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Unfallfolgen
Er liebte Landstraßen in der Nacht. Kurz nach zwei, kein Mensch unterwegs. Martin rauschte durch die Dunkelheit. Den Verlauf der schmalen Landstraße durch den nächtlichen Nadelwald kannte er in- und auswendig, die verblassten Farbahnmarkierungen und hier und dort fehlenden Leitpfosten stellten kein Problem dar. Wenn er richtig gut drauf war, einen durchgezogen hatte, raste er mit Standlicht die einsame Straße entlang, auf der schon am Tage nur wenig Verkehr war.
Einmal hatte er sich auf eine Wette eingelassen. Sein Kumpel Ralf hatte ihn als Weichei betituliert und mit ihm um drei Riesen gewettet, dass er die Nebenstrecke nicht ohne Licht unter fünfundzwanzig Minuten schaffen würde. Mit Standlicht brauchte er zwanzig. Ergebnis der Aktion: Martin war um dreitausend Mark reicher und Ralf hatte ihm den Wagen vollgepisst und –gekotzt. Ja, Mark waren es ... schon lange her. Die Nummer hatte die Runde gemacht und niemand hatte ihn danach wieder herausgefordert.
Wenn man wusste, dass Martin beruflich zwar auch mit Kraftfahrzeugen zu tun hatte, aber eher in trüben Gewässern fischte und freiberuflicher, amtlich anerkannter Sachverständiger für den Kraftfahrzeugverkehr – so die amtliche Bezeichnung – war, mochte man sich schon über seine Eskapaden im Straßenverkehr wundern. Die Kreispolizeibehörde war leider nicht gut genug besetzt, um den Hinweisen nachzugehen und abgesehen davon verfügte man auch über keine Fahrzeuge, die Martin hätten verfolgen können. Das sorgte für die absurde Situation, dass er einerseits als Rowdy bekannt war, auf der anderen Seite dann aber mit nicht auch nur einem Punkt in Flensburg aufwarten konnte. Fakt war, dass er – so gut es eben ging - niemanden, außer sich selbst gefährdete und bislang keinen Unfall produziert hatte. Keinen, außer sich selbst, abgesehen von der Aktion mit Ralf … Im professionellen Rennsport hätte er sicher eine große Nummer werden können, was ihm vermutlich auch zu den notwendigen finanziellen Mitteln verholfen hätte, sich seinen kostspieligen Lebensstandard leisten zu können. Steuern, Benzinpreise, Versicherung … all das trug nicht zu seiner Erheiterung bei. Aber auf der Strecke war dann alles vergessen und wieder gut.
Martin bremste leicht ab, fuhr einen Schlenker und beschleunigte professionell am Scheitelpunkt der engen Rechtskurve, um seinen Audi TT Roadster hin zur nächsten Linkskurve, in der auch das Gefälle und eine rasche Folge enger, sich windender Kurven begann. Schalten, Lenken, das Spiel mit Kupplung, Bremse und Gas … die Kräfte auf sich einwirken lassen. Kein Wunder, dass ihm dabei beinahe einer abging.
Die Ernüchterung befuhr die Kehre vor ihm. Ein Geländewagen schlich förmlich über die Straße. Martin hieb mit dem Ballen der Linken auf das Lenkrad und fluchte vor sich hin, bremste abrupt und schloss bis auf einen Meter hinter den vorausfahrenden Wagen auf, blinkte ihn an, obwohl es sinnlos und war, in den Kurven überholen zu wollen – Bäume und Straßenverlauf machten es auch bei Nacht unmöglich abzuschätzen, ob es Gegenverkehr gab. Nach dem Gefälle gab es ein längeres, geradeaus führendes Teilstück, ausreichend Zeit, um den vorausfahrenden Wagen dort zu überholen. Immerhin lieferte ihm dies einen guten Grund, die Strecke eben einfach noch mal hoch und runter zu rasen. Die aufgekommene Wut veranlasste ihn, dichter aufzufahren, zu beschleunigen und immer wieder erst kurz vor einem Auffahren zu bremsen und er grinste breit, zockelte hinter dem grünen Nissan her.
Martin runzelte die Stirn. Professionell sah das nicht aus, was der andere Fahrer da ablieferte. Mal zog er zur Mitte hin, dann wieder nach Rechts, entkam nur knapp dem Leitpfosten.
Besoffen, dachte er bei sich. Nichts Ungewöhnliches in der Gegend und ein Punkt, den Martin auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er zog den linken Mundwinkel hoch und schüttelte leicht den Kopf, gab einen Laut der Missbilligung von sich und betätigte einmal mehr die Hupe.
