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Ungebetene Gäste
Das Haus lag dunkel und ruhig da. Langsam ging er den Flur entlang, ließ seine Hand über die Wand, über die Kommode gleiten. Sein Blick schweifte über die Bilder an den Wänden, blieb an dem vertrauten Gesicht seiner Frau hängen. Ihre warmen braunen Augen blickten ihn voller Liebe und Vertrauen an.
Etwas flüsterte in seinen Gedanken, schien ihm etwas sagen zu wollen. Etwas Wichtiges. Aber noch während er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, zu verstehen, entglitt es ihm schon wieder. Zerrann wie Sand zwischen seinen Fingern. Er war so müde. Vielleicht würde es ihm morgen wieder einfallen.
Warm scheint die Frühlingssonne auf den Park, das frische Grün der Blätter und die leuchtenden Farben der Blumen strahlen in der klaren Luft. Das Lachen der spielenden Kinder dringt an sein Ohr. Am liebsten würde er mit einstimmen, sein Glück der ganzen Welt verkünden. Er fasst Rebecca an den Hüften, hebt sie hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als das kleine Mädchen, das dort drüben an der Hand ihres stolz strahlenden Vaters die ersten Schritte wagt. Er wirbelt mit ihr herum, und ihr glockenhelles Lachen vermischt sich mit dem der tobenden Kinder. Schließlich verliert er das Gleichgewicht, und sie fallen in das weiche Gras. Rebecca ist warm in seinen Armen, und als er in ihre strahlenden Augen blickt, meint er, seine Brust müsse bersten vor Glück.
Leise Stimmen störten den Frieden des Hauses. Verwirrt runzelte er die Stirn und ging zur Treppe, um in den Flur hinunter zu schauen. Es war nichts zu sehen, und dann schnitt ein Klicken wie das Schließen der Haustür die Stimmen plötzlich ab. Er ging die Treppe hinunter und lauschte. Jetzt war nichts mehr zu hören. Vermutlich hatte er sich die Stimmen nur eingebildet. Trotzdem ging er in den Windfang, trat an das Fenster, das von dort zur Straße hinausging, und zog die Gardine zur Seite um hinauszuschauen.
‚Ich müsste mal wieder was im Vorgarten machen,’ dachte er, als er die vielen trockenen Blätter auf dem viel zu langen Rasen sah, aber im nächsten Moment war ihm der Gedanke bereits wieder entglitten.
Ein Stück von der Gartenpforte entfernt auf dem Gehweg stand ein leger gekleidetes junges Paar mit einer älteren Frau in einem dunklen Hosenanzug. Er hatte die Leute noch nie gesehen und sie interessierten ihn auch nicht weiter, daher ließ er die Gardine wieder in ihre ursprüngliche Position fallen und ging in das Wohnzimmer. Vor dem Kamin blieb er stehen und blickte auf eines der Fotos, die darauf standen.
„Rebecca“, flüsterte er.
Die Blätter bilden ein farbenfrohes Muster auf dem zu hohen Rasen des Vorgartens, und die Büsche müssten dringend mal wieder geschnitten werden. Auch das kleine Haus, das hinter dem verwilderten Garten aufragt, hat schon bessere Zeiten gesehen. Aber als er sich halb zu Rebecca umdreht, deren Augen über das Haus und den Garten wandern, sieht er das Lächeln auf ihrem Gesicht und weiß, dass sie das Bild vor sich so sieht, wie es mal aussehen wird, wenn sie erst einmal mit der Renovierung fertig sind. Sie scheint seinen Blick zu spüren, denn sie dreht sich zu ihm um und lächelt ihn an.
„Ich liebe es“, sagt sie und drückt seine Hand.
„Ich liebe Dich“, sagt er und hat das Gefühl, in ihren lächelnden Augen zu versinken, bevor er sich zu der Maklerin umdreht und sagt „Wir kaufen es“.
Wieder lag das Haus dunkel und still da, als er den Flur entlang ging. Er war bereits an der Kommode vorbei, als es ihm auffiel.
Ruckartig drehte er sich um und sah auf den leeren Platz an der Wand, an dem eigentlich Rebeccas Foto hängen sollte. Nur ein helles Rechteck auf der im Laufe der Zeit dunkler gewordenen Tapete markierte die Stelle, an der das Bild hätte sein müssen. Irritiert sah er auf den Boden, ob der Rahmen möglicherweise heruntergefallen war. Nichts.
