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Unsere Liebe Dame der A 1
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Wir sind Treibholz. Wir sind Holz und wir sind stumm, weil Treibholz keinen Mund zum Sprechen hat. Wir treiben durch die Nacht, die Autobahn entlang, keine Sterne, die noch unseren Weg weisen könnten, selbst die Ursa Major hat uns verlassen – oder vielleicht auch nur mich, an seinem Gesicht vorbei aus seinem Fenster ist sie vielleicht zu sehen, wie sie über uns steht und seinen Weg bewacht.
Wir sind Treibholz, wir haben keinen Hafen und keine Verbindung mehr zu einem Ganzen. Seine Hände am Lenkrad gehören dorthin und nirgendwo anders, meine Finger um die Zigarette brauchen keinen anderen Halt als den Filter.
Selbst die Ursa Major hat mich verlassen, und so gibt es niemanden hier, der etwas sagt, und daran wird sich nichts ändern, ich kann keinen Blick aus seinem Fenster riskieren, denn von seinen vollen Lippen ist nichts geblieben.
Ich sehe nach vorn, lasse mich treiben und setze mich nicht der Gefahr aus, mich in meinem Getriebenwerden bremsen zu lassen: ich sehe ihn nicht an, denn seine Lippen sind dünn und sperren jede Erlösung weg. Das einmal gesehen zu haben, ist genug. Ich bin die Frau ohne Unterleib, ich bin die Eiserne Jungfrau.
Ich habe einen Stacheldraht durch meine Körpermitte, direkt unter meiner Brust teilt er meinen Körper in zwei Hälften. Anstelle meines Solar Plexus ist da ein schwarzes Loch. Er könnte mir erklären, wie schwarze Löcher Materie einsaugen, und daß nicht verifizierbar ist, was auch immer die neusten Erkenntnisse für das sind, was danach mit dieser Materie passiert, ob dahinter vielleicht neue Universen liegen. Das sind Wunder für kleine Kinder, mit großen Augen, und neben mir sitzt ein Mann und kein Junge, so halte ich den Mund.
Meine Augen geschlossen lebe ich weiter ohne Unterleib.
Was ihn angeht, als ich das letzte Mal in seine Richtung sah, fuhr er mit festgeschlossenen Lippen und seine Augen sahen aus, als wollten sie die Windschutzscheibe durchbrennen. Er sah älter aus als normaler Weise, da war kein Raum für ein Jungengrinsen oder einen weichen Blick unter seinen Brauen, sie waren zu schwer für seine Lider.
Wie Treibholz sind wir ohne Ziel, solange wir nur fahren, solange vor uns die Autobahn liegt und zwischen uns die Handbremse. Und die Stille, natürlich. Er sagt nichts, er starrt auf die Fahrbahn. Und zum ersten Mal, daß wir zusammen Autofahren, fehlt mir seine Musik. Ich beginne, mir die Nägel zu feilen. Er haßt das Geräusch der Feile. Meine Nägel rieseln als Staub auf die Sitzpolster. Ob Staub auch ein Aggregatzustand sein könnte? Aber der Stacheldraht bremst meine Frage, dieses fragende kleine Kind in mir, das mit den großen Augen, ist sicher weggesperrt. Und so weiß ich, daß ich für ein "Nein." auf meine naturwissenschatliche Frage nicht erst ihn fragen muß. Also feile ich weiter, während meine Zigarettenasche in kleinen Zylindern auf meiner Hose liegen bleibt, ohne zu zerfallen.
Ich könnte genau so gut auf den Sitz aschen. Ich lasse es und sammle weiter auf meiner Hose. Als ich fertig mit meinen Nägeln bin, färbe ich meine Hose sorgfältig aschefarben, und drücke meine Zigarette auf Kniehöhe auf dem Jeansstoff aus, um eine neue zu drehen. Ich habe Stacheldraht durch meinen Körper, und Minen, und nichts wird daran etwas ändern, auch nicht der Brandschmerz. Obwohl Brandblasen nicht gut aussehen, das weckt meinen Körper längst nicht mehr.
Er fährt.
Ich bin Treibholz. Ich treibe ohne Verbindung, ohne Verbindung zur Erde oder irgend etwas sonst, bis ich irgendwo angespült werde und dort vielleicht Ruhe finde. Treibholz hat keine Öffnung für einen Mund, genau so wenig wie für Ohren.
Rechts vor der Ente schert ein LKW aus, und mir fällt auf, wie schnell er fährt. Er tritt in die Bremsen, aber er sagt nichts. Und nichts ist da. Nichts, bis auf die Autobahn, den Himmel und einige Scheinwerfer. Seine Wutanfälle machen ihn jünger als sein Grinsen, und wenn er wütend wird, tritt er gegen Schränke und schmeißt alles mögliche durch die Gegend, aber im Gegensatz zu mir wirft er nie etwas kaputt.
Mir fällt die Zigarette aus der Hand. Meine Finger schaben über die Fußmatte, und ich finde sie nicht. Solange mein Kopf unter dem Armaturenbrett steckt, ist mein Rücken schutzlos. Ich grabble weiter nach der Kippe, und just, als ich die Glut am Zeigefinger fühle und sie greife, schlägt seine Stimme in meinen Rücken, viel zu jung für sein neues scharfes Profil: „Wie kams?“
Etwas drängt gegen den Stacheldraht, schiebt ihn in einem Klumpen hoch in meine Brust, und mein Kopf schlägt gegen das Armaturenbrett. Dumpf wie meine Stimme.
„Das ist mein meine Sache.“ sage ich. Und dann, ein bißchen lauter, „Ich hoffe, das ist angekommen.“
„Ach ja“, sagt er, wieder er selbst, der Mann, und er starrt weiterhin auf die Fahrbahn.
„Tut mir leid.“ sage ich.
Aber er kann mich nicht hören, er fährt und er ist ganz Stein und starr. Ich bin leise und sehr klein.
Meine Zigarette brennt sich in meinen Finger und erinnert mich an den Stacheldraht. Während ich mich langsam vorbeuge, um sie auszudrücken, rücke ich ihn zurück an seinen Platz unterhalb meiner Brust.
Ich sage nichts mehr, mit Stacheldraht komme ich nicht an die richtigen Worte, statt dessen bete ich stumm, Ich habe einen Stacheldraht durch meinen Körper, wie der Eiserne Heinrich Stahlbänder um die Brust gezogen hatte. Und wie der eiserne Heinrich warte ich darauf, daß sie mit einem Geräusch wie eine brechende Radachse aufspringen und mich wieder ganz sein lassen.
Aber weil mein mächtigster Zauber das Wegsperren ist, weil ich das Märchen vom Eisernen Heinrich weggesperrt habe, bin ich die Frau ohne Unterleib, die fischkalte Schlampe, die Eisernste Jungfrau.
Komm mir noch so nahe, nie wirst du mich wirklich finden. Ich bin das Biest, das alles hat und in dem trotzdem ein schwarzes und tiefes Loch sich nicht stopfen läßt.