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Unerklärliche Erinnerungen
Keine Ahnung wie die Frau auf den Turm kam. Jedenfalls saß sie da oben auf der Kirchturmspitze und umklammerte das goldene Kreuz. Es regnete in Strömen, der Wind pfiff, bizarre Wolkenfetzen ragten aus dem dunklen, tief hängenden Wolkenteppich wie Götterarme, die nach der Erde greifen. Blitze brannten pausenlos Glasgestalten in den sandigen Boden – in den deutschen Boden, es war ohne Zweifel ein deutscher Boden –, Donnerschläge ließen alles erbeben. Die Frau schrie laut, lachte den Himmel an, die Kleider klebten nass an ihrem Körper, die braunen langen Haare im Gesicht. Sie kletterte das Kreuz hoch, stand dann oben auf dem Querbalken, streckte die Hände in den tobenden Himmel, betete vielleicht die Götter an. Ich hab nicht verstanden was sie schrie, es war ja weit oben und ich stand unten mit dem Pfarrer und seiner Haushälterin vor dem Turm.
Der Pfarrer hatte mich angerufen, als Polizeibeamter konnte ich allerdings nicht viel machen. Bei diesem Wetter mit einem Helikopter über dem Turm zu schweben, war nicht möglich. Die Feuerwehr war auf dem Weg.
Die Haushälterin sagte, die Frau sei eine Hexe. Sie wohne in einer kleinen Holzhütte, draußen im Wald, man sah sie ab und zu beim Sammeln von Pilzen und Kräutern. Viele im Dorf besuchten sie oft wegen ihrer Kenntnisse in Naturheilkunde, oder nur um Rat zu holen. Sie war der kostenlose Dorfpsychiater. Sie sei etwas verrückt, aber ein netter, guter Mensch. Als ich fragte, was die Hexe da oben macht, ob so etwas bei ihr öfters vorkommt, da schüttelten der Pfarrer und seine Haushälterin achselzuckend die Köpfe.
Die Frau, die dort oben bei Sturm und Regen auf dem Kreuz stand, begann zu singen, als die Feuerwehr und zwei Rettungswagen mit Notarzt fast gleichzeitig eintrafen.
Ich sprach mit dem Kommandanten, wollte wissen, ob sie die Dame da runterholen könnten. Der Feuerwehrmann wollte es versuchen. Die Leiter war zwar zu kurz, aber mit der Kletterausrüstung könne man den Rettungsversuch wagen. Ihm machten die Blitze Sorgen, denn jederzeit konnte einer in den Turm einschlagen, die Frau und die Feuerwehrmänner töten.
Nun, eigentlich war alles bereit für einen Versuch, die Frau vom Turm zu holen, aber dann kamen die Tomaten und so weiter. Im Nachhinein scheint alles vielleicht etwas abnormal und unglaublich, aber es ist, ich schwöre, wirklich so passiert.
Es ist mir ja immer noch ein Rätsel, wieso das Wetter so schnell umschlug, warum plötzlich die Sonne schien – kein Tropfen fiel mehr vom Himmel, Schäfchenwolken grasten auf der tiefblauen Himmelswiese, Vögel zwitscherten. Das alles kam innerhalb weniger Sekunden, kurz nachdem ich mit dem Feuerwehrmann gesprochen hatte.
Die Frau lachte und leuchtete. Ja, sie leuchtete wie ein Engel, wie eine Glühlampe.
Wir, die Feuerwehrmänner, Sanitäter und so weiter, hatten aber keine Zeit, uns darüber zu wundern. Denn es fielen Tomaten vom Himmel – tonnenweise. Wie roter Schnee bedeckte das Gemüse die Straßen, die Häuser. Sie trommelten auf den Dächern der Autos, durchschlugen unsere Regenschirme. Wir mussten in unseren Wagen Schutz finden. So saßen der Pfarrer, die Haushälterin und ich in meinem Polizeiwagen und konnten nicht glauben, was da soeben passierte.