„Was ist denn hier los?“, entfuhr es ihm. Am anderen Ende des Flures schlug eine Tür zu.
Während er von Zimmer zu Zimmer ging, wurden seine Schritte immer schneller und er wurde immer nervöser. Das Bild konnte doch nicht einfach verschwunden sein!
„Wenn das 'n Witz sein soll... nicht lustig!“, grummelte er.
Im Keller sprang die Heizung an, als die Fühler in den Zimmern des Obergeschosses einen plötzlichen starken Temperaturabfall meldeten, aber davon bekam er nichts mit in seiner immer hektischer werdenden Suche.
Schließlich fand er das Bild zusammen mit anderen Fotos von ihm und Rebecca in einem Karton im Zimmer am Ende des Flures. Inmitten von Kartons, Farbeimern und Tapetenrollen saß er auf dem Fußboden, Rebeccas Foto in seinen Händen, und blickte in das Abbild ihrer wunderschönen Augen.
Rebecca steht auf der Leiter, einen Pinsel in der Hand und einen Eimer mit leuchtend gelber Farbe vor sich, als er das ehemalige Arbeitszimmer betritt. Sie dreht sich zu ihm um und lächelt ihn an, als er an die Treppe herantritt und sie in den Arm nimmt.
„Wow, Du warst fleißig“, sagt er und küsst sie sanft auf die Lippen. „Wie geht's Euch beiden denn heute?“
Rebeccas braune Augen tanzen vor Aufregung, als sie seine Hand nimmt und auf ihren gewölbten Bauch legt. Nach einigen Augenblicken spürt er eine Bewegung unter seiner Hand, und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
Ein Lichtschein drang aus dem Erdgeschoss hinauf, als er den Flur entlang ging. Wieder fiel sein Blick auf den leeren Platz an der Wand, an dem Rebeccas Foto hängen sollte. Gerade als er wütend herumfahren und zum alten Arbeitszimmer stürmen wollte, hörte er es.
Leise Musik und Stimmen. Verwirrt blieb er stehen und lauschte. Das leise Klirren von Gläsern war zu hören, dann eine einzelne lautere Stimme. „Marion, Marcus, alles Gute zum Einzug und zu Eurem neuen Zuhause!“
Das kam doch aus seinem Haus! Erbost stürmte er die Treppe hinunter, während auf dem Flur hinter ihm mehre Türen knallend in’s Schloss fielen. Das Stimmengemurmel von unten erstarb.
Am Fuß der Treppe blieb er wie versteinert stehen. Der Flur war völlig verändert. Die Wände waren frisch gestrichen, die Lampe an der Decke war neu, und die Jacken in der Garderobe hatte er noch nie gesehen.
Wie durch einen Schleier drangen erneut Stimmen in sein Bewusstsein.
„Vielleicht spukt es hier ja“, erklang eine Frauenstimme aus der Richtung des Wohnzimmers.
Leises Lachen folgte auf diese Worte, aber wenn er genau zugehört hätte, wäre ihm der leichte Unterton von Hysterie darin aufgefallen. Aber das hörte er nicht, denn in ihm breitete sich ein Gefühl erst von Entrüstung und schließlich von Zorn aus. Ein Gefühl wie von einem immer enger werdenden Gürtel legte sich um seine Brust.
Das Licht im Flur flackerte.
Langsam ging er auf die geöffnete Wohnzimmertür zu, aus der inzwischen wieder das Gemurmel verschiedener Stimmen drang.
Im Keller sprang wieder die Heizung an.
In der Tür blieb er stehen und blickte auf das Bild, das sich ihm im Wohnzimmer bot. An dem festlich gedeckten Tisch in der Essecke saßen sieben Leute, vier jüngere Frauen und drei nicht viel ältere Männer. Zwei der Personen, eine der Frauen und einer der Männer, kamen ihm vage bekannt vor.
„Was macht Ihr hier?“
Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, aber eine der Frauen hatte ihn gehört, denn ihre Augen richteten sich auf die Tür, in der er stand. Ihre Augen weiteten sich erschrocken und das Weinglas, das sie gerade an die Lippen geführt hatte, fiel ihr aus den plötzlich gefühllosen Fingern. Mit einem hellen Klirren zerprang es auf dem Tisch. Dunkelrot breitete sich der Wein auf der eben noch schneeweißen Tischdecke aus.
