten Tür, hinter der wir entsetzt standen.
Laut krachte es gegen das Holz, die Tür schwang auf, einher ging ein schwacher Lichteinfall vom Gang, und dann...
...Lag da der betrunkene Petrich Boll zu unseren Füßen. Leise kichernd...
Wir machten uns sofort daran, dem doch recht schweren Mann aufzuhelfen. Konrad zischelte mir zu, es wäre besser, wenn er den Schädel der von Klatten nicht zu Gesicht bekam. Deswegen drückten wir den Betrunkenen sehr eilig aus dem Raum, und draußen schloss der Hausherr hastig zu.
"Da ist sicher nur die Glühlampe durchgebrannt.", meinte er.
Ich persönlich war mir da nicht so sicher, und ich ahnte, dass von Gölzenstock es ähnlich sah...
In unserem Griff lachte Petrich Boll erneut. "Schungs - danke! Ihr seid... sss... wahre Freunde! Doch nun - ...mssü schla... schlafens, hicks!"
Ich schüttelte den Kopf. Hoffentlich ging das nicht am nächsten Abend so weiter. Ich konnte mir vorstellen, dass da unser Experiment angedacht war, von dem ich nicht allzuviel wusste. Mir war nur telefonisch gesagt worden, es drehe sich alles um den Keller unter dem Keller. Konrad sagte immer ´Keller des Kellers´ dazu...
Endlich legten wir den bereits wieder schlafenden Mann auf sein Gästebett hier in einem Gemach des gleichen Geschosses. Wir zogen ihm noch die Filzhausschuhe von den Füßen, dann löschten wie das Licht des kleinen Schlafzimmers und begaben uns noch einmal in den Salon. Mittlerweile erschin mir von Gölzenstock wieder vollkommen ausgenüchtert. Welch´ eine Rekordzeit!
"Ich weiß nicht, ob ich diese Nacht noch schlafen kann.", bemerkte Konrad. Wir hatten uns wieder in die Sessel vor dem Kamin gesetzt, nachdem ich einige neue Holzscheite in die schwache Glut gesteckt hatte, die bald zündelten.
Ich hatte mir noch einen Whiskey eingeschenkt. Mein Kamerad trank nichts mehr. Er hatte mit dem Paffen einer Zigarre begonnen.
"Vielleicht werden wir noch schläfrig.", meinte ich leise. Konrad nickte ernst. Dann gab er vor, mir einiges über das geplante Experiment sagen zu wollen.
"Es geht mir zunächst um das Grundsätzliche.", hauchte er. Seine knallrot gewordenen Augen stierten mich hypnotisch an. "Dreh- und Angelpunkt ist der Keller des Kellers. Weißt du noch, was ich dir darüber berichtete? Ich meine nicht nur die Einkerkerung, von der ich vorhin sprach. Du warst vor zwei oder drei Jahren doch selbst einmal drin, nicht wahr? Erinnerst du dich?"
Furcht ließ mich frösteln. Für mich gab es auf diesem Erdball nichts Entsetzlicheres als dieses finstere Loch da unten...
Es existierten sogar noch die rostigen Ketten mit ihren unbezwingbaren Ringen für die Handgelenke...
Von Gölzenstock hatte mich vor besagter Zeit gebeten, doch einmal die Keller des Hauses zu begehen. Es war am hellen Tag gewesen, er und Hannes - der Bedienstete - gaben sich ebigst die Ehre, wenn auch sehr zögerlich, wie es mir erschienen. Die ´normalen´ Räume und Verschläge störten mich nicht - ich wanderte hindurch, wie man es bei beliebigen Kelleranlagen tun würde. Jedoch zeigte man mir bald eine Türe im Boden, die noch tiefer hinab führte. Über schmale Steinstufen ging es hinab in den ´Keller des Kellers´...
Ich war in der Tat da hinunter gestiegen, OHNE Hausherr und Hannes allerdings, die es vorzogen, weiter oben zu bleiben. Mir war das merkwürdig vorgekommen, doch hatte ich keine Hinterfragungen angestellt.
Ganz unten also befindet sich ein Raum mit einer Spitzbogendecke. Grob gemauerte Wände. Irgendwelche Fenster gibt es freilich nicht. Schon in diesem größeren Raume spürte ich Merkwürdigkeit, Absonderlichkeit. Es nahm sich schlichtweg unbehaglich aus.
Von jener genannten Räumlichkeit führte eine tiefe, pechschwarze Nische ab - langgezogen, enger als der Hauptraum, weit in die Tiefe führend. Eine höchst sonderliche Architektur. Für mich eigentlich völlig ohne Sinn und Zweck. Als ich aber diese ´Nische´ beging, merkte ich im gleichen Augenblick, dass es schier unerträglich bedrückend wurde. Nicht nur die Stickluft, nein: Die Atmosphäre, ATMOSPHÄRE dort war es, die mich nicht nur furchtsam werden ließ, sondern nackte Angst erzeugte.
Von oben, von der Falltüre aus, war eine Stimme gekommen vom Hausherren. Ich sölle auch noch die weitere Nische betreten, die extra noch von der ersten abging... Es ist wahr: Jene weitere Abzweigung existiert, und es ist ebigst wahr, dass ich so verwegen, diese aufzusuchen...
Hier schien mir das Restlicht dieser Welt aufgesaugt. Hier hatte der einzig echte Schrecken, das einzig echte Grauen, sein Domizil! Ganz hinten hatte ich im Schein meines Feuerzeuges eine alte Ledertasche auf einem Tische sowie Ketten mit Ringen an der abschließenden, letzten Wand gesehen. Dann war ich schreiend geflohen!
Denn dort, in der zweiten Nische, hielt es ein Mensch nicht mehr aus...
Ich drückte mit Gewalt die Bilder aus dem Gedächtnis. Meine Atmung war schneller geworden. Ein Zigarillo fingerte ich aus der Innentasche der Jacke meines Hausanzuges. Von Gölzenstock gab mir Feuer, mich besorgt anschauend. Doch ich sagte nichts. Stand stelzig auf, ging ans hohe Fenster, den schwarzen, staubigen Samtvorhang ein Stück zur Seite schiebend. Der Wind da draußen kam mir wimmernder vor. Der abgestorbene Baum in meinem begrenzten Blickfeld zeigte sich wie ein skelettiertes Gespenst mit schwarzen Krüppelfingern, die gen Nachtfirmament trauervoll Anklage erhoben. Das Gebilde dieses einzelnen Baumes ragte aus dichter Nebelsuppe heraus. Damals war ich bei Tageslicht in den Kellern gewesen - wie mochte die Mentalwelt erst bei Nacht sein?
"Ich weiß, wie es in dir aussieht!", bemerkte hinter mir Konrad. Ich hörte ein Gluckern; er war dabei, sich einen weiteren Doppelstöckigen einzuschenken.
"Mich würde nichts mehr da runter bringen! Wirklich nichts! Vor wenigen Tagen installierten Hannes und ich die Mikrofone, die drei Kameras, die drei schwachen Lampen unten. Wir taten es beim hellen Tagesteil. Wir hatten ein Tonbandgerät dabei - es spielte die ganze Zeit über Stimmungsmusik ab. Anders hätten wir es nicht geschafft, die Arbeiten auszuführen. Selbst da nahm es sich schier unerträglich aus. Die Aura, die im Hauptraum und erst recht in den beiden nachfolgenden Nischen lastet, kann man nicht beschreiben. Sie ist gesättigt vom Wahnsinn der erwachten Gehäuteten..."
Innerlich schüttelte es mich ob dieser Worte durch. Damals, als ich unten gewesen war, hatte ich die Geschichte, welche sich dort abgespielt hatte, nicht einmal gekannt. Trotzdem hatte jeder einzelne innere Sensor meines Körpers intuitiv jenes Aberwitzige angezeigt. Jenen Taumel, der dort lag. Jenen vollkommen abgründigen Schrecken...
Konrad räusperte sich leise, als wölle er meine Gedanken und Sinnierungen nicht zu sehr stören.
"Ich möchte etwas wissen.", sagte er laut. "Ich muß etwas wissen! Seit wenigen Nächten trieft der Totenkopf der von Klatten. Es war schon früher schlimm im Keller des Kellers. Doch was ist jetzt dort los? Jetzt, wenn der Eiter vom Schädel rinnt? Diese Frage ist es, die ich experimentell ergünden möchte. Nichts weiter!"