Sie fuhren auf die nächste Linkskehre zu. Der Nissan wurde wieder Erwarten nicht langsamer. Martin blickte auf den Tacho. Immer noch knapp achtzig. Er zog beide Augenbrauen ein wenig hoch. Mit der Kiste war es unmöglich durch die Kehre zu kommen. Na ja, jedenfalls nicht mit der aktuellen Geschwindigkeit, aber er folgte dicht auf. Das Fahrzeug fing an zu schlingern, brach dann nach rechts aus und verschwand aus Martins Blickwinkel. Nur wenig später kam er an der Stelle zu stehen, wo der Nissan jenseits des Fahrbahnrandes in der Böschung verschwunden war. Martins Mund stand noch immer offen, weil er nicht fassen konnte, was er da gerade erlebt hatte. Es dauerte einen Moment, bis er die Situation völlig erfasst hatte, dann sprang er aus seinem Wagen und lief an den Rand des steilen Abhangs.
Der Geländewagen lag gut acht Meter tiefer in der Böschung und hatte sich vor den an zwei Bäumen verkeilt. Etliche Teile des Wagens waren im noch immer eingeschalteten Scheinwerferlicht erkennbar in der Gegend verstreut. Die Motorhaube fehlte und im Motorraum kokelte im tanzenden Licht eines kleines Feuer.
Martin dachte keine weitere Sekunde nach und setzte sich in Richtung des verunglückten Wagens in Bewegung. Er stolperte, fing sich immer mal wieder so eben an einem Baum ab, verletzte sich dabei die Hände. Die Böschung war hier sehr steil und rutschig. Einige Male landete er im Dreck. Es schien ihm, als würde es eine Ewigkeit dauern und die größer werdenden Flammen im Motorraum erinnerten ihn daran, dass er nicht alle Zeit der Welt haben würde.
Total verdreckt, keuchend und mit wunden Händen erreichte er sein Ziel. Durch das geborstene Fenster der Beifahrerseite konnte er erkennen, dass zwei Personen im Fahrzeug saßen und sich nicht rührten. Die Tür widersetzte sich einen Augenblick, doch als Martin sich mit aller Kraft dagegen stemmte, flog sie endlich auf.
Eine junge Frau japste nach Luft und wandte ihren Blick in unendlich scheinender Langsamkeit Martin zu. Ein leises „Hilfe!“ kam über ihre Lippen. Er beugte sich in das Fahrzeug, lehnte sich über die Frau und suchte nach der Halterung für den Sicherheitsgurt. Auf dem Fahrersitz erkannte er einen älteren Mann, der sich jedoch überhaupt nicht rührte. Schnell fühlte Martin an der Halsschlagader den Puls. Immerhin … auch der Fahrer weilte noch unter den Lebenden. Im Fußraum entdeckte er einen Verbandkasten, der wohl aus der Halterung unterhalb des Fahrersitzes nach vorn gerutscht war. Martin erinnerte sich nicht nur daran, die Wunden der Unfallopfer zu versorgen, sondern gemahnte sich auch, sich auch um seine eigene Sicherheit zu kümmern. Mit zittrigen Händen ergriff er den Plastikkasten, öffnete ihn und wühlte darin herum. Die Handschuhe streifte er über und stopfte sich die Iso-Decke in eine Hosentasche.
Die Flammen im Motorraum griffen auf weitere Teile über. Kalter Schweiß stand auf Martins Stirn und rann ihm in Bächen den Rücken herunter. So sehr er sich mit Kraftfahrzeugen auch auskannte, hatte er jedoch nie einen Gedanken daran verschwendet, ab wann ein Brand wirklich gefährlich wurde. Die Idee, nach einem Feuerlöscher zu sehen oder danach zu fragen, kam ihm in der Hektik nicht mehr in den Sinn. Er löste den Gurt der jungen Frau, über die er sich gelehnt hatte und als er sie vorsichtig ergriff, bemerkte er im fahlen, tanzenden Licht des Feuers im Motorraum, dass sie wunderschön war. Für einen kurzen Moment war er abgelenkt und starrte sie an. Und sie fand die Zeit, dies mit einem umwerfenden Lächeln zu erwidern.
Stolpernd trug er sie weg von dem brennenden Wagen, legte sie im Schatten eines Felsens vorsichtig auf den Boden und kontrollierte erneut ihre Vitalfunktionen. Sie war irgendwo zwischen Wachsein und Schockzustand.
„Alles Okay?“, fragte er sie und streichelte ihre Hand, die seinen linken Arm umklammerte.
Sie nickte kurz zur Bestätigung.
„Ich hol den anderen …“, sagte Martin und wollte sich auf den Weg machen, wurde aber durch den festen Griff zurückgehalten und die junge Frau erfasste ihn jetzt auch noch mit der andern Hand.