Das Licht der Esszimmerlampe flackerte.
Er hörte kaum das erschrockene Keuchen aus mehreren Kehlen und das Geräusch eines umfallenden Stuhles, als sein Blick weiter durch das Wohnzimmer glitt und schließlich am Kaminsims hängen blieb. An dem Kaminsims, auf dem Rebeccas Bild stehen sollte. An dem leeren Kaminsims.
Ein leises Knistern durchdrang die atemlose Stille, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte. Dann zerprangen die restlichen Weingläser und die halb gefüllte Karaffe unter dem Druck des plötzlich gefrorenen Weines.
„Was habt Ihr getan? Was macht Ihr in meinem Haus?“
Dieses Mal war seine Stimme kein Flüstern mehr, sondern ein gellender Schrei.
Der Druck auf seiner Brust steigerte sich immer mehr, bis er fast unerträglich war. Dann zerprang nicht nur die flackernde Lampe über dem Esstisch, sondern auch die Stehlampe neben dem Lesesessel und das Glas der Vitrine.
Das Geräusch des splitternden Glases vermischte sich mit den angstvollen Schreien der jungen Leute und dem Trappeln ihrer Füße, als sie in heller Panik aus dem Wohnzimmer rannten. Einer der jungen Männer stolperte, als er von einer Vase am Rücken getroffen wurde, die plötzlich von unsichtbarer Hand durch die Luft geschleudert wurde. Ein anderer konnte nur mit knapper Not der Soßenschüssel ausweichen, die neben ihm an der Wand zerbarst und ihn mit ihrem Inhalt und Scherben besprenkelte, gerade als er sich zu seinem Freund umdrehte.
Die erste Frau hatte die Haustür erreicht, riss sie auf und rannte über den frisch gemähten Rasen des Vorgartens davon. Die anderen folgten schnell.
Stille breitete sich im Haus aus. Nur das stetige Geräusch des Weines, der von der Tischkante auf das Parkett tropfte, war noch zu hören.
Der Druck auf seiner Brust war weg, als wäre er nie da gewesen. Langsam ging er die Treppe hinauf zum Zimmer am Ende des Flures, um die Bilder von Rebecca aus dem Karton zu nehmen und an ihre angestammten Plätze zurück zu bringen.
Das Feuer im Kamin verbreitet eine wohlige Wärme, als er auf dem Sofa sitzt, Rebecca im Arm. Draußen heult der Wind, und dicke Schneeflocken fallen auf die Fensterscheiben. Rebecca dreht den Kopf und sieht ihn an.
„Hoffentlich wird das Wetter bald wieder besser. Stell Dir vor, wir haben so einen Schneesturm, wenn die Wehen losgehen und wir in’s Krankenhaus fahren müssen.“ Rebeccas Stimme klingt etwas besorgt.
Er legt seine Hand auf ihren prallen Bauch und sieht ihr beruhigend lächelnd in die Augen. „Keine Sorge, mein Schatz, ich bring' Euch beide sicher in’s Krankenhaus, egal bei welchem Wetter. Ich pass’ schon auf Euch auf.“
Scheinbar ist seine ruhige Gelassenheit genug, Rebecca zu überzeugen, denn der vage Ausdruck von Sorge verschwindet aus ihren Augen und zurück bleiben nur Liebe und Vertrauen.
Er stand am Fenster und sah durch die Gardine auf den etwas verwilderten und verschneiten Vorgarten und die dahinter liegende Straße. Ein Stück vom Gartentor entfernt standen ein junges Paar und eine ältere Frau in einem dunklen Hosenanzug, die immer wieder zum Haus herüber blickten. Er kannte diese Leute nicht, daher drehte er sich um, ging zum Kamin hinüber und sah auf das Foto, das darauf stand.
„Rebecca“, flüsterte er, als er in die warmen braunen Augen der Frau blickte, die darauf abgebildet war.
Ein Gedanke nagte an seinem Bewusstsein, eine Erinnerung. Da war etwas, was er wissen müsste. Etwas Wichtiges. Dunkelheit. Schnee. Ein Baum… Aber bevor er den Gedanken wirklich fassen konnte, war ihm dieser wieder entglitten, zerronnen wie Sand durch seine Finger.
So wichtig konnte es dann ja nicht gewesen sein.