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Unsere Liebe Dame der A 1

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19.02.2005
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Unsere Liebe Dame der A 1

Unsere Liebe Dame der A 1
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Wir sind Treibholz. Wir sind Holz und wir sind stumm, weil Treibholz keinen Mund zum Sprechen hat. Wir treiben durch die Nacht, die Autobahn entlang, keine Sterne, die noch unseren Weg weisen könnten, selbst die Ursa Major hat uns verlassen – oder vielleicht auch nur mich, an seinem Gesicht vorbei aus seinem Fenster ist sie vielleicht zu sehen, wie sie über uns steht und seinen Weg bewacht.

Wir sind Treibholz, wir haben keinen Hafen und keine Verbindung mehr zu einem Ganzen. Seine Hände am Lenkrad gehören dorthin und nirgendwo anders, meine Finger um die Zigarette brauchen keinen anderen Halt als den Filter.

Selbst die Ursa Major hat mich verlassen, und so gibt es niemanden hier, der etwas sagt, und daran wird sich nichts ändern, ich kann keinen Blick aus seinem Fenster riskieren, denn von seinen vollen Lippen ist nichts geblieben.

Ich sehe nach vorn, lasse mich treiben und setze mich nicht der Gefahr aus, mich in meinem Getriebenwerden bremsen zu lassen: ich sehe ihn nicht an, denn seine Lippen sind dünn und sperren jede Erlösung weg. Das einmal gesehen zu haben, ist genug. Ich bin die Frau ohne Unterleib, ich bin die Eiserne Jungfrau.

Ich habe einen Stacheldraht durch meine Körpermitte, direkt unter meiner Brust teilt er meinen Körper in zwei Hälften. Anstelle meines Solar Plexus ist da ein schwarzes Loch. Er könnte mir erklären, wie schwarze Löcher Materie einsaugen, und daß nicht verifizierbar ist, was auch immer die neusten Erkenntnisse für das sind, was danach mit dieser Materie passiert, ob dahinter vielleicht neue Universen liegen. Das sind Wunder für kleine Kinder, mit großen Augen, und neben mir sitzt ein Mann und kein Junge, so halte ich den Mund.

Meine Augen geschlossen lebe ich weiter ohne Unterleib.

Was ihn angeht, als ich das letzte Mal in seine Richtung sah, fuhr er mit festgeschlossenen Lippen und seine Augen sahen aus, als wollten sie die Windschutzscheibe durchbrennen. Er sah älter aus als normaler Weise, da war kein Raum für ein Jungengrinsen oder einen weichen Blick unter seinen Brauen, sie waren zu schwer für seine Lider.

Wie Treibholz sind wir ohne Ziel, solange wir nur fahren, solange vor uns die Autobahn liegt und zwischen uns die Handbremse. Und die Stille, natürlich. Er sagt nichts, er starrt auf die Fahrbahn. Und zum ersten Mal, daß wir zusammen Autofahren, fehlt mir seine Musik. Ich beginne, mir die Nägel zu feilen. Er haßt das Geräusch der Feile. Meine Nägel rieseln als Staub auf die Sitzpolster. Ob Staub auch ein Aggregatzustand sein könnte? Aber der Stacheldraht bremst meine Frage, dieses fragende kleine Kind in mir, das mit den großen Augen, ist sicher weggesperrt. Und so weiß ich, daß ich für ein "Nein." auf meine naturwissenschatliche Frage nicht erst ihn fragen muß. Also feile ich weiter, während meine Zigarettenasche in kleinen Zylindern auf meiner Hose liegen bleibt, ohne zu zerfallen.

Ich könnte genau so gut auf den Sitz aschen. Ich lasse es und sammle weiter auf meiner Hose. Als ich fertig mit meinen Nägeln bin, färbe ich meine Hose sorgfältig aschefarben, und drücke meine Zigarette auf Kniehöhe auf dem Jeansstoff aus, um eine neue zu drehen. Ich habe Stacheldraht durch meinen Körper, und Minen, und nichts wird daran etwas ändern, auch nicht der Brandschmerz. Obwohl Brandblasen nicht gut aussehen, das weckt meinen Körper längst nicht mehr.

Er fährt.

