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Unmögliche Geschichte
Überarbeitung weiter unten!
I. Morgen: Die Brieftasche
II. Heute: Polarfuchs
Trist und kalt. Kalt und trist. Kalt, kalt. Trist, trist. Das sind die vier Möglichkeiten, Kangerlussuaq zu beschrieben. All diese tollen Dinge, die sie in den Tourismusbroschüren hochjubeln – die Moschusochsen, Rentiere, Polarfüchse, Falken, Adler, Raben – kommentieren sich von selbst, denke ich...
Zudem ist Winter, jedes schlaue Tier hat sich verzogen. Natürlich, ich könnte mich auch über das „kraftvolle Nordlicht“ freuen, nur leider scheint´s nicht durch das Dach der einzigen Kneipe, und wenn ich nach Hause gehe, achte ich angesichts der vierzig Minusgrade lieber darauf, den Weg zu überleben...
„Nach Hause“, pah. Mein sogenanntes Zuhause ist eine Jugendherberge aus Holz mit Blick auf den zugefrorenen See: ich bin der einzige Gast. Sie haben mich dort einquartiert, nachdem sie einsahen, dass ich nirgendswo sonst hin konnte, ohne Geld für ein Flugticket... ohne Namen. Ohne Vergangenheit. Immerhin, ich habe eine exklusive Wohnlage: Etwas außerhalb der tristen Reihenhäuser, schlappe zwanzig Kilometer vom „beeindruckenden Inlandeis“ entfernt. Dusche im Flur.
Manchmal träume ich. Ich nehme an, es ist von früher. In meinen Träumen ist es warm und schneefrei. Große Gebäude liegen da wie schlafend. Auf den Straßen drängt sich Verkehr. Eine Menge Menschen hasten vorbei, streifen dich mit ihren Blicken. Ich kenne diesen Ort. Er ist mir vertraut. Man spricht meine Sprache. Ich glaube, ich träume von daheim.
Manche Eingeborenenstämme sind der Überzeugung, die Realität, das eigentliche Dasein, spiele sich in ihren Träumen ab. All die lästigen Wachphasen mit Hunger, Durst und Elend, warum ausgerechnet sollten die das wahre Leben sein?
Doch Träume kann man nicht erzwingen, auch nicht mit dem zehnten geschnorrten Bier. Sie sprechen meine Sprache nicht, immerhin sind sie großzügig. Ich frage mich, wie lang es noch dauert, bis sie herausgefunden haben, wer ich bin. Jedesmal, wenn ein Flugzeug abhebt und über uns hinweg verschwindet, frage ich mich, ob ich hier wegkomme, bevor meine Zehen erfrieren.
III. Gestern: Die Gabe
Dies ist eine unmögliche Geschichte. Zumindest das ist sicher. Unmöglich. Unglaublich. Unglaubwürdig. Hier liegt das Problem: Hilfe ist nicht in Sicht. Niemand würde mir glauben. Und wenn schon, niemand könnte mir helfen.
Alles war normal, anfangs. Alles verlief in den geordneten, überschaubaren Bahnen, die ein Leben von der Stange zu nehmen pflegt. Nichts Außergewöhnliches. Nichts Aufregendes. Nichts, worüber zu reden wert wäre, auch wenn unser aller Gespräche voll davon sind. Geplauder. Small talk. Wortmüll und Höflichkeitsphrasen, wohlgeordnet und standardisiert.
Ein neues Auto? Für das Geld? Wahnsinn. Ach was, eine Panne? Wie ärgerlich. Dieser neue Cola-Werbespot? Wie lustig. Nun auch noch Fischer. Alle korrupt. Nein, die Kati hat wirklich...? Stell dir vor.
Es ging um das Geld, das du verdienst. Verdienen möchtest. Zu verdienen vorgabst. Freunde, die du hattest oder nicht. Was sie taten oder nicht. Was du tun solltest oder nicht. Was die Politik tat oder nicht. Was sich im Fernsehen tat.
Überschaubar, kalkulierbar. Worthülsen, Einheitsgebabbel. Verzeihen Sie mir den Kulturpessimismus, ich habe schlecht geschlafen.