Ich nickte still vor mich hin, noch immer zur Baumleiche starrend.
"Und dafür", so begann ich, "hat sich Petrich Boll bei dir gemeldet... Er will hinabsteigen. Hinabsteigen in tiefster Nacht und das Mysterium entschlüsseln..."
"Das ist richtig, ich sagte es dir ja schon telefonisch. Boll wird es tun. In der nächsten Nacht. Ich habe ihm eine Millionen zugesichert und die erste Hälfte schon ausgezahlt..."
Ich drückte fest die Lippen aufeinander. Dann wandte ich mich zu meinem Freunde um.
"Das Schallheimer Pfeifen..." , hauchte ich. "Es wird nicht umsonst gewesen sein..."
Konrad nickte nur müde.
"Und wenn ich grausam sterben werde...", murmelte er dumpf - "Ich will wissen, was man jetzo für Ängste dort hat. Nochmals gesteigert muss das Grauen sein. Und vielleicht erblickt man Dinge, sieht etwas vor sich. Etwas, dass in die Tobsucht, in den vollendeten Wahnsinn führt... Boll wird die nachfolgende Nervenheilanstalt locker zahlen können..."
"Oder seinen eigenen Grabstein.", fügte ich - fast unhörbar - hinzu.
Der Wind drückte jammernd stärker gegen das Bleiglas, als würde er meine Worte bestätigen wollen...
Nachdem wir noch einige wichtige Dinge abgesprochen hatten - ich war mit zur Überwachung des Versuches an drei Monitoren vorgesehen, die mir Konrad noch zeigen wollte neben der restlichen technischen Anlage - wurde mir mein Zimmer zugewiesen. Es war das gleiche, in dem ich schon immer die Nächte verbracht hatte, wenn ich für mehrere Tage hiergewesen war.
Ich hatte mich gründlich gewaschen, dann war ich in das weiche Bett gefallen. Da es draußen doch sehr kalt war, ließ ich das einzige Fenster des kleinen, aber feinen Raumes geschlossen. So schnell würde ich schon nicht ersticken, oder...?
Bald schlief ich ein. Ich vermute, nur etwas 5 Minuten nach meinem Hinlegen. Die völlige Dunkelheit hatte sicher ihr Scherflein dazu beigetragen.
Es gab im Zimmer eine kleine Wanduhr, die gleichmäßig vor sich hin tickte. Tick Tack Tick Tack Tick Tack...
Plötzlich fuhr ich auf der Bettstatt aus dem Schlafe auf. Kein Tick Tack mehr - die Uhr war stehengeblieben...
In einer Zimmerecke sah ich jäh ein feines, leichtes Glimmen. Orangefarben. Dazu geb es ein leises Rascheln, als würde jemand mit Papier über die Wand streifen - von links unten aus der Ecke jenes Glimmens, bis diagonal rechts hoch unter der Decke, zur anderen Ecke hin. Während es dort oben zu pochen begann, verlöschte unten das Glimmen.
Pochpochpochpoch...
Immer viermalig, als würde jemand mit dem Fingerknöchel gegen die Wand klopfen!
Dann gesellte sich ein schmäriger Geruch hinzu, der es unerträglich machte im Raum. Es roch wie aus einem offenen Carcinom. Die Luft um mich herum schien sich irgendwie zusammenzuballen. Dabei, immer in kurzen Intervallen, das schon beschriebene Pochen.
Ich ließ die Nachttischlampe aufleuchten. Sofort endete das Pochen. Allerdings blieb der unangenehme Geruch. Ja es schien mir, als verstärke er sich noch...
Ich stand auf und ging zum Fenster hin, öffnete es. Kalte Luft drückte sich herein. Es war also besser, sich mit der Kühle anzufreunden. Denn in einem stinkenden Zimmer wollte und konnte ich nicht schlafen. Die Gardine wehte geisterhaft herein und raschelte leis um die Ecke eines Kleiderschrankes herum. Wie ein Gespenst.
Ich schaltete die Lampe aus.
Pochpochpochpoch... Pochpochpochpoch...
Lampe sofort wieder ein. Ruhe. Nur der hauchende Wind vor´m Hause, der über die karge Ebene striff.
Ich ließ die verdammte Lampe an und brachte so den Rest der Nacht, sehr unruhig und oberflächlich schlafend, über die Runden. Am Morgen war ich dann freilich wie gerädert. Doch ich kannte das. Nicht zum ersten Mal erlebte ich diese Vorkommnisse auf Villa Gölzenstock. Hier spukte es fast jede Nacht...
Morgens saßen wir sehr spät beim Frühstück im Salon. Wir hatten länger auf Petrich Boll warten müssen, der recht zerknautscht ausschaute und nun nur widerwillig seine belegten Brote kaute. Hannes schenkte Kaffee ein. Heiß und stark - eigentlich ein echter Muntermacher.
Es wurde schweigend gegessen. Hannes - die gute, alte Seele - hatte sich zurückgezogen.
Ich blickte, von eigenartiger Melancholie erfüllt, in Richtung Fenster. Ein grauer, regnerischer, wieder sehr windiger Tag. Kein einziger Sonnenstrahl war zu sehen. Im Winde zitterten die kahlen Äste der toten Bäume. Die allgemeine Sicht war sehr schlecht - von Weitblick konnte nicht gesprochen werden.
Schließlich begann Boll, einige Worte zu sprechen.
"So soll es heute denn beginnen, unser Experiment! Ich hege wirklich Furcht... Bei Tage war ich kurz unten, sah eine Kamera, ein Mikrofon, Kabel - welche hoch ins Haus führen. Ich... ich stand da und hegte Angst... Es ist eine Ausstrahlung dort, die man kaum definieren kann. In Nische Nummer Eins wagte ich keinen Schritt. Und ich weiß, dass sich hinten in Nische 1 noch der rechtwinklig liegende Abzweig zur Nische 2 befindet... Wenn ich daran denke, dass ich laut Abmachung verpflichtet bin, in Nische 1 und später in Nische 2 zu gehen, wird mir wahrlich anders."
"Möchtest du zurückziehen, Petrich?", fragte von Gölzenstock.
"Nein! Nicht bei meinem Lohne dafür. Ich werde mich zusammenreißen und auf deine Anweisungen achten, Konrad."
"Denke daran, dass du uns nicht hören wirst, Petrich! Wir hören über die Mikrofone zwar dich, doch es gibt keine Lautsprecher, über die du uns hören könntest. Du bist im Keller des Kellers völlig auf dich allein gestellt. Das Experiment ist so ausgelegt. Wir wollen, dass die eventuell auftretenden Anomalien nicht durch unsere Stimmen gestört werden."
"Ich weiß es, Konrad. Und ich werde mich an alle Abmachungen halten. Ich werde von meinen Gefühlen dort unten sprechen. Doch ich werde keine Rückmeldungen von eurer Seite bekommen. Diese Härte nehme ich gern, denn mein Lohn ist hoch."
"Auch Hannes werden wir dir im Notfall nicht hinabschicken, denn er hat Angst."
"Ich werde damit leben müssen, Konrad. Auch das nehme ich in Kauf. Es ist alles auf eigene Gefahr. Herzinfarkt inklusive..."
Ich nickte vor mich hin. Und ich bewunderte aufrichtig den hohen Mut Petrich Boll´s. Ich persönlich hätte es nicht für 10 Millionen getan. Schließlich wußte ich, dass man wohl eine Art Vorhölle betreten würde, wenn es tiefste Nacht war.
Das Experiment würde 23.30 Uhr beginnen. Ab da würde Boll im Keller des Kellers sein...
Der hellere Tagesteil verging zäherzäh. Jeder hing seinen eigenen, meist düsteren Gedanken nach. Hannes durchschritt die Gemächer der Villa mit seiner Geige. Über eine Stunde hinweg spielte er herzzerreißende, weinerliche Melodien.
Ich saß in irgendeinem Zimmer stundenlang allein auf einem Stuhle. Ab und an drang das geisterhafte Spiel des Hannes an mein Ohr. Nur, um mich noch trübseeliger zu machen. Ich hatte mittlerweile fast eine halbe Flasche Whiskey geleert. Es war einfach nicht zum Aushalten.
Hinter meinem Rücken war ein Fenster. Einen Spalt breit hatte ich es geöffnet. Kaltluft drang an meinen Rücken, doch ich blieb, beschwerlich nach vorne gebeugt, sitzen. Wieder schluckte ich Alkohol hinunter. Und es zieselte grauenvoll und nach irgendeiner Krankheit klingend der Wind.
