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Und weiter gehe ich in der Reihe

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15.01.2001
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Und weiter gehe ich in der Reihe

Wir laufen im Gleichschritt

Link-srecht-links-rechts-links-rechts-links-rechts

irgendwo am Rande wundere ich mich, wie das überhaupt möglich sein kann.
Irgendwo vor uns ist ein dichter Wald.
Es treibt unsere Reihe unaufhaltsam weiter, und die hinter uns, und die vor uns, immer weiter, links und rechts und weiter.
Außerhalb meines Sichtfeldes sehe ich Bäume fallen. Wir schneiden eine lange Schneise in diese Welt, in die wir eingedrungen sind.
Schwere Stiefel,
die Uniform,
so dick –
und doch schwitze ich nicht mehr. Ein Gewehr vor der Brust verschränkt... niemand hat es uns gezeigt, doch in der gleichen Haltung marschieren die Reihen. Und links-rechts. Ich blicke stur geradeaus. Ich sehe die Gesichter der Soldaten neben mir nicht. Vielleicht eine Ahnung eines Gesichts unter einem Helm. Ob ich auch so aussehe?
Schwarze Farbe auf weißen Gesichtern.
Etwas über meinem Auge, damit ich weiter sehen kann, es sendet Zahlen und Informationen, doch ich weiß nur immer links-rechts-links-rechts... und ich bin fast außer Atem doch gehe ich weiter und
...was?
Mechanisch nehme ich eine Flasche an, trinke in kurzen Schlücken, schlucke etwas hinunter. Nichts hält uns hier mehr auf, niemand wird sich uns entgegen stellen, das weiß ich jetzt.
Ich höre etwas... ich weiß, dass es das Geräusch einer M16 ist, die in schnellen Stößen alles beiseite räumen wird, dass sich uns entgegenstellt.

Was?
was tue ich hier was habe ich eben getan ich habe blut an meinen händen mein magen mein magazin ist leer tote Menschen vor mir oh gott ich knie vor dir...
Nein.
Gott hört uns nicht mehr.
Die Reihen schließen sich wieder.
Es sind andere Soldaten neben mir, sie sehen anders aus, als die vorhin, sie sind größer. Ich laufe jetzt ganz vorne in unserem Zug. Starr geradeaus gehen wir.
Die Bäume fallen zur Seite als wäre es dünnes Gestrüpp, dass von meinen schweren Stiefel zerbrochen wird. Etwas fliegt über uns, der Wald muss brennen, ich fühle seine Hitze, doch ich selbst bin kalt.
Ganz kalt.
Ich fühle mein Gesicht nicht mehr. Es ist wie Stein.
Ich habe etwas an meinem Ohr.
Es spricht zu mir und doch verstehe ich die Worte nicht.
Ich trinke wieder, ich schlucke wieder das herunter, was ich aus der Plastikbox nehme, die ich bei mir trage.
Die Reihe hat gestoppt, wir liegen an der Flanke eines Hügels, irgendwo unter uns eine Stadt. Ihre weißen Häuser sind schwarz geworden.
Jetzt sehe ich die anderen Reihen. Überall haben sie das Dickicht durchbrochen. Sie stehen hier in unserer Nähe. Kühl fühle ich das Metall auf meiner Schulter, ich sehe rennende Menschen, manche sind groß, manche ganz klein, sie werde getragen... manche Ziele habe lange Kleider, die sie am Laufen hindern. Ich bin so kalt wie das Metall, so kalt, so kalt, mein Finger bewegt sich schnell, immer wieder... ich wechsle das Magazin, mein Finger bewegt sich.
Ich höre auf, ich weiß nicht, warum.
Ich spüre wieder das kühle Metall. An meiner Schläfe.
Und mit dem letzten Rest meiner Selbst schaffe ich es vielleicht abzudrücken.

Und weiter gehe ich in der Reihe.

 

@MVS

Sehr gut. Jeder weitere Kommentar dürfte sich erübrigen.
Außer der mit der Begründung deiner Einschätzung ;)


Hallo Matthäus

Hat mir ebenfalls gefallen. Mit kurzen knappen Worten bringt dein Prot die letzten Reste seines Seins deutlich zur Sprache. Obwohl sichs in erster Linie nur ums Marschieren dreht (was wohl den Hauptanteil soldatischen Verhaltens im Krieg ausmacht) bekommt der LEser genug Eindeutiges nebenbei mit. Sehr schön.
Genauso gefallen hat mir der scheinbar wenig erfolgreiche Versuch deines Prots aus dem ganzen auszubrechen. Das Ende kommt dann umso fatalistischer rüber.

lg
Hagen

 

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