Unsichtbar
Zweimal hatte er sie in dieser Pause bereits gesehen. Sie grüßten ihn, wie immer. Klar, sie waren ja auch seine Freunde. Und doch kam es ihm merkwürdig vor. Scheinbar fiel es ihnen nicht auf, dass er unsichtbar war.
Felix saß mit seinem Pausenbrot auf einer Bank am Rande des Schulhofs und studierte zum wiederholten Male seinen Notitzzettel, den er für sein Referat über John McCaine, dass er gleich halten würde, benötigte. Der Zettel blendete ihn, die Sonne kam heute mehr als nur zum Vorschein und ließ ihn gleißend weiß leuchten.
Bisher hatte Felix nie ein Problem damit gehabt, dass er unsichtbar war. Doch seit ein paar Tagen störte es ihn maßlos. Wieso, das wusste er selbst nicht genau. Heute wünschte er sich, er könnte genauso hell schimmern wie dieser Zettel. Natürlich hatte es auch viele Vorteile, unsichtbar zu sein, so konnten ihn die Mädchen, die er begehrte, nicht nach seinem Aussehen beurteilen, sondern ausschließlich nach seinem Charakter, und der war wirklich sehr begehrenswert, Mann. Er fragte sich nun, wie er da so saß, woher seine Freunde überhaupt wussten, dass er dort auf der Bank saß. Felix hatte nichts gerufen oder sonstwie auf sich aufmerksam gemacht und doch hatten Martin und Ozan ihm aus der Ferne lässig zugewunken.
Er würde sie bald fragen, jetzt musste er sich um sein Referat kümmern. Nachher hatte er Mathematik mit ihnen, dort würde sich sicherlich eine Gelegenheit bieten. Und so widmete Felix sich wieder seinem Zettel, darüberlehnen, um Schatten zu spenden, konnte er sich nicht, die Sonne schien schließlich durch ihn hindurch. Felix griff in seinen Schulrucksack und war froh, dass er dort eine Sonnenbrille fand, mit der das Lesen einigermaßen erträglich wurde.
Für sein Referat erntete Felix viel Lob, vom Lehrer wie auch von den Mitschülern. Später am Tag saß er mit Martin und Ozan in Mathe.
"Leute, wie kommt es eigentlich, dass ihr mich sehen könnt, obwohl ich unsichtbar bin?"
Martin lachte. "Wir sehen dich doch überhaupt nicht, sonst wärst du ja nicht unsichtbar, oder?"
Ozan grinste und nickte zustimmend.
"Wir nehmen dich einfach wahr. Unsere gute Frau Lehrerin wusste doch schließlich auch, dass du heute nicht fehlst, obwohl sie dich nicht sieht und du auch nichts gesagt hast."
"Na gut. Trotzdem frage ich mich, wieso ich unsichtbar bin, ich habe noch nirgendwo sonst nen Unsichtbaren wahrgenommen."
"Ich schon mehrmals, ab und an läuft einem einer über den Weg.", sagte Ozan. "Aber stimmt, von deinen Eltern kannst du es nicht haben, die sind ja sichtbar. Aber mein Vater ist ja Biologe, vielleicht weiß der, warum das bei dir so ist, ich frag den mal."
Ozan vergaß mehrmals, seinen Vater zu fragen, doch dann klingelte eines Nachmittags das Telefon bei Felix. Es war Ozan, der herausgefunden hatte, wieso Felix unsichtbar war.
"Also es ist so, dass die Sache nur oberflächlich etwas mit Biologie zu tun hat. Deine Unsichtbarkeit ist während deiner frühen Kindheit zu deinem Schutz erschaffen worden."
"Zu meinem Schutz? Wieso?"
"Wie viele Freundinnen hattest du bisher?"
"Hmm, fünf Stück und ein paar Affären."
"Siehst du, das ist mehr, als fast jeder andere 19-jährige vorzuweisen hat. Ohne deine Unsichtbarkeit hättest du wahrscheinlich niemals eine gehabt. Denn sie wird jedem gegeben, der zu häßlich für die Augen anderer Menschen ist. Das solltest du deinen zukünftigen Freundinnen aber nicht sagen. Vor allem nicht deiner Ehefrau, solltest du mal eine haben. Denn dieser Schutz wurde von der deutschen Regierung dazu bestimmt, damit die Zahl der Neugeborenen sich wieder erhöht. Weil nämlich total häßliche Menschen als Unsichtbare nicht als derbe häßlich wahrgenommen werden und so viel größere Chancen haben, eine Familie zu gründen."
Felix nickte.
"Alles klar, vielen Dank Ozan. Es lebe unsere Regierung!"