Zehn Minuten später hörte der Tomatenregen auf, die rote Masse bedeckte meterdick die Landschaft, die nun im Sonnenlicht rot glänzte. Wir konnten die Türen des Wagens nicht mehr öffnen, die Tomaten drückten von außen. Wir waren gefangen.
Uns blieb keine Zeit. Der blaue Himmel formte sich zu einem riesigen, schneeweißen Gesicht, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte und mit Fischaugen vom Himmel glotzte. Es spitze die riesigen wulstigen Lippen und saugte. Es saugte alles auf. Zunächst flogen die Tomaten wieder nach oben, es formte sich ein gigantischer Tomatenwirbel, alles Gemüse verschwand im Schlund des Riesengesichtes. Dann wurden die Dächer abgedeckt, alles, was nicht fest verankert war, flog nach oben, auch der Wagen, in dem wir saßen. Der Wagen wurde nach oben gesaugt, die Kirche sank neben uns in die Tiefe. Einen kurzen Augenblick sahen wir die hell leuchtende Frau, die mit fragendem Blick in den Himmel starrte, an uns vorbeiziehen. Dann wurde es rot, wir vermischten uns mit den Tomaten und verschwanden in dem Riesenmaul. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr so genau, jedenfalls wackelte das ganze Auto heftig hin und her. Der Pfarrer schrie, die Haushälterin schrie, ich schrie.
Wahrscheinlich sind wir kurz danach alle eingeschlafen, denn wir erwachten zwei Stunden später – ich hab auf die Uhr geschaut – in einem ruhig stehenden Polizeiwagen. Die Tomaten waren nicht verschwunden, nein, sie schmiegten sich sanft und ruhig an den BMW. Sie hüllten das Fahrzeug vollständig ein. Die Tomatenschicht war aber nicht sehr dick, denn es drang Licht durch das Fruchtfleisch, alles leuchtete rot. Dann hörten wir das Hupen, Menschenschreie drangen durch die Tomatenmasse. Auf der Frontscheibe kullerten die Tomaten zur Seite und es drang helles Tageslicht in den Wagen. Es erschienen asiatisch aussehende Gesichter, sie waren wütend und schrieen unverständliches Zeug.
Es ist seltsam, aber absolut wahr. Es ist eine Tatsache, dass das Polizeiauto, in dem wir saßen, aus einem Berg Tomaten freigeschaufelt wurde – auf einem Gemüsemarkt in Hongkong. Wie sich herausstellte, waren wir anscheinend mit dem Polizeiwagen in einen Gemüsestand gefahren. Da weder ich, noch der Pfarrer und seine Haushälterin das bezeugen konnten, wir nicht mal so richtig glauben konnten, dass wir in China waren, bestand ein großer Widerspruch zwischen unseren Beobachtungen und den Zeugenaussagen auf dem Markt in Hongkong.
Anscheinend waren wir mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit durch die Straßen gedonnert und dann auf dem Markt, wie beschrieben, zum Stehen gekommen. Ich kann mich aber an nichts mehr erinnern.
Was war wirklich passiert, war alles nur Einbildung gewesen und der Pfarrer war mit Haushälterin und mir nach China gereist, wie es Reisedokumente bezeugen? War in dem Dorf in Deutschland, wo die Frau auf dem Kirchturm stand, nichts Außergewöhnliches passiert, wie es die dortigen Einwohner sagen? Kann sich auch die besagte Hexe an keine besonderen Vorkommnisse erinnern? Sind unsere Erinnerungen denn nichts Wert, ist es denn möglich, dass drei Personen sich das Gleiche einbilden?
So viele Fragen und keine Antwort. Jedenfalls war die Rückreise nach Deutschland teuer, so wie auch der Rücktransport des Polizeiwagens nicht wenig kostete. Der Pfarrer, seine Haushälterin und ich fanden keine Hinweise, dass das, was wir erlebt hatten, passiert war. Wir sprachen mit der unversehrten Hexe, der Feuerwehr, Notärzte und den Dorfbewohnern – niemand hatte das erlebt, was wir erleben mussten, alles war nie passiert.