Allmählich wurde es finster. Ganz langsam. Kriechend...
Ich lauschte intensiv. Erwartete ich Geräusche außerhalb der Zieseltöne? Es tat sich nichts. Kein schwerer Seufzer wie am vergangenem Abend. Kein seltsames Nachhallen des diabolisch anmutenden Klanges, der Unerfahrene in den Irrsinn treiben konnte. Es zitterte etwas in mir ob der undurchsichtigen Erinnerung. Und obwohl ich inzwischen im Dunkel saß, hatte ich mitnichten das Bedürfnis nach Licht. Auch Boll, der itz durch den Raum schritt, mit tausend Sprüchen voller Tristesse auf den dünnen Lippen, die wie alte Schnüre wirkten, konnte mich innerlich in keinerlei Regung versetzen. Keine Lust auf ein Gespräch. Und ganz und gar keine Lust auf das Experiment...
Konrad von Gölzenstock trat ebenfalls kurz in den Raum, in dem ich stumm saß.
"Wir sollten beten.", sagte er. Ich erwiderte nichts, sondern hing weiter meinen merkwürdigen Empfindungen nach. Ich hoffte nur, der Hausherr würde mir mein schwächliches Desinteresse nicht übelnehmen. Das tat er auch nicht, denn schweigend verließ er die Räumlichkeit.
Stunden saß ich dann allein. Eine vereinbarte Zeit war erreicht worden. Ab nun würden wir alle weder essen noch trinken. Es war neun Uhr am Abend.
Wir hofften, durch kurze Stunden der Abstinenz unseren Geist gewissermaßen feinfühlig zu schalten.
Die letzten Minuten rannen dahin wie ganze Tage. Doch endlich erhob ich mich. Es war die Zeit der letzten Versammlung gekommen. Vor dem Überwachungspult in der Hauptbibliothek des morbiden Gemäuers...
Ich hinkte hin, meinen linken Fuß nachziehend. Unerklärlicherweise konnte ich mich nicht mehr unbefangen wie gewohnt bewegen...
Ich kam in der Bibliothek im Erdgeschoss an, sah mich um. Ich kam mir dabei vor wie ein alter Mann. Müdigkeit fühlte ich - langsam machende Müdigkeit. Doch auch die anderen drei Menschen, welche bereits versammelt waren, kamen mir nicht gerade wie das blühende Leben vor. Besonders Petrich Boll nicht. Auf ihn ging ich zu. Ich erschrak regelrecht, denn der Mann, vielleicht 40 Jahre alt, zitterte wie Espenlaub. Ich schlug ihm schweigend auf die Schulter. Dann kam der Hausherr näher und tat es mir gleich. Hannes wünschte Boll alles Gute. Es lag eine Stimmung in der dämmrigen Bibliothek, die einer Beerdigung glich. Trotz der Tatsache, dass wir seit über 2 Stunden nichts zu uns genommen hatten, roch ich überall Alkoholfahnen. Sogar der Bedienstete Hannes stieß eine solche aus.
"Passe auf dich auf, Petrich!", sagte von Gölzenstock mit belegter Stimme. Nochmals klopfte er dem unglücklichen Mann auf die Schulter. Boll nickte zitternd. Er hatte jetzt schon Todesangst...
Hannes packte Petrich Boll sachte am Arm und führte ihn in Richtung Vorraum, von welchem die Stufen in den Keller abführten. Die zwei Männer schlurften davon, als wären sie uralt. Auch ich kam mir vor wie ein 80-jähriger, kranker Mann - zumindest stellte ich mir das Fühlen eines solchen dergestalt vor.
Konrad begann damit, die Anlage einzuschalten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl. Vor mir stand ein Tisch, dahinter ein Gestell, an dem die technischen Gerätschaften befestigt worden waren. Ich sah einen Lautsprecher, die drei Monitore natürlich, ein flaches Schaltpult vor´m Sitzplatz von Gölzenstock´s. Es war alles gut organisiert und vorbereitet.
Hannes würde nur bis zur "Falltüre" gehen, von dort mußte Boll allein weiter. Hannes würde sich danach in sein eigenes Zimmer zurückziehen.
Ich schaute auf die Monitore, die nun heller wurden. Ich atmete ein wenig schneller und sog den Geruch alten Papieres ein. Hier waren durchaus sehr wertvolle Bände eingelagert in den zahlreichen, hohen Holzregalen.
Konrad hatte auch den Lautsprecher eingeschaltet. Ein leises Rauschen ertönte, dann hörten wir die Falltür klappen sowie langsame Schritte auf den Steinstufen. Petrich Boll befand sich auf dem Weg in den Keller des Kellers. Hinter ihm hatte Hannes das Türbrett wieder aufgelegt.
Die Monitore zeigten bläuliches, schwaches Licht, welches von der wattschwachen Lampe stammte, die im ersten Kellerraum mittig aufgebaut stand. Im Hintergrund sah man undeutlich den Mauerstein. Konrad konnte die Kamera per Kabelfernsteuerung in etliche Richtungen schwenken. Diese Anlage war nicht ganz billig gewesen.
Ein Klappstuhl ohne Lehne stand bereit, auch etwa in Mitte des ersten Raumes. Auf ihn ließ sich nun, wir sahen es deutlich, Boll nieder. Er hatte krampfhaft die Augen zugedrückt und schluchzte bitterlich.
Wir hatten den Mann in die Hölle geschickt...
Konrad von Gölzenstock verzog schmerzlich sein Gesicht. Dann drehte er die Lautstärke ein wenig herunter. Daumen und Zeigefinger am Drehschalter des Pultes zitterten dabei.
Das Bild auf dem Monitor 1 blieb unverändert. Boll saß da, hatte das Gesicht unter seinen Händen vergraben, saß weit vorgebeugt auf dem Klappstuhl. Die Monitore 2 und 3 zeigten lediglich leere Keller.
"Wie genau muß sich Petrich verhalten?", fragte ich dumpf. Es zog derb in meinem Rücken. Schmerzen.
"Er wird von jetzt bis 0.30 Uhr in diesem Raum sein. Er ist verpflichtet, auf seiner Armbanduhr nachzusehen, wann es soweit ist, in die Nische zu gehen. Er hat sich von 0.30 bis 1.30 in Nische 1 aufzuhalten. Er muß auch ein wenig hin- und hergehen. Von 1.30 bis 2.30 hat sich Petrich in der letzten Nische aufzuhalten - die mit den rostigen Eisenketten..."
"Nach drei Stunden also ist er erlöst.", meinte ich leise. Ich nahm den Blick nicht vom Bild vor mir.
"Richtig. Nach drei Stunden. Länger möchte ich das Experiment nicht hinausziehen. Es ist schon jetzt menschenunwürdig..."
"Und in der letzten Stunde in Nische 2 willst du das Licht auslöschen?"
Konrad nickte. "Ja. Die letzte halbe Stunde in der entscheidenden Kammer wird er ohne Licht auskommen müssen. Ein extrem leichtes Glimmen wird noch vorhanden sein, ein winziges Licht, für´s menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar. Ich kann die blaue Speziallampe so weit herunter dimmen. Die letzte Kamera weist einen Restlichtverstärker auf. Boll wird es vorkommen, als säße er im absoluten Finster..."
"Hast du vorgesorgt für den Fall, dass seine Armbanduhr defekt wird? Ich meine, wann soll er wissen, wenn ein Raumwechsel erfolgen soll, würde die Uhr kaputt sein? Wir können nicht mit ihm reden auf die Ferne..."
"Es ist vorgesorgt.", sagte von Gölzenstock leise. "Wenn er einschläft, was nicht passieren wird, oder aber seine Uhr nicht funktioniert, werde ich die Kamera extrem hin- und herbewegen, was mit einem recht lauten Ton des kleinen Elektromotors verbunden ist. Er wird das dann mit Sicherheit merken. Er ist informiert, dass dies das Notzeichen ist."
Ich schwieg. Soweit waren mir die geplanten Dinge nochmals klarer geworden.
Hinter unseren Rücken klappte leise die Bibliotheken-Tür. Hannes steckte seinen Kopf herein.
"Wenn sie gestatten, ziehe ich mich nun zurück.", sprach die gute Seele ernst und mit leicht zittriger Stimme.
