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Unglaublich plastische Wolken.
Die Farben rauschten an ihr vorbei. Grau, ein dreckiges Weiß, blasses Grün. Das Aufleuchten der Farben schien auf einem seltsamen System zu basieren. Sie spürte die Angst und wie sie ihren Körper kalt und geleeartig ausfüllte. Ihr war übel und sie versuchte, ihren Blick von den Farben abzuwenden. Doch sie wollten nie ganz aus ihrem Blickfeld verschwinden.
Der Schnellzug war auf dem Weg in den Norden, auf dem Weg in Richtung Großstadt. Die Stunden vergingen einfach nicht, kaum fünf Minuten verstrichen, in denen sie nicht auf die Zug-Anzeige sah, um die Uhrzeit zu erfahren. Doch jedes Mal, kaum wandte sie ihre Augen von der rotleuchtenden Schrift ab, wusste sie die Uhrzeit nicht mehr.
Sie sah auf ihre Hände, die sie gefaltet auf dem Tisch vor sich liegen hatte. Die Haut war ganz rau, die vielen kleinen Fältchen weiß. Sie war es schon seit Wochen leid, ihre Hände mit Creme zu beschmieren. Sie müsste wohl mehrere Male eine Schicht auftragen, um die Trockenheit halbwegs zu beseitigen. Es wäre sinnlos, denn nach wenigen Tagen würden die Hände wieder so aussehen wie jetzt.
Zwischen den Fingern waren besonders raue Stellen und wenn sie mit den Fingernägeln darüberfuhr, wurden sie zuerst noch weißer und platzten schließlich auf. Zu sehen, wie Blut sich den Weg an die Oberfläche ihrer Haut bahnte, erfüllte sie mit einem unglaublich starken Hass gegen sich selbst. Sie war aus Fleisch, aus Blut, aus Wasser und ein paar Knochen und konnte sich nicht mit diesem Wissen anfreunden. Es war irrsinnig, sie schalt sich selbst in Gedanken dafür, aber das war, was sie empfand. Diese Beschränktheit auf den eigenen Körper, das Bisschen Leben, das zwischen dünnsten Hautpartikeln umherschwamm.
Sie erschauderte.
Als Kind hatte sie die Erzählung davon, dass es einen Himmel gab und dass dorthin alle Verstorbenen kommen, beruhigend gefunden. Nun, mit 20, konnte und wollte sie nicht mehr daran glauben, dass nach dem Tod noch irgendwo die Ewigkeit wartete. Sie mochte die Vorstellung, dass nach dem Tod kein ewiges Leben lauerte. Sie stellte es sich schrecklich vor, für immer zu leben. Vom Körper, vom Leben befreit zu werden, fand sie eine angenehme Aussicht.
Ohne es zu bemerken, hatte sie wirklich an einer besonders trockenen Stelle ihrer Haut gekratzt. Blut war herausgekommen, das jetzt trocken geworden war.
Leise blickte sie von ihren Händen auf, um nur langsam wieder die vorbeirauschenden Farben in den Blick zu bekommen. Die Farben hatten sich verändert. Grau, dunkles, helles und fast weißes Grau, hatte alle anderen Farbtöne verschluckt. Die Stadt war da. Nicht sie war in die Stadt, sondern die Stadt war zu ihr gekommen. Die Reise durch die Farben kam ihr wie ein Traum vor, als hätte sie nur kurz vergessen, dass diese graue Betonstadt eigentlich ihre Heimat war.
Beim Aussteigen aus dem Zug wurde ihr schlagartig bewusst: Das Licht und das Leben, das sie plötzlich wie in einem Rausch umfing und um sie herum vibrierte, war wie die Antwort auf eine Frage, die sie sich schon oft gestellt, aber vergessen hatte.