Ich vermisse es. Sehne mich zurück. Ich will mein altes Leben wiederhaben. Menschen sind so. Das Neue, der Wandel schreckt. Das Risiko. Das Unabsehbare. Wobei, falsches Wort.
Wie sehr ich mich auch gelangweilt habe, mich raussehnte, nun will ich zurück. So muss es Adam ergangen sein: Er hatte alles, aber es langweilte. Doch sein Leben lang wollte er wieder ins Paradies. Immerhin, er hatte seine Cherubin. Die Flammenschwerter, die ihn von der glücklichen, überschaubaren Vergangenheit trennten. Sein Problem war selbst verschuldet, die Konsequenzen greifbar, der Feind real.
Zeit kann man nicht zurückdrehen. Sie ist der Strom, der uns unsere Lebensbahn flussabwärts treibt. Trotz aller Abzweigungen und Strudel, es geht immer in Richtung Ozean. Man kann sich nicht dagegen wehren. Es geht allen so. Das ist der Lauf der Dinge. Doch Zeit ist nicht greifbar. Man kann nicht mit dem Finger draufzeigen und sagen: Sie ist schuld, dass. Der Mensch braucht einen Gegner, einen Grund, etwas Greifbares.
Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass die Zeit ihre Bahn verlässt, wann immer es ihr passt, dann ist man nahe dran an meiner jetzigen Lage: Ich bin verflucht.
Übermorgen werde ich zehntausend Euro gewinnen. Einfach so. Unterhaching schlägt Leverkusen. Die Pokalsensation, ich habe sie im Fernsehen gesehen, eher unfreiwillig.
Von dem Geld kaufe ich mir ein Ticket nach Grönland. Ich muss hier weg. Irgendwohin.
Natürlich nützt das nicht viel. Hase und Igel, du kannst vor dir weglaufen, so schnell du kannst, rat mal, wer schon da ist.
Das Leben ist ein ruhiger Fluss. In unserem Kulturkreis ist er zumeist flurbegradigt. Was mich einst störte, jetzt sehne ich mich zurück. Ich weiß nicht, warum es gerade mich getroffen hat. Nicht einmal, wie man mein Problem eigentlich nennt. Die Gabe des Dritten Auges? Paranormalen Scheiß? Psychotisch-futuristische Autoprojektion? Abgefahrener Wahnglaube? Ich weiß nicht, was dagegen hilft. Ich habe schon überlegt, Uri Geller anzurufen. Kein Scherz. Vor drei Wochen träumte ich, dass meine Freundin mit einem anderen schlief. Das machte mich fertig, ich wurde unausstehlich. Sie machte Schluß und lernte den Mann meiner Träume kennen. Es macht dich kaputt. Deshalb tendiere ich, als direkt Betroffener, bisher für „paranormaler Scheiß“.
Ich könnte natürlich was draus machen. Mich und mein exklusives Problem vermarkten. Auf Neun Live weissagen. Die Bärbel, fiese verbrauchte Stimme in breitem Oberfränkisch – ich hasse Dialekt – möchte wissen, ob´s mit ihrem Nachbarn klappt. Der ist knackige Zwanzig, manchmal sieht sie ihn am Fenster. Ich lege Tarokarten aus: Ritter, Mondsichel, Turm. Ich sage: „Zuerst solltest du deine Tochter vorschicken.“
Frank, fünfzig, will wissen, ob seine Chemo anschlägt. Knochenmann, Wagen, Universum. „Hängt von Saturn ab“, sage ich. „Eine Frage bitte noch“, krächzt Frank, „wie lang hab ich noch zu leben?“ Ich nippe an meinem Glas Wasser. „Tut mir leid, heute ist schnelle Runde.“
Bestenfalls würden die Leute mich verbrennen. Schlimmstenfalls würde ich der Michel Friedmann des B-Fernsehens.
Tagträume sind kein Ausweg. Ich muss den Flieger nach Kangerlussuaq buchen. Er wird sich eine Stunde verspäten.