"Tun sie das!", sagte Konrad. "Aber denken sie daran: Sie sind auf Bereitschaft. Im Notfall werden wir sie wecken!"
"Sehr wohl. Ich habe verstanden."
Hannes zog den Kopf zurück und verschloss die Tür. Ich konnte mir denken, wie unangenehm ihm die ganze Sache war.
Ein Geräusch ließ meine vollste Aufmerksamkeit der Überwachungsanlage gelten. Boll hatte einen merkwürdigen Ton von sich gegeben. Und ich sah auf Monitor 1, wie er auf seinem Stuhle hin- und herrutschte... Was ich dann sah, ließ mich erstarren! Und dabei saß er noch nicht einmal im wirklich entsetzlichen Bereich...
Boll schaute nämlich auf. Und sein Antlitz war derart von Seelen-Pein geprägt, dass es einfach völlig mitnahm. Man sah, dass die Wangen des korpulenten, schwarzhaarigen Mannes zuckten, als würden sie durch Stromstöße malträtiert. Auf der Stelle benutzte Konrad neben mir seufzend einen Drehschalter - das Bild des entstellten Gesichtes zoomte heran.
Doch das Zucken hatte bereits aufghört. Petrich flüsterte irgendetwas in Richtung Kamera. Dies alles geschah JETZT - etwa 8 bis 10 Meter unter uns.
Von Gölzenstock drehte die Lautstärke auf. Das Flüstern Petrich Boll´ s schallerte geisterhaft durch die Bibliothek.
"Ich... Ich hatte eben den Eindruck... Nein, ich täusche mich bestimmt... Muß mich einfach täuschen... Aber: Es riecht sehr merkwürdig hier, ganz plötzlich. Es riecht wie... wie... ein offenes Geschwür, eine Wunde... oder sowas. Genau kann ich es nicht sagen. Aber der Raum ist leer. Ich weiß nicht, wie es... da plötzlich stinken kann. Es riecht... riecht nach einem alten, kranken Menschen..."
Konrad zoomte wieder weiter weg, wir sahen den Probanden ganz auf seinem Stuhle. Der blickte sich nervös um. Sein Gesicht schaute wieder relativ normal aus.
Der Hausherr brummelte vor sich hin. Ich hörte heraus, dass er den verdammten Geruch - wie er sich wörtlich ausdrückte - auch oft bemerken würde. Mal hier, mal da im Hause.
Die nächsten Minuten vergingen an sich ruhig. Boll saß reglos da, mit leicht geschlossenen Augen. Es sah aus, als würde er meditieren.
Plötzlich erklang von draußen - außerhalb der Bibliothek - Geigenspiel. Wir schraken heftig zusammen, denn das unerwartete Tönen hatte uns aus vollster Konzentration gerissen. Und plötzlich spürte ich wieder das heftige Ziehen im Rücken.
"Hannes!", flüsterte von Gölzenstock und schaute mich aus blutunterlaufenen Augen an. "Dieser Verrückte! Warum schläft er nicht und rennt wieder mit seiner Violine durch die Gänge? Ich muß das unterbinden!"
Konrad schoss vom Stuhle hoch und enterte den Flur. Doch als er die Tür aufgetan hatte, verstummte draußen die getragene, todtraurige Musik.
Er rief den Namen des Bediensteten mehrmals. Doch keine Antwort. Schließlich hörte ich, wie seine Schritte in den Tiefen des Hauses verhallten. Er schien zum Gemach seines Angestellten zu eilen.
Nach schier endloser Zeit kam er zurück. Auf dem Monitor noch immer das gleiche Bild des ruhig dasitzenden Boll.
Konrad war noch bleicher als sonst. Erregt ließ er sich neben mir nieder.
"Hannes war in seinem Bett. Er beteuerte, nicht in den Fluren und Gängen gewesen zu sein. Sein Instrument lag wohlverwahrt im Kasten. Er hat definitiv nicht gespielt. Allerdings meinte er, nichts gehört zu haben..."
"Dein Haus macht mich richtig krank, Konrad...", entgegnete ich nur. Schlagartig war ich wieder hundemüde geworden, während das Ziehen im Rücken verschwunden war.
"Ich werde nach dem Experiment entscheiden, was ich tun werde.", hauchte von Gölzenstock erschüttert. "Allmählich fühle auch ich mich hier nicht mehr wohl..."
Wir starrten schweigend auf die Monitore. Hauptsächlich hin zu Petrich Boll, ab und an auch auf die Bildschirme, die Nische 1 und 2 zeigten. Dort gab es nach wie vor nackte, dunkle Wand zu sehen.
Es vergingen einige weitere Minuten, und anscheinend war die Zeit schneller dahingeflossen, als es unser Gefühl vorgab. Boll schaute auf seine Armbanduhr. Er gab dabei einen Kommentar ab, den wir über Lautsprecher hörten. Die Augen des Mannes lagen tief in den Höhlen - wir sahen es, als Konrad wieder näher mit der Kamera heranging.
"Es wird bald Zeit für mich...", stammelte Boll. "Meine Uhr zeigt mir an, dass bald die zweite Stunde anbricht. Nische 1 wartet schon auf mich. Ich habe eine unglaubliche Angst, da reinzugehen. Und der Gedanke daran, in der letzten Stunde Nische 2 zu besuchen, lässt mich schier wahnsinnig werden..."
Konrad stellte wieder eine Totale ein. Boll rutschte unruhig auf dem Klappstuhl umher. Dann schien er plötzlich zu erstarren. Ich hatte den Eindruck, dass er angestrengt lauschte. In die Finsternis hinein...
"Ich... Ich höre etwas...", flüsterte er.
Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich schielte zu Konrad hinüber. Der atmete heftiger und saß mit halb geöffnetem Munde da.
"Ich... bin mir nicht ganz sicher, aber es ist, als... Aber ich möchte nichts sagen... Vielleicht täusche ich mich. Ich hoffe sogar, mich zu täuschen. Ich höre nichts mehr..."
"Psychischer Selbstschutzmechanismus.", murmelte von Gölzenstock. "Er hat mit Sicherheit wirklich etwas gehört. Ich weiß auch, was..."
Ich blickte fragend zu meinem Nebenmann hinüber.
"Ein Atmen...", flüsterte Konrad tonlos. "Er hat ein Atmen gehört..."
"Woher willst du wissen, ob..."
"Weil ich es selbst schon gehört habe da unten. Ganz deutlich..."
Innerlich schüttelte es mich durch. Konrad´s Augen waren stier auf mich gerichtet. Sie wirkten wie die Augen eines Wahnsinnigen. Ruckartig ging mein Blick zum Monitor 1 zurück. Ich konnte den Blick des Versuchsleiters nicht mehr ertragen. Und es tat sich gerade etwas im Keller des Keller´s. Petrich Boll erhob sich. Er nahm den Klappstuhl, stellte sich näher an die Kamera.
"Ich... Die Pflicht! Es ist meine Pflicht, jetzt in Nische 1 zu gehen. Aus ihr... aus ihr strömt eine eisige Kälte..."
Und Petrich Boll verschwand aus dem Bild. Dieser Teufelskerl brachte wirklich den Mut auf, das Experiment fortzusetzen. Das zweite Drittel begann...
"Er ist irre...", flüsterte Konrad. "Nur im verwirrten Zustand wagt man es, tief nachts in Nische 1 zu gehen. Gott möge ihm beistehen!"
"Das hoffe ich auch für ihn.", sagte ich leise. Ich wusste, dass die Sache nun erst richtig begann...
Auf Monitor 2 tat sich etwas - Petrich gelangte ins Bild. Er zeigte uns sein Profil. Er starrte in die weitere Tiefe dieses langgestreckten Raumes hinein. Dabei atmete er heftig. Wir hörten das deutlich.
Normalerweise hätte er sich nun auch der Kamera zuwenden müssen, doch das tat er nicht. Unbeweglich stand der Mann dort und blickte auf einen Punkt.
"Wieso kondensiert sein Atem nicht?", nuschelte von Gölzenstock vor sich hin. "Er sprach doch von eisiger Kälte..."
Petrich Boll gab uns die Antwort, als hätte er die Gedanken des Versuchsleiters erahnt.
"Es... ist eigenartig! Vorhin waberte aus dem Raum noch kalte Luft. Das war aber... eher wie eine Wand, nicht dick. Dahinter ist es stickig. Auch da, wo ich jetzt bin. Es riecht sehr schlecht. Irgendwie wie Erbrochenes... Und es ist seltsam lauwarm.