„Nicht …“, röchelte sie. „Zu gefährlich …“
„Ich kann ihn nicht da drin lassen.“
„Er hat … hat es verdient …“, kam es leise und zögerlich von ihr und sie stöhnte zwischendurch unter Schmerzen. Martin stutzte und sah sie direkt an. „Lass ihn verrecken … ich bezahl dich … gut … wir sind … ich bin reich. Wenn er stirbt!“
Er wischte das wenige Blut aus ihrem Gesicht, das aus einer kleinen Wunde auf der Stirn sickerte. Es mochte gut sein, dass sich noch ein wenig Nasenblut dazu mischte, aber bis auf den Schock und Prellungen schien sie unverletzt. Martin starrte sie verwirrt an, dann ging sein Blick wieder zu dem verunglückten Wagen. Der Fahrer rührte sich nicht, auch wenn ihm klar war, dass er noch immer lebte. Dann sah er wieder in das Gesicht der schönen, jungen Frau, die er bereits gerettet hatte.
Geld. Ein tragendes Argument. Das konnte er gut gebrauchen. Aber dafür jemanden Sterben lassen?
„Küss mich …“, wisperte die Gerettete.
Martins Blick wanderte wieder zu der jungen Frau, die noch immer seinen Arm umklammert hielt. Ihr Gesicht, der zerrissene Pullover legte ihren makellosen Oberkörper nahezu komplett frei und die enge Jeans machten ihn über alle Maßen an. Sein Gewissen kämpfte mit Pfeil und Bogen gegen ein Gewitter … und es verlor. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und er beugte sich über sie, um den Pakt zu besiegeln. Und während Martin noch ein Glücks- und Hochgefühl durchströmte ging der verunglückte Geländewagen in Flammen auf. Es kostete ihn einige Überwindung, sie nicht gleich hier und auf der Stelle zu nehmen und er hatte auch nicht das Gefühl, dass es ihr unangenehm gewesen wäre. Nur der Gestank von verbrennendem Fleisch hielt ihn ab.
Martin brauchte einige Zeit, sich die Böschung hoch zu kämpfen. Von seinem Mobiltelefon aus rief er die Unfallrettung und schaltete – ganz automatisch und inzwischen ebenso überflüssig - das Warnblinklicht an. Dann eilte er wieder hinunter zu seiner Geretteten, die er in die Iso-Decke hüllte. Gut zwanzig Minuten brauchten die Retter bis zu der abgelegenen Stelle und weitere dreißig, bis sie die Verletzte aus der Böschung geborgen hatten und ins Krankenhaus transportieren konnten. Es brauchte auch einige Überredungskunst, bis sie von Martin abließ und er musste ihr versprechen, sie im Krankenhaus zu besuchen.
Die Polizisten hatten nur wenig Fragen an Martin, warfen einen kurzen Blick auf seinen Ausweis und notierten sich seine Adresse für eine spätere Aussage, während die Feuerwehr noch mit der Löschung des Nissan beschäftigt war. Auf ein Taxi verzichtet Martin dann aber doch, setzte sich hinters Steuer und machte sich, ungewohnt langsam, auf den Weg nach Hause. Er wischte sich Blut aus dem Mundwinkel, duschte und fiel in einen tiefen Schlaf.
Kurz nach zehn Uhr am folgenden Tag fuhr er auf den Besucherparkplatz der Augustus-Klinik und ging, einen großen Strauß Blumen in der Hand, zum Empfang. Die Rettungssanitäter hatten ihm den Namen der jungen Frau genannt und außerdem noch gesagt, in welche Klinik man sie fahren würden. Der Mann am Empfang gab den Namen ins System, verzog keine Mine, blickte Martin dann aber durchdringend an.
„Sie sind ein Angehöriger?“, verlangte er zu wissen.
Martin war verunsichert. Stand es so schlimm um Miriam? Nur wenn man auf der Intensivstation landete, wurden ausschließlich Angehörige hineingelassen. Er wusste aber auch, dass es normalerweise keine Kontrollen gab und nickte, legte aber auch die Stirn in Falten.
„P4 … achter Stock“, stellte der Mann am Empfang sachlich fest. „Warten sie vor der Station, bis sie hereingelassen werden.“
Martin nickte. Er nahm den Fahrstuhl, in dem Kranke wie Besucher ihren Weg durch die Klinik nahmen. Irgendwie fühlte er viele Blicke in seinem Nacken, als er als Einziger auf der achten Etage den Aufzug verließ. Ein wenig nach links und er stand vor der Abteilung, deren Türen geschlossen waren.