Vielleicht gibt es viele von uns, ich bin nur noch nicht eingeweiht. Freimauerer haben uns eine hochmoderne Geheimstation unter dem Vatikan errichtet. Von dort aus leiten wir die Geschicke der Welt, wenn auch ohne Bond-Girls. Immerhin aber haben wir die Kubakrise gemeistert, und – hey – ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wäre Stoiber gewählt worden.
Vielleicht. Welch schönes Wort. Vielleicht bin ich der erste Grönlandreisende ohne Gepäck. Die Frau am Schalter schaut mich zumindest so an. Ich verbummle eine Stunde an der Flughafenbar. Überall hängen Bilder von Palmenstränden. Niemand will nach Grönland, scheint es. Dabei hat es bis zu 3000 Meter Eis auf dem Buckel. Ein Tagebuch der Geschichte: Der Kälteeinbruch von 1350. Die Industrialisierung. Die Atombombe. Alles hat sich niedergeschlagen im Eis. Es hat die Titanic versenkt. Es wird für mich reichen.
Das einzige, was mich beunruhigt, ist das Bild eines alten Mannes. Ich habe mich gestern vollaufen lassen, aber trotzdem ist mir mein Traum in Erinnerung geblieben, und er sucht mich schon den ganzen Tag heim. Etwas hat die Monotonie seines Rentnerdaseins unterbrochen. Ein junger Spund war zu Besuch, anscheinend sein Enkel. Und nun fehlt dem alten Mann die Brieftasche. Der Diebstahl belastet ihn. Könnte mir egal sein, wäre ich nicht überzeugt davon, dass ich der alte Mann gewesen bin.
Das Blöde ist, wenn ich es gewesen bin, was wird dann aus meinem Grönlandplan? Warum zur Hölle liege ich nicht auf Eis?
Vielleicht sollte ich hier bleiben. Der Whisky schlägt schon an. Schönes, warmes Gefühl. Vielleicht ist der ganze Plan nicht so ausgewogen. Vielleicht kann ich noch was ändern, reich und berühmt werden. Ich habe noch nie einen reichen Mann weinen sehen. Vielleicht verliere ich meine Gabe wieder und führe ein normales, langweiliges und nur grob vorhersehbares Leben. Lerne die kleinen Variablen des Alltags zu schätzen und...
Ach, was soll´s. Egal was passiert, ich werde alt: Unsterblichkeit auf Rate. Ich sollte eine Lebensversicherung abschließen. Egal was passiert, in Grönland ist nicht Endstation, und warum das nicht so ist, das macht die Sache doch erst richtig spannend. Endlich mal eine Überraschung! Es ist Zeit, der Flieger verspätet sich nicht ewig. Auf nach Kangerlussuaq.
Zeit lässt sich nicht überlisten. Ich verbringe noch eine Stunde in der Wartehalle. Immerhin, die anderen Fluggäste mussten doppelt so lange warten.
Wer nach Grönland fliegt, redet nicht viel. Die meisten sehen aus wie Verkäufer, ein paar wie Aussteiger. Ich bestelle mehr Whisky, bekomme aber nach dem dritten Glas keinen mehr. Sobald ich einnicke, weckt mich ein seltsames Geräusch, wie ein Kreischen. Wir überfliegen Wolken, Wolken, Wolken. Ab und an der Atlantik, was für ein langweiliges graues Nichts. Island kann man nur kurz sehen, und es ist keine Erfahrung, auf die ich gewartet hätte.
Nach der Landung lasse ich meine Jacke samt zweitausend Euro im Gepäckfach liegen. Ich brauche sie nicht mehr. Das Terminal ist winzig und kalt. An der Wand aus nacktem Waschbeton hängen Poster von Polarfüchsen, Walrossen und Moschusochsen. Während die anderen auf ihr Gepäck warten, gehe ich hinaus in die Kälte. Nun, das ist also Kangerlussuaq. Kein Ort, an dem ich alt werden möchte. Bis zum Inlandeis sollen es zwanzig Kilometer sein. Ich gehe los, meinem Schicksal entgegen, doch kaum habe ich meinen Fuß auf die kleine Straße gesetzt, ist das Geräusch wieder da, plötzlich und laut: Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht mit den kreischenden Bremsen eines Lieferwagens.