Ich habe noch nie vorher in einem unangenehmeren Raum gestanden!"
Boll stand noch immer da und zeigte uns seine rechte Seite. Der leichte Stuhl war ihm aus der Hand gefallen und lag nun auf dem steinernen, dunklen Boden. Wir sahen deutlich, dass der Mann wieder seine Gesichtszuckungen hatte.
"Unglaublich!", hauchte Konrad. "Er ist regelrecht erstarrt, nur das Gesicht befindet sich in einer Bewegung, welche man von einem Schock kennt. Wenn die Farbe nicht verfälscht wäre, würde man sehen, dass seine Gesichtshaut aschfahl ist, vielleicht gar mit einem Stich ins Grünliche."
Wie ein Bollwerk blieb Petrich standhaft auf dieser einen Stelle treten. Minuten kein anderes Bild auf dem Monitor.
Plötzlich knarrte es hinter uns. Wir fuhren herum. In einem weiten Schwunge war ein Fensterflügel aufgegangen. Wind wehte in die Bibliothek.
"Das ist doch...", fuhr Konrad auf. "Ich hatte das Fenster doch verschlossen..."
Ich stand auf und ging hin. Kurz steckte ich den Kopf in die weit vorangeschrittene Nacht hinaus. Da säuselte es durch die Finsternis heran - erst ganz leise, dann deutlicher, schließlich unüberhörbar. Drinnen im Raum sank von Gölzenstock regelrecht zusammen auf seinem Sitz. Sein Antlitz stach wie eine helle Scheibe aus der Schwärze heraus - und er war genauso entsetzt wie ich. Draußen tönte - mit wimmernden Zusatzklängen - das Schallheimer Pfeifen...
Ich verschloß benommen das Fenster. Das Geräusch draußen ebbte bereits wieder ab, als ob es gemerkt hätte, dass wir es ja inzwischen vernommen hatten.
Von Gölzenstock tätigte hierzu keine Bemerkung. Auch ich schwieg und setzte mich wieder hinter die Überwachungsanlage.
In Nische 1 begann Petrich, stockend und zittrig zu flüstern... Immer noch zeigte er sich uns von der Seite.
"Ich... Es ist, als... Ich weiß nicht, ob dort hinten..."
Er atmete tief durch. Das Gesicht zuckte nicht mehr - zum Glück, denn es musste ihm Qual bereiten.
"Dort in der finsteren Ecke - das... das wenige blaue Licht reicht nicht hin... Ich habe den Eindruck, als... ob dort jemand steht."
Aus dem Lautsprecher drang plötzlich ein kurzes, trockenes Geräusch, als wäre da unten ein Stein zu Boden gefallen.
"Dort...", stammelte Boll. "Eine Gestalt... Ich habe... Eine Bewegung... Etwas... fiel herunter!"
Hinter unseren Rücken, an einem der hohen Regale, klangen Klopfgeräusche auf...
Es handelte sich erneut um das viermalige Pochen, welches ich bereits auf meinem Zimmer vernommen hatte. Immer wieder kurz Pause, dann wieder das Klopfen. Wir blickten uns kurz um, doch da wir nichts sahen, wandten wir die gemeinsame Konzentration wieder den Monitoren zu.
Petrich drehte sich plötzlich in unsere Richtung. Sein Gesicht war starr & steif wie eine Maske. Der Mann stand kerzengerade dort, dann bewegte sich der Mundbereich. Die Kamera ging nah heran - der Kopf gelangte voll ins Blickfeld.
Hinter uns endete auf einmal das Pochen. Nun hörten wir deutlich Geräusche aus dem Lautsprecher: Zähneklappern! Boll klapperte mit den Zähnen, wie wir nun auch deutlich erkennen konnten. Nebenher gab es ein schnatterndes Geräusch von seinen Lippen. Es war grotesk, kurios - und trotzdem im höchsten Maß besorgniserregend.
Wir sahen, dass unsere Versuchsperson den Stuhl wieder aufnahm, diesen öffnete, sich darauf setzte. Dabei ununterbrochen das Klappern mit den Zähnen und das bizarre Geschnatter. Das Gesicht Boll´s präsentierte sich schweißnass.
Jäh riss Boll den Kopf zur Seite. Dann lispelte er einige wenige Worte. "Dort hinten... Wie ein schwarzer Rachen..."
Ich schaute entsetzt zu Konrad. Der nickte wissend.
"Er meint den Eingang zur weiteren Nische. Von seiner Position aus muss dieser tief schwarz erscheinen. Er hat wohl bereits all sein Sinnen auf den letzten Raum gelegt..."
Mein Blick flog zum Monitor zurück. Konrad hatte den Kopf wieder nah herangefahren. Wir sahen nun, da Petrich Boll wieder in unsere Richtung schaute, dass seine Augen rollten. Ab und an schielte er, dann zeigte sich uns lediglich das Weisse in den Augen. Letztendlich fiel sein Körper regelrecht nach vorne. Nur mit Mühe konnte der Mann sich noch auf dem Stuhl halten. Von Gölzenstock war wieder auf die Totale gegangen. Da sahen wir, wie sich Boll übergab.
Konrad hatte die Augen zu Schlitzen verengt. "Unglaublich! Diese Auswirkungen dort sind unbegreiflich! Ein Frontal-Angriff auf seine Psyche. Vielleicht ist auch der viele Alkohol nicht ganz unschuldig."
"Ohne Trinkerei hätte Petrich den Keller des Kellers nie und nimmer betreten - dessen bin ich mir sicher."
"Vermutlich hast du Recht!"
Es war vorbei mit dem Erbrechen. Nun klapperte und schnatterte es wieder. Nach etlichen Minuten schließlich stand Boll vom Klappstuhl auf.
"Er hat Weisung, ein wenig herumzugehen.", flüsterte der Hausherr. "Er hält sich trotz aller Attacken an unsere Abmachungen. Einen besseren Mann hätte ich vermutlich gar nicht auftreiben können."
Konrad führte mit der echten Hand einen kleinen Stick. Er konnte damit die Kamera rundum schwenken. Unser Mann da unten blieb in Sicht. Her und hin ging er. Langsam, vorsichtig, schlurfend. Ab und an starrte er irgendwelche Teilbereiche des Kellers an, die zumeist im Dunkel lagen.
Es war, als fühle er von dort etwas... Aber er äußerte sich nicht zunächst nicht mehr mündlich.
Nach endlosen Minuten blieb er wieder ruhig stehen. "Da... da ist gar niemand... Dieser Bereich der Ecke dort... Vielleicht war da etwas. Jetzt nicht mehr. Auch keine Geräusche. Es... ist... totenstill hier unten..."
Dieser Satz wirkte in mir nach! Totenstill! Aus dem Lautsprecher war in der Tat nichts hörbar. Boll klapperte auch nicht mehr mit den Zähnen. Hatte er sich an die Atmosphäre gewöhnt? Ich stellte die Frage an Konrad.
"Ich kann nur eines sagen", antwortete der Versuchsleiter. "An Nische 2 wird er sich nicht gewöhnen können. In einigen wenigen Minuten ist es soweit - dann wird er sie betreten, wenn er es wagt. Ich bin zuversichtlich, dass er es macht."
Von Gölzenstock starrte wieder auf die Bildschirme. Ich tat es ihm vertieft gleich.
Als ich kurz zur Seite schaute, bemerkte ich, dass Konrad verschwunden war...
Aber ich sah die offene Tür. Er musste in das Treppenhaus gegangen sein. Vielleicht war er auf der Toilette.
Plötzlich stand er wieder im Raum. Er schüttelte müde den Kopf.
"Ich war kurz beim Schädel der von Klatten.", sagte er.
"Und? Wie sieht es dort aus? Trieft der Knochenkopf noch?"
"Triefen ist kein Ausdruck. Jetzt hat es erst einmal aufgehört. Die Tischdecke ist von regelrechten Bahnen bedeckt. Den Schädel selbst sieht man nicht mehr..."
"Wieso? Was ist da..."
"Er ist von dickster Eiter-Kruste überwuchert." antwortete von Gölzenstock. "Alles eingetrocknet. Er triefte wie noch nie vorher. Es muß damit zusammenhängen, dass unser werter Freund Petrich da unten ausharrt."