Ich bin Treibholz. Ich treibe ohne Verbindung, ohne Verbindung zur Erde oder irgend etwas sonst, bis ich irgendwo angespült werde und dort vielleicht Ruhe finde. Treibholz hat keine Öffnung für einen Mund, genau so wenig wie für Ohren.

Rechts vor der Ente schert ein LKW aus, und mir fällt auf, wie schnell er fährt. Er tritt in die Bremsen, aber er sagt nichts. Und nichts ist da. Nichts, bis auf die Autobahn, den Himmel und einige Scheinwerfer. Seine Wutanfälle machen ihn jünger als sein Grinsen, und wenn er wütend wird, tritt er gegen Schränke und schmeißt alles mögliche durch die Gegend, aber im Gegensatz zu mir wirft er nie etwas kaputt.

Mir fällt die Zigarette aus der Hand. Meine Finger schaben über die Fußmatte, und ich finde sie nicht. Solange mein Kopf unter dem Armaturenbrett steckt, ist mein Rücken schutzlos. Ich grabble weiter nach der Kippe, und just, als ich die Glut am Zeigefinger fühle und sie greife, schlägt seine Stimme in meinen Rücken, viel zu jung für sein neues scharfes Profil: „Wie kams?“

Etwas drängt gegen den Stacheldraht, schiebt ihn in einem Klumpen hoch in meine Brust, und mein Kopf schlägt gegen das Armaturenbrett. Dumpf wie meine Stimme.

„Das ist mein meine Sache.“ sage ich. Und dann, ein bißchen lauter, „Ich hoffe, das ist angekommen.“

„Ach ja“, sagt er, wieder er selbst, der Mann, und er starrt weiterhin auf die Fahrbahn.

„Tut mir leid.“ sage ich.

Aber er kann mich nicht hören, er fährt und er ist ganz Stein und starr. Ich bin leise und sehr klein.

Meine Zigarette brennt sich in meinen Finger und erinnert mich an den Stacheldraht. Während ich mich langsam vorbeuge, um sie auszudrücken, rücke ich ihn zurück an seinen Platz unterhalb meiner Brust.

Ich sage nichts mehr, mit Stacheldraht komme ich nicht an die richtigen Worte, statt dessen bete ich stumm, Ich habe einen Stacheldraht durch meinen Körper, wie der Eiserne Heinrich Stahlbänder um die Brust gezogen hatte. Und wie der eiserne Heinrich warte ich darauf, daß sie mit einem Geräusch wie eine brechende Radachse aufspringen und mich wieder ganz sein lassen.

Aber weil mein mächtigster Zauber das Wegsperren ist, weil ich das Märchen vom Eisernen Heinrich weggesperrt habe, bin ich die Frau ohne Unterleib, die fischkalte Schlampe, die Eisernste Jungfrau.

Komm mir noch so nahe, nie wirst du mich wirklich finden. Ich bin das Biest, das alles hat und in dem trotzdem ein schwarzes und tiefes Loch sich nicht stopfen läßt.

 

[Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Stückchen hier richtig aufgehoben ist - Jedenfalls ist es wohl eher Kurzprosa als klassische Kurzgeschichte...]

 

Hallo!

Ich finde deine Geschichte sehr schön. Klassisch ist sie nicht, aber eine Handlung ist ja im Grunde vorhanden.
Die Vergleiche, die du anstellst, haben mir größtenteils gefallen. Besonders fasziniert habe ich dann die letzten vier Absätze gelesen. Die haben wirklich Stärke.
Mehr weiß ich gerade leider gar nicht zu schreiben. Für eine Interpretation fehlt mir die Zeit.

Viele Grüße

Cerberus

 
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Hallo Ghost,

ich bin in deiner Geschichte zwiegespalten. Einerseits ziehen mich deine Beschreibungen in den Bann, andererseits fehlt mir noch ein klitzekleines Stück Info über die Prot. So gehe ich aus der Geschichte mit dem Gedanken, dass du einen interessante KG mit deinen Worten erschaffen hast, die mir aber in der Aussage etwas zu indiffent ist. So komme ich an die Prot schlecht heran, da ich überhaupt nicht weiß (oder kann nur ganz weitläufig spekulieren), was sie so fühlen ließ.