Eine Sprechanlage, Kameras. Gesicherte Türen und Fenster. Über dem Eingang stand ‚P4 – Psychiatrische Abteilung’. Seine Augen weiteten sich, denn damit hatte er nicht gerechnet und seine Rechte mit den Blumen sank nach unten. Die Tür öffnete sich nur einen Moment später und ein junger Mann in ziviler Kleidung kam lächelnd auf ihn zu.
„Guten Morgen“, sagte der Angestellte freundlich und winkte Martin, doch näher zu kommen. „Sie möchten Frau Scharnorst besuchen?“
Martin nickte nur und ließ sich von dem Pfleger mit einem „Bitte … kommen Sie doch.“ in die Station geleiten. Sie gingen durch eine Sicherheitsschleuse und er musste alle scharfkantigen Dinge, darunter auch Schlüssel abgeben.
„Bitte warten Sie hier einen Moment“, sagte der Pfleger freundlich und wies auf eine Sitzgruppe in einer hellen Ecke des Ganges. „Dr. Naokate steht ihnen gleich zur Verfügung. Möchten sie etwas trinken?“
Martin schüttelte nur den Kopf und legte die Blumen auf einem anderen Stuhl ab. Nur wenige Augenblicke, nachdem der Pfleger verschwunden war, bog ein schwergewichtiger Arzt um die Ecke, dessen wirklich schwarze Hautfarbe – so hatte Martin das auch noch nie gesehen - sich krass von dem Weiß des Kittels und der Hose abhob. Er lächelte freundlich und ging zielstrebig auf Martin zu, der ohnehin der einzige Gast war.
„Nageri Naokate“, stellte der Arzt sich vor und Martin stand auf, um die angebotene Hand zu schütteln. „Ich bin der Leiter der Abteilung. Sie wollen … ihre Schwester? … besuchen?“
„Äh …“ Martin wirkte verwirrt und wurde rot. „Na ja … ich hab sie gerettet. Bei dem Unfall. Ich bin nicht mit ihr verwandt.“
„Oh“, antwortete Dr. Naokate, blies die Backen auf und seine Augen weiteten sich. „Dann kann ich sie natürlich nicht zu ihr lassen. Ich dachte, sie seien ein Angehöriger, jedenfalls hatte der Empfang das so gesagt.“
„Ich … ich hatte keine Ahnung“, stammelte Martin und trat von einem Bein auf das andere. „Ich meine, ich konnte ja nicht wissen, dass sie … na ja …“
„Verrückt ist?“, beendete Nageri Naokate den Satz und nickte mit entspanntem und wissenden Blick. „Die junge Dame sollte in ein Sanatorium überstellt werden. Sie ist sehr krank. Und, um es ganz deutlich zu sagen, sehr gefährlich. Auf ihre Art. Sie würde sie nicht angreifen, keine Sorge. Der verstorbene Kollege hatte sie völlig unter Kontrolle.“
Martin stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und seine Knie wurden weich. Der Arzt ergriff ihn und platzierte ihn sanft auf einen der Stühle.
„Sie ist …“ , stammelte Martin, „nicht die Tochter?“
Nageri Naokate sagte nichts, ging aber vor dem junge Mann in die Knie und beobachtete ihn, ergriff dann seinen Arm und kontrollierte nahezu unbemerkt den Puls.
„Wessen Tochter?“, fragte der Arzt.
„Na die des Fahrers … Sie sagte, er sei ihr Vater … Ich konnte ihn nicht retten. Der Wagen brannte. Konnte jeden Augenblick hochgehen …“
Nageri Naokate nickte kurz. „Nein, der Fahrer war ein Kollege von mir. Es tut mir leid. Auch wenn die junge Dame sich nicht bei ihnen bedanken kann, möchte zumindest ich ihnen meinen Dank aussprechen. Das war sehr riskant, was sie da gemacht haben.“
„Ich …“ Martin war nicht in der Lage zusammenhängend zu denken.
Der Arzt warf einen Blick auf den Blumenstrauß. „ich werde der jungen Dame die Blumen mit ihren Wünschen zukommen lassen, aber haben sie bitte Verständnis, dass ich Sie nicht zu ihr lassen kann.“
Martin nickte und drehte sich kommentarlos und ging wie ein Schlafwandler auf den Ausgang der Abteilung zu.
„Ach …“, der Arzt kam ihm nach und hielt Martin am Arm fest. „Eine Frage habe ich noch.“
„Ja?“
„Haben sie Frau Scharnorst mit Mund zu Mund Reanimation wiederbeleben müssen oder kamen sie mit ihren Wunden in Berührung? Haben sie Handschuhe getragen?“
„Was? … Äh ja, ich hab Handschuhe getragen.“
„Ahhh gut“, Dr. Naokate nickte und lächelte freundlich. „Alles andere wäre fatal, denn die junge Dame ist HIV positiv.“