Ja, das stimmte vermutlich. Und Konrad schloss noch schnell die Tür, setzte sich wieder hinter die Anlage. "So.", murmelte er. "Jetzt bleibe ich hier. Denn gleich wird es interessant..."
In der Tat würde es das werden. Ich hatte das stille Verlangen nach einem Zigarillo. Doch wir hatten uns vorher entschlossen, keinerlei Genußmittel während der Wacht zu konsumieren.
Und da vorne auf dem Monitor wurde Petrich Boll wieder unruhig... Er schaute auf die Uhr am Handgelenk. Aus dem Lautsprecher erklangen seine gestammelten Sätze.
"Sie... sie geht noch, die Uhr... Ungewöhnlich... Hätte... hätte ich nicht gedacht... Ich muß in wenigen Minuten in die letzte Nische hinein... In... wenigen Minuten..."
Konrad zoomte das Antlitz des Probanden heran. Es war schreckensstarr.
"Die... die Wärme... jene seltsame Wärme und Stickigkeit... Das hat sich... verzogen. Jetzt ist es sehr kühl geworden. Ich... setze mich noch einige Minuten still hin. Dann... werde ich die Sache zu Ende bringen. Der... der letzte Raum... Ich habe... den Eindruck: Er wartet auf mich..."
Der letzte Satz von Boll hatte mich tief berührt. Ich wusste um die Verzweiflung des Mannes, dort hinein zu gehen - und gleichzeitig drückte diese Aussage schon eine gewisse morbide, fast pervers zu nennende Sehnsucht aus. Mir war es ohnehin, als würde die Aura allmählich durch die Bildschirme auf unseren Aufenthaltsraum - die Bibliothek nämlich - überschwappen. Ob Konrad von Gölzenstock ähnlich fühlte, war mir nicht bekannt. Er stierte mit fast bös´ wirkendem Blick auf die eingefangenen Szenen aus dem Keller.
Dann war es soweit!
Petrich kam ganz nahe an die Kamera heran. Wir sahen kondensierten Atem, während er redete. Dumpf hallte es leicht im Gewölbe nach.
"Ich möchte... melden: Ich glaube - aber glaube es nur - dass mich... gerade etwas an der... Hand... berührt hat."
Konrad und ich merkten auf. Zwanghaft schoben wir die letzten Reste Müdigkeit weit von uns fort. Gebannt lauschten wir den weiteren Stammeleien des Probanden.
"Es ist... merkwürdig. Es war wie eine... normale... Hand, die mich kurz striff. Dann... war es wieder... als würde..."
Petrich brach in Tränen aus.
"Der ist fix und fertig, Konrad!", zischte ich. Der Hausherr bejahte, doch meinte ergänzend, dass das Experiment nun unter keinen Umständen abgebrochen werden durfte. Das verstand ich. Wie mochte es wirklich in Boll aussehen, der persönlich in dem verdammten Loch ausharrte wie die Maus, die weiß, dass gleich die Katze kommt...
"Es war... als ginge nach dieser... dieser Berührung jemand zu dem Schlund dort... Es ist der... Eingang zu Nische 2... Nicht wahr? Ich... muß jetzt rein..."
Petrich nahm den Stuhl auf. Dann ging er zaghaft los. Konrad ließ die Kamera schwenken. Wir sahen, wie Petrich im Eingang zum letzten Raum stand. Er blickte letztmalig zur Kamera herüber. Dann sahen wir, wie er wirklich hineinging...
Einmal - ich sagte es bereits - war ich persönlich selber dort drinnen gewesen. Doch nein - wiederholen würde ich eine solche Aktion nie wieder! Über Kamera 3, welche nun für die Übertragung verantwortlich war, bekamen wir den schluchzenden Boll zu Gesicht. Kamera 1 und 2 gaben nackte Wand wider.
Boll redete nicht. Zunächst nicht. Er zitterte. Stellte den Stuhl auf, etwa in Mitte des diesmal leicht gekrümmten Raumes, setzte sich. Diesmal ging sein Blick schnell und hetzend in alle Richtungen. Panik... Nackte Angst in Urform. Er litt wie ein Hund. Aber immerhin: Unser Petrich befand sich in Nische 2. Noch eine Stunde Ausharren in der Kammer der stattgefundenen Häutung einer lebenden Elisa von Klatten...
Ganz rechts, ganz hinten, im völligen Dunkel liegend, die rostigen Ketten mit den Ringen an der Frontwand, der alte Tisch mit der dreckigen Tasche, von deren Inhalt ich lieber nichts wissen wollte... Man sah dies alles noch nicht, doch Boll hatte versprochen, ein wenig herumzugehen. Würde dies noch folgen oder war die Furcht zu gewaltig? Wir würden es sehen...
Petrich stammelte schnatternd.
"Es... Hier... Ich..."
Es riss seinen Kopf herum. Er starrte neuerlich in Bereiche, welche nicht vom blauen Licht erreicht wurden.
"Hier ist... Die Quelle allen Unheils - sie ist hier!..."
Wieder sein herumfliegender Kopf.
"Das Dunkel... Hier lebt... es. Lebt es... Ja... so sage ich es euch... Und: Diesmal täusche ich... mich nicht. Wenn auch nicht... in Person: Eine Präsenz des Todes... Ja, diese gibt es. Schleichend... Kriechend... Hier kriecht jemand... auf dem Boden... herum..."
Konrad gab ein erschrockenes Geräusch ab.
"Dieser Wahnsinnige... Was redet er?..."
Ich konnte von Gölzenstock hier nicht verstehen. Boll war es, der sich unten befand. Und der würde wohl wissen, was er fühlte.
Ich dachte an die letzte halbe Stunde. In dieser würde Boll im völligen Dunkel sitzen. Übertrieben wir es nicht etwas? Doch ich wusste, dass der Hausherr eisern am Plan festhielt. Nie und nimmer würde er sich überreden lassen, das blaue Schwachlicht die ganze Stunde über eingeschaltet zu lassen.
Ich schaute mir alles genau an, was der Monitor aus Nische 2 zeigte. Ich begutachtete die Struktur des Mauersteins; versuchte, irgendwelche Schatten auszumachen. Und freilich beobachtete ich Petrich, der nun wieder zittrig sprach.
"Es ist der... nackte Irrsinn hier! Etwas kriecht herum - hört ihr es?"
Wir hörten nichts. Konrad hatte längst den Lautsprecher kräftig aufgedreht.
Wieder Boll: "Es zeigt sich nicht... Es bleibt... im Finsteren. Aber nein - es ist alles still, alles... still..."
Der Mann saß unbeweglich dort. Sein Kopf flog nicht mehr nach links und rechts. Aber er hatte sich mitnichten gesammelt. Die Eishand unverfälschter Angst hielt ihn gepackt, ließ ihn nicht los.
Ruckartig stand Petrich auf. Langsam und peindurchsetzt ging er nun Schritt um Schritt. Konrad ließ die Kamera mitgehen.
"Hoffentlich schaut er nicht in die Tasche auf dem Tisch...", murmelte der Versuchsleiter leise, während er langsam den Stick weiter nach rechts drückte. "Letztlich glaube ich zu wissen, was darinnen ist..."
"Was?", fragte ich unter Erwartung allen Schreckens.
"Ein Abziehwerkzeug. Und die Haut..."
Entsetzt warf ich all mein Ansinnen hinunter zu Petrich Boll, dem Lebensmüden. Dieser schlich wie ein Geschundener durch Nische 2. Ich wußte, dass er einen eigenen Willen nur noch in Resten besaß...
Von Gölzenstock ließ unentwegt die Kamera mitschnurren.
Das Blaulicht zeigte schwache Bilder. Oft mussten wir mehr erraten, was da im Dunkel vor sich ging. Denn da ging Petrich Boll umher - im Dunkel...
Er gab Fiep-Laute von sich - wie eine überdimensionale Ratte.
"Kriiiiiieee! Fiiiieeeh! Fiiiiiehhh! Kriiiiiiiiiiii!"
Konrad hatte voller Entsetzen seinen Kommentar abgegeben. "Jetzt ist er nicht mehr Herr seiner Sinne..."
Anderer Meinung war ich längst auch nicht mehr...