Wir sind Treibholz, wir haben keinen Hafen und keine Verbindung mehr zu einem Ganzen. Seine Hände am Lenkrad gehören dorthin und nirgendwo anders, meine Finger um die Zigarette brauchen keinen anderen Halt als den Filter.

Gefällt mir sehr gut.

den großen Augen ist sicher weggesperrt, und so weiß ich, daß ich für ein Nein. auf die Frage nicht erst ihn fragen muß und feile weiter,

den Satz musst du nochmal durchgehen

. Ich habe Stacheldraht durch meinen Körper, und Minen, und nichts wird daran etwas ändern. Obwohl Brandblasen nicht gut aussehen.

wieso obwohl?


Meine Zigarette brennt sich in meinen Finger und erinnert mich an den Stacheldraht, während ich mich langsam vorbeuge, um die Zigarette auszudrücken, rücke ich ihn zurück an seinen Platz unterhalb meiner Brust.

Die Zigarette hat die Prot doch verloren. Wo kommt die denn auf einmal wieder her?
Da wird der Handlungsablauf nicht genau beschrieben.

Ich könnte mir diese Geschichte auch in Seltsam vorstellen und dann könnte ich mit den wenigen Hintergrundinfos der Prot auch besser umgehen.

Lieber Gruß
bernadette

 
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Hallo Cerberus,
hallo bernadette!

Danke für eure Kritiken/Kommentare! :)

Keine Zeit für eine Interpretation macht nix, ist ohnehin primär ein Stimmungsbild mit afterthought-Erkenntnis, nehme ich an. ;)

Freut mich, daß euch die Bilder größtenteils gefallen!

Zu deiner Kritik, bernadette:
Erstmal Danke für deine Mühe!

ich bin in deiner Geschichte zwiegespalten.
Ja, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Für mich ist sie so zwar fertig, aber vielleicht würde es helfen, wenn ich ein bißchen mehr Info über die Protagonistin gäbe!?
("Seltsames" würde ich ungern wählen. Ich hatte zuerst "Romantiscehs" im Sinn, aber weil es ja eher kurz vor Beziehungsende ist, hielt ich das dann doch nicht für so gelungen... ;) )

Was deine anderen Kritikpunkte angeht, hast du völlig recht (vor allem bzgl. der sich plötzlich materialisierenden Zigarette! *lach*) !

So, mache mich mal ans Bearbeiten und überlege, wie ich etwas mehr Info über die Gefühle der Prot. geben kann, ohne sie platt zu reden! :) (A propos, der eine Schlüssel, den ich gelegt habe, ist übrigens der Satz "Wie kams?", aber der ist ein bißchen dünn, das sehe ich ein...)

Alles Liebe,
Katharina

 

Hallo Ghostdoesgetdrunk (interessanter Nick)!

Mir gefällt dieser Text stilistisch ausgesprochen gut, zumal er Raum für eigene Interpretationen läßt. Für mich ergibt sich nach dem zweiten Lesen Folgendes:
Im Vordergrund steht offenbar eine Beziehung, die an ihrem Ende angelangt ist. Die Prot. fährt als Beifahrerin in einem Auto bei einem Mann mit, für den sie keinerlei sexuelles Interesse mehr hegt. Sie haben sich nicht mehr viel zu sagen - die Fronten haben sich verhärtet. So, wie das Ziel der Fahrt buchstäblich im Dunkeln liegt, gibt es auch keine Anhaltspunkte über die Beweggründe oder die weiteren Ziele der "Getriebenen".

Ich sehe nach vorn, lasse mich treiben und setze mich nicht der Gefahr aus, mich in meinem Getriebenwerden bremsen zu lassen: ich sehe ihn nicht an, denn seine Lippen sind dünn und sperren jede Erlösung weg.
Den Blick in die Zukunft gerichtet, will sie ihre Bedürfnisse durchsetzen, obwohl sie sich in gewisser Weise schuldig fühlt.

Seine Wutanfälle machen ihn jünger als sein Grinsen, und wenn er wütend wird, tritt er gegen Schränke und schmeißt alles mögliche durch die Gegend, aber im Gegensatz zu mir wirft er nie etwas kaputt.
Er leidet eher beherrscht, wird im Gegensatz zu der Prot. nie zerstörend.

