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- 15.10.2005
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Unter dem Meeresspiegel
Ich habe es geschafft. Ich konnte ein U-Boot konzipieren, das selbst Piccards Trieste in den Schatten stellt. Meine Helena hält einen Druck von über 1,5 Tonnen pro Quadratzentimeter aus, es ist mir gelungen mit ihr tiefer zu tauchen, als jemals ein Mensch zuvor. Man sagte mir, der tiefste Punkt des Meeres wäre 11.000 m unter dem Meeresspiegel. Tatsächlich fand ich heraus, dass es möglich ist, noch tiefer zu gelangen, in Welten, von denen nie ein Mensch auch nur gewagt hat zu träumen. Völlige Dunkelheit umschließt mich, das bloße Menschenauge ist in dieser Tiefe nutzlos. Ich habe ein spezielles Gerät, das mich trotz der Dunkelheit „sehen“ lässt. Ich befinde mich über 15.000 m unter dem Meeresspiegel, in einer rätselhaften Welt, in der Meerjungfrauen, riesige Seemonster und längst ausgestorben geglaubte Lebewesen herrschen. Arielle, Nessi, wer kann sagen, auf was ich in dieser Tiefe stoßen werde. Ich habe keine Angst. Schon als kleiner Junge faszinierte mich die Tiefsee, ich liebte die märchenhaften Geschichten, die sich träumerische Menschen über diesen Ort ausgedacht haben, wollte sehen, was sie in ihren Träumen gesehen haben, wollte es in der Wirklichkeit erleben. Tiefe Dunkelheit um mich herum, Stille, nur das leise Rattern meines U-Bootes zeugt von Leben in dieser erschreckenden Finsternis. Ich bin nun schon drei Tage auf dem Meeresgrund, habe alles erforscht, alles gesehen, alles erlebt, was weit weg von der warm auf die Wasseroberfläche scheinenden Sonne existiert.
Ich bin mit einer wunderschönen Meerjungfrau geschwommen. Sie entführte mich in ihr Reich, eine Luftblase, so groß wie eine Stadt, in der eine mysteriöse Lichtquelle die Dunkelheit verscheuchte. Eine ganze Zivilisation hatte hier ihr eigenes kleines Imperium, ich wurde freundlich empfangen, war kurz davor verrückt zu werden, die Schönheit dieses Ortes machte mich verrückt, ich war in ihrem Bann gefangen. Träume ich? Ich schwamm mit einer wunderschönen Meerjungfrau. Ich sah riesige Seeschlangen, die Meermannsoldaten schlugen sie in die Flucht, ich sah Nessi – es kann nicht das gleiche Ungeheuer sein wie das von Loch Ness, aber vielleicht ja doch – ich sah Atlantis, meine Güte, Atlantis. Die Meerjungfrau führte mich dort hin, das Reich der Meerjungfrauen und Meermänner nutze die untergegangene Stadt, um mehr über die Zivilisation von denen über dem Meeresspiegel zu erfahren. Sie pflegten die Häuser und Straßen, sodass Atlantis aussah, als wäre es eben erst im Meer versunken.
Völlige Dunkelheit umgibt mich. Ich sitze in meiner Helena, ihr leises Rattern bewahrt mich davor einzuschlafen. Ich bin müde. Seit drei Tagen erforsche ich den Meeresboden, habe Dinge gesehen, die niemals ein Mensch zuvor zu Gesicht bekommen hat. Ich weine, weiß nicht warum. Ich habe keine Angst. Ich habe durch mein spezielles Gerät geschaut, sodass ich sehen konnte, welch sagenhaften Kreaturen, welch traumhafte Städte vor mir lagen. Mein ganzes Leben lang habe ich alles dafür getan, hierher zu kommen, mit eigenen Augen zu sehen, was die Phantasie der Menschen erschaffen hat. Alles Lügen.
Völlige Dunkelheit umschließt mich, selbst mit meinem speziellen Gerät, das Dinge sehen kann, die die Dunkelheit verschleiert, bleiben meine Träume im Dunkeln. Hier unten gibt es nichts. Keine Meerjungfrauen, keine Seeungeheuer, kein Atlantis. Nur Felsen, Gestein, ab und an ein kleiner Fisch, der sich in das erbarmungslose Dunkel verirrt hat. Ich weine um meine Träume. Wären meine Träume doch nur Träume geblieben, wenigstens mit Hoffnung geträumt, wenigstens nicht diese Leere, die mein Herz jetzt in völlige Finsternis taucht. Mein Sauerstoff reicht noch für einen Tag. Ich werde nicht mehr nach oben zurückkehren. Wenn mich nur einer fragt, was ich hier unten gesehen habe, wenn nur ein einziger träumender Mensch mir diese Frage stellt, was sollte ich antworten? Die Wahrheit? Alle Träume zerstören, wie meine Träume von der Wirklichkeit zerstört wurden? Lügen? Ich werde nicht mehr zurückkehren, um nicht vor diese Wahl gestellt zu werden. Ich habe es geschafft. Ich konnte ein U-Boot konzipieren, das selbst Piccards Trieste in den Schatten stellt. Meine Helena hält einen Druck von über 1,5 Tonnen pro Quadratzentimeter aus, es ist mir gelungen mit ihr tiefer zu tauchen, als jemals ein Mensch zuvor. Ich schließe die Augen, versuche einzuschlafen. Vielleicht träume ich von Meerjungfrauen. Ich hoffe es sehr.