Boll lief nun wild umher. Aber schlagartig ließ er sich auf dem Klappstuhl nieder. Er wurde wieder zur fast unbewegten Figur. Er ließ seine Hände über sein Gesicht fahren. Immer wieder. Ohne erkennbaren Sinn. Ganz so, als wölle er sich säubern. Er wirkte plötzlich wie ein Eichhorn, welches sich putzte. Es gab entsprechende Geräusche, die verrieten, dass viel Speichel im Spiele war. In der Tat: Boll spuckte und gäferte auf seine Hände. Die Spucke verteilte er sich selbo im Antlitz. Dabei ruckte sein Oberkörper nach links und rechts. Zuckend. Ruckend. Ab und an schaute er auf. Wir hörten jedoch keine Laute. Aber Boll meinte, stetig welche zu vernehmen. Er zischte von Geräuschen unmittelbar an seinem Ohre. ´Petrich!´...
Immer wieder, so sagte er in Bruchstücken, würde ihm sein Name ins Ohr geflüstert...
`Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!... Petrich!...´
"Das stimmt so nicht!", sagte von Gölzenstock zischend. "Das stimmt so nicht! Er hört gar nichts!"
Ich schluckte. "Aber du hörtest doch auch ein Atmen, Konrad!..."
"Jaaa!", schrie mich Konrad an. "Aber nur ein Atmen - keine Stimme!!"
Ich zog es vor, ihn nicht zusätzlich zu reizen. Von Gölzenstock befand sich in einer psychischen Extrem-Situation. Er hatte nicht mehr die richtige Macht über sich selbst. Ihn hielt Todesangst umkrallt, denn jäh begannen seine Wangen zu zucken. Dann klapperten Konrad´s Zähne. Und es wurden schnatternde Töne hörbar...
Ich schlug dem Hausherren mehrmals kräftig ins Gesicht. Er kam wieder mehr zu sich, entschuldigte sich stockend. Dann übernahm er wieder die Kontrolle über die Anlage.
"Es dauert nicht mehr lange...", flüsterte er. "Dann muß ich das Licht da unten endgültig ausschalten!"
Ja, das war mir klar. Und die Sache mit dem Löschen des Lichtes stellte die Sachlage dar, die mich am meisten verstörte und beunruhigte. Ob sich Petrich, der sich da unten ziemlich entrückt benahm, daran entsinnen konnte? Wir sahen nun, dass der Mann sich neuerlich von der Sitzfläche erhob. Aber er ging nicht weiter umher, sondern blieb gleich unmittelbar neben dem Klappstuhl stehen. Von Gölzenstock fuhr das Antlitz des Gequälten näher.
"Es ist... Es ist..."
Boll stotterte jetzt.
"Ts... di..fa..gi...kal... mi... jie..."
Ich schüttelte den Kopf. Doch sofort darauf sprach Petrich weiter. Seine Stimme kam nun sogar astrein und ohne Stammelei aus der kleinen Box.
"Ich nenne die Temperatur: Etwa 2 Grad Celsius. Der Geruch: Eigenartig. Ich kann ihn leider nicht näher benennen. Gegenwärtig ist dort hinten etwas - im blassen Schein sah ich dort Ketten. Ja - da steht eine Person. Sehr aufrecht, nicht gebeugt. Dunkel wie ein Schatten. Daneben ist wohl etwas wie ein Tisch. Ja, ein grob zusammengezimmerter Tisch mit einem Gegenstand darauf. Ich gehe näher jetzt."
Konrad ließ die Kamera mitgehen. Der Gesichtsausdruck des Hausherren stellte sich entrückt dar...
Wir sahen, dass Boll ein Feuerzeug aufschnippen ließ. Mit der kleinen Flamme als Zusatzlicht ging er vorwärts - wenige Schritte nur. Nun sahen wir dank dieser geringen neuen Quelle weitere Einzelheiten. Den Tisch eben. Die Tasche darauf...
"Eine Tasche!", bestätigte Boll dumpf. "Ich werde sie öffnen."
Und der für mich Verrückte ging an den Tisch heran...
Von Gölzenstock ließ die Kamera schwenken. Er zoomte dabei wild herum. Kurz kam die abschließende Frontmauer ins Bild, die ganz hinten im Schwarz lag. Boll´s Feuerzeug erhellte die Szenerie zusätzlich ein wenig. Wir erkannten deutlich die Ketten mit ihren Schellen für die Handgelenke. Aber nur sehr kurz, dann lagen wieder die düsteren, undurchdringlichen Schatten darüber. Etwas aber sahen wir nicht: Die Gestalt, von der Petrich gesprochen hatte.
Petrich näherte seine Hand der bauchigen, alten, ledernen Tasche auf dem Tisch. Mit der anderen Hand leuchtete er. Plötzlich tauchte blitzartig so etwas wie ein durchscheinender, braun-rötlicher, knochiger Unterarm auf und schien Boll´s Hand zu packen. Der wüste Aufschrei Petrich´s, das schnelle Sprinten in eine weit entfernte Ecke - ziemlich nah am Eingang zur Nische 2: Diese Dinge waren eins!
“Wahnsinniger!!!”, entfuhr es dem entsetzten Konrad von Gölzenstock.
________________________
Unten in Nische 2
Nichts! Er sah absolut nichts. Die Schwärze drückte ihm fast die Augen ein. Die dumpfe Ausstrahlung der Nische 2 mit all ihren unerklärlichen Schrecklichkeiten wirkte allmählich auch auf den Körper Boll´s… Er war gefangen innerhalb des Entsetzens - teils des eigenen - teils eines fremden! Die Wucht der angesammelten Wut, Todesangst, der blutigen Pein - diese Dinge waren es, die hier unten lagerten und nun wallten, da dieser Besucher Petrich Boll jenes geheimnisvolle Funktionieren von Einzelfaktoren des Paranormalen störte…
Ein Fremdkörper in einer eigentlich anderen Welt…
Und plötzlich begann es wirklich...
Dort hinten rasselte es. Die rostigen Ketten an der Wand… Boll versteifte.
Plötzlich flammte jäh ein rötliches Licht auf - hinten an der Wand des Schreckens. Petrich schoss vom Stuhl hoch…
Während noch immer das Atmen da war, zuckte für den Bruchteil einer Sekunde eine Gestalt in den Ketten auf. Gepeinigt, kniend am Boden. Dann brach dieses Bild weg. Die Ketten fielen leer und schlaff nach unten und klirrten auf den Stein auf. Das rötliche Licht erlosch. Etwas polterte nach unten. Die Tasche. Und Petrich schrie, schrie und schrie. Und schlagartig kam dieses Licht zurück…
_________________
Oben an der Überwachungsanlage
Wir sahen kurz ein rötliches Licht, nachdem wir Geklirre von Ketten gehört hatten. Dann knackste es scharf im Lautsprecher und ALLE drei Kameras fielen aus. Schwarze Monitore. Von unten aber, tief unten, hörten wir einen Mann schreien wie ein Tier. Petrich Boll… Es waren die schlimmsten Schreie eines Menschen, die ich je vernommen hatte.
Konrad vereiste auf seinem Sitz. Das Geschreie Boll´s hallte durchs gesamte Haus… Aber er war noch dort unten - im Keller des Kellers…
“Wir müssen runter!”, rief ich. “Er schwebt in Lebensgefahr!”
“Nie!”, lallte Konrad.