Komm mir noch so nahe, nie wirst du mich wirklich finden. Ich bin das Biest, das alles hat und in dem trotzdem ein schwarzes und tiefes Loch sich nicht stopfen läßt.
Egal, was er ihr geben konnte, es war nie genug.

Soweit zunächst ein paar Deutungen von meiner Seite.

Eine Frage noch:
Was bedeutet der Titel???


Ciao
Antonia

 
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Hallo Antonia!

Wow, deine Kritik freut mich - und schönen Dank für deine Deutung! *gebauchpinseltfühl*
Okay, dann will ich dich nicht länger im Regen stehen lassen und was zu deinen Ideen schreiben: Du liegst ziemlich richtig (nach dem zweiten Lesen… *kopfkratz* Vielleicht schreib ich echt zu kryptisch.), die beiden haben sich nicht mehr viel zu sagen, obwohl sie es vermutlich mal hatten.

Das einzige, was offenbar nicht so ganz klar wird *schäm*: Eigentlich würden sie beide gerne noch (bspw. versucht er mit seiner Nachfrage noch mal einen Anfang).
Das ist eben das Dilemma. Eigentlich klassisches Kommunikationsproblem von „Sie konnten [verbal] zueinander nicht kommen“. Zuviel passiert, zu stark gekränkter Stolzu…

Ghostdoesgetdrunk schrieb:
Ich sehe nach vorn, lasse mich treiben und setze mich nicht der Gefahr aus, mich in meinem Getriebenwerden bremsen zu lassen: ich sehe ihn nicht an, denn seine Lippen sind dünn und sperren jede Erlösung weg.
Antonia schrieb:
Den Blick in die Zukunft gerichtet, will sie ihre Bedürfnisse durchsetzen, obwohl sie sich in gewisser Weise schuldig fühlt.
Eher diese Richtung: wenn sie ihn ansähe, wäre sie wieder mit seinem Schweigen (oder, wenn du magst, übertragen, seiner Verschlossenheit) konfrontiert, das will sie vermeiden (und sie selbst kann/will auch nicht das richtige sagen). *schwafel*

Na ja, ich denke, ein paar Dinge sollte ich noch deutlicher herausarbeiten… ;)

Zum Titel: im Amerikanischen und Englischen gibt es häufig 'Titel' (für Maria, soweit ich weiß) wie „Our Lady of the Sacred Heart“ und solche Sachen (als Namen auch gerne für Kirchen und Kliniken).
Ich bin selbst nicht sehr bewandert in christlichen ‚Anrufungen’, aber im Deutschen gibt es auch solche Bitten, „Unsere Liebe Dame der Schmerzen, bete/bitte für uns“. Hier ist es die Dame der A1 (Autobahn): „Unsere Liebe Dame der A1, bitte für uns, wir selbst kriegen es längst nicht mehr hin…“

Alles Liebe,
Katharina

 

Hallo Katharina,

Ich bin selbst nicht sehr bewandert in christlichen ‚Anrufungen’, aber im Deutschen gibt es auch solche Bitten, „Unsere Liebe Dame der Schmerzen, bete/bitte für uns“. Hier ist es die Dame der A1 (Autobahn): „Unsere Liebe Dame der A1, bitte für uns, wir selbst kriegen es längst nicht mehr hin…“

Puhh...da verlangst du von mir als Leserin schon viel, wenn ich das verstehen soll, zumal es im Text auch keinen direkten Bezug gibt. Wobei ich die Idee gut finde, aber ob da jemand ohne deine Erklärung draufkommt?

Nachdem Antonia sich mit einer Interpretation auseinandergesetzt hat, werde ich meine ersten Gedanken zur KG nochmal aufschreiben, obwohl ich das nun durch deine Anmerkungen anders sehe.

Für mich war die Prot ein Opfer einer Vergewaltigung - und es stand sogar für mich noch im Raum, ob von jemand Fremden oder der anderen Person im Auto (also Vergewaltigung in der Beziehung).
Auf diese Idee kam ich, weil du den Körper der Prot so beschreibst:

Ich bin die Frau ohne Unterleib, ich bin die Eiserne Jungfrau.
Ich habe einen Stacheldraht durch meine Körpermitte, direkt unter meiner Brust teilt er meinen Körper in zwei Hälften. Anstelle meines Solar Plexus ist da ein schwarzes Loch.

Lieber Gruß
bernadette

 

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