Ich rannte los, während von Gölzenstock tatenlos sitzen blieb. Ich verübelte es dem Hausherren nicht. Er war Gefangener der unverfälschten Todesangst…
Ich polterte in den oberen Keller hinunter, es war stockdunkel dabei. Wie ich mich überhaupt im grauen Restlicht orientieren konnte, kam einem Wunder gleich. Ich eilte gerade auf die Klappe im Boden zu, die nach unten in den Keller des Kellers führte, als diese nach oben aufflog. Das Gesicht Petrich Boll´s war derartig weiß, dass es schier aus dem Dunkel herausleuchtete. Der Mann kam an die ´Oberfläche´ gekraxelt. Stand da, wankte… Von unten hörte ich ein verrücktes Getöse, und es schimmerte rötlich aus dem Rechteck des Einstieges heraus. Der Einstieg in eine eigene Hölle…
“Nach oben, rasch!”, keuchte Boll. Wir eilten los. Das nächste Ziel hieß Bibliothek, in der starr und teilnahmslos Konrad von Gölzenstock saß. Als wir bei ihm ankamen, die Türe weit auflassend, erhob sich jener wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing. Er starrte uns an - nein: Er starrte hinter uns. Und er fiel auf die Knie, die Hände wie zum Gebet gefaltet…
Was er gesehen hatte, werde ich nie erfahren. Ich weiß nur noch, wie mich eine Kraft packte, umkrallte. Dann wurde ich rückwärts - rasend schnell - heraus aus der Bibliothek gezerrt. Von Gölzenstock und Boll blieben zurück. Ich sah gerade noch, wie der Hausherr regelrecht in sich zusammenfiel. Dann ging meine rasende Reise, gegen die ich absolut nichts tun konnte, Treppen hinab - Richtung Keller des Kellers…
´Aus´ , dachte ich nur. ´Es ist aus…´
Wahnwitzig schnell war ich im oberen Kellerbereich. Was mich da gepackt hielt, wusste ich nicht. Es war auch nichts zu sehen von einer gigantischen Umklammerung. Wenn es die gab, war sie unsichtbar…
Ich flog über den schmutzigen Boden der verzweigten Kellerräume hinweg. Krampfhaft blickte ich kurz seitwärts. Ein kleiner Raum mit Schaufeln und Kohlen entschwand aus meinem Blickfeld. Dann gab es schon die Klappe. Weiter nach unten! Rücklings, mit dem Kopfe voran, ging es steil in die geisterhafte Tiefe…
Hauptraum, dann zischte ich in die Nische 1 hinein. Ich pfiff den langen Raum entlang, dann ging es so scharf im rechten Winkel ab, dass ich vor Schmerz aufschrie. Die Fliehkraft nahm sich enorm aus.
Nische 2! Ich raste den gefährlichsten Ort der Welt entlang, knallte mit dem Rücken gegen die letzte, ganz hinten liegende Wand. In meinem Kopf blitzte ein Feuerwerk auf. Doch ich kam schnell zu mir. In Ruhelage saß ich an der Mauer, zwischen den beiden rostigen Folterketten…
Ich sah es, denn es loderte rötlich hier. In mein Blickfeld geriet die herab gefallene, dunkle Tasche. Sie lag gekippt da. Ein riesiges verschlossenes Glas lugte heraus; in einer undefinierbaren Flüssigkeit schwammen Augen, eine Zunge, anderes organisches Zeug. Und soweit ich es erkannte, eine herausgeschnittene Vagina…
Das bedrohende Licht wurde etwas intensiver, von rechts kam ein furchtbar deutliches Atmen… Ich schloss die Augen. Mir war klar, dass sich gleich die Ketten um meinen Körper schlingen würden… Ich war geholt worden. Nicht umsonst…
Von vorn trieb Leichengeruch auf mich zu, und es ballte sich eine fast feste Luft vor mir auf, in der es dunkelrot bis braun vibrierte und waberte. Und aus dem Hintergrund - ich bekam es am Rande der Ohnmacht mit - drang eine Stimme.
In mir dröhnte alles - ich war ein einziger Hort der Schmerzen. Der Gestank war so dicht, so intensiv geworden, dass er nicht mehr geatmet werden konnte. Tod durch ersticken…
“Kommen sie! Schnell! Warten sie, ich helfe ihnen hoch!”
Hannes!
Der Bedienstete zerrte mich auf die Beine.
“Sie hier? Was…”
“Keine Zeit für Reden! Wir müssen fliehen! Los!!!”
Ich taumelte mit Mühe an Kameragestellen vorbei, immer hinter Hannes her. Die treue Seele! Er war über sich hinausgewachsen.
Es lag mittlerweile ein tiefrotes Schimmern in der unendlich verbraucht wirkenden Luft. Hinter mir, schon etliche Meter, klirrten wie wild die Ketten. Ich sah mich nicht mehr um. Denn das sollte ich vermutlich… Nur raus hier! Rein in die nächste Nische. Wir rannten hindurch. Unglaublich, wie schnell der gute Hannes auf den Beinen war!
Der Hauptraum, die Stiege nach oben! Im roten Licht, das völlig unnatürlich wirkte, polterten wir hoch zur Klappe. Hindurch!
“Konrad - Petrich - was ist mit ihnen?”, rief ich Hannes hinterher.
“Der Hausherr ist tot! Kommen sie! Schnell! Werden sie schneller!”
Wir durchrannten die Gänge und verwinkelten Räume des oberen Kellers, dann wieder höher über die Treppe. Wir kamen keuchend im holzgetäfelten Vorraum an, den ich vor kurzer Zeit Richtung unten ´durchflogen´ hatte. Ich schnappte mir sofort meine Jacke, die an einem Hakenbrett hing.
Hannes hatte schon das Portal aufgerissen. Frischluft strömte uns entgegen. Im Hintergrund aber toste es aus den Kellern heraus... Geräusche, die mit nichts auf der Welt irgendwie vergleichbar waren...
Wir sprangen ins Freie.
"Rasch - zu meinem Wagen!", schrie ich. Ich hatte den Schlüssel schon aus der Jacke gerissen. Der Wind heulte gespenstisch wie immer - nur diesmal kam mir dieses bekannte Geräusch wie eine Befreiung vor!
Als wir am Ford standen, schaute ich noch einmal zur Villa Gölzenstock hinüber. Im Nachtnebel lagerte er da, der schwarze Klotz - ganz so, als könnte ihn kein Wässerchen trüben.
"Schnell! Schließen sie den Wagen auf!", rief Hannes.
Nichts lieber als das! Und wir stiegen ein.
Ich fuhr vorsichtig, fast langsam, denn ich hatte verdammt zittrige Hände. Weiter vorn wankte ein Mann umher. Wir hielten kurz an und ließen ihn einsteigen. Er nahm hinten auf der Rückbank Platz - Petrich Boll.
“Ich lotse uns nach Schallheim.”, sagte Hannes. “Bei meinem Bruder - ein herzensguter Mensch - finden wir einstweilen Quartier.”
Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.
“Woher wussten sie, dass ich unten in den Kellern war?”, fragte ich den Bediensteten, der auf dem Beifahrersitz hockte.
“Ich wollte nur in die Bibliothek kommen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Ich sah sie wie von Geisterhand getragen die Treppe hinab fliegen. Petrich Boll stand zur Säule erstarrt - ich wunderte mich, dass er vor der Zeit wieder oben war. Konrad lag auf dem Fußboden. Sein dunkles Haar: Schlohweiß. Ich rannte dann sofort nach unten, ohne Angst, um sie zu retten. Das ging nur, indem ich mich durchs Ausrufen des großen Namens ADONAI schützte. Bei ADONAI befahl ich der bizarren Macht, sich fern zu halten von ihnen und mir. So konnte ich bis zu ihnen vordringen! Was wir da vorliegen hatten, muss eine Mischung aus Spuk und Dämonentum sein, anders ist es nicht erklärbar. Der einstige Hausherr von Klatten war nachweislich ein übler Beschwörer dunkler Mächte. Vielleicht ist davon im Haus etwas hängen geblieben. Jedenfalls hatte etwas vor, sich zu verfestigen, sich zu manifestieren…”
Ich gelangte auf eine bessere Straße. Jetzt gab ich etwas mehr Gas. Ich hatte kein einziges Mal in den Rückspiegel geschaut, um nochmals das Haus zu sehen… Ich war längst entschlossen, mich schnellstens mit Behörden in Verbindung zu setzen, um die endgültige Sperrung der Gölzenstock-Villa zu erreichen. Vielleicht sogar den Abriss. Vorher noch wollte ich eine bekannte parapsychologische Gesellschaft benachrichtigen, freilich auch mehr oder weniger sofort die Polizei.
Wir stoppten endlich vor dem Hause des Bruders des Bediensteten. Wir drei waren sehr erschöpft, doch freuten wir uns auf ein abschließendes Gespräch bei Whiskey wie die Schneekönige.
______________
Epilog: Viele Fragen durch Polizeibeamte - nur wenige Antworten… Der Schädel der Freifrau von Klatten ging über in den Besitz der mir bekannten parapsychologischen Gesellschaft. In deren Dienstgebäude begann es daraufhin zu spuken. Nächtliches Wimmern, schlagende Türen, eigenartige Gerüche. Klopfgeräusche. Das hörte auf, nachdem man den Totenkopf - der übrigens nicht mehr geeitert hatte - in geweihter Erde begraben hatte.
Petrich Boll verzichtete auf die zweite Hälfte seines Geldes. Villa Gölzenstock wurde auf Anraten der parapsychologischen Gesellschaft - die einen sehr guten Draht zur Regierung hatte - abgerissen. Samt dieser vermaledeiten Kelleranlage...
ENDE