Unter der Führung der Partei
23. August 1959 sechs Uhr früh: Wir stehen auf dem Schulhof in kleinen Grüppchen herum und stützen uns auf die roten Fahnen und die zusammengerollten Losungen. Manche übermütige Jungs tragen mit den Standarten noch schnell kleine Kämpfe aus. Es ist ein großer Tag in der Geschichte Rumäniens – eine Zeitenwende: Vor fünfzehn Jahren wurde das Land vom faschistischen Joch durch die glorreiche Rote Armee befreit. Wir, im Jahr der Befreiung Geborene, sind die „Generation 23. August“ und sollen zu Menschen neuen Typs heranwachsen. Wie jedes Jahr, wurden wir in die Schule beordert, um diesen Jahrestag gebührend zu feiern.
Jetzt geht es los! Die Sportlehrerin tänzelt mit federnden Schritten von einer Gruppe zur anderen und fordert auf, sich zu gruppieren. Langsam bildet sich eine sozialistische Ordnung heraus. : Vorn die roten Fahnen, danach die Losungen: „UdSSR für den Frieden ist“; “Unter der Führung der Partei, sind die Siege unser!“; „Wir lernen für den Sozialismus“. Dazwischen ragen die riesigen Bilder unserer geliebten Führer aus Rumänien und dem großen Bruderland empor. Ich kann mich noch an die erste Kundgebung erinnern, die ich als Kind wahrnahm. Ich war noch klein und mein sozialistisches Bewusstsein unterentwickelt. Ich fragte wer, die Frau auf dem Bild sei, das über der Menge schwebte. Eine vorbeiziehende Genossin, von Güte triefend, erläuterte: „ Das ist Anna Pauker, die Mutter aller Kinder.“ Gar nicht entzückt, erwiderte ich: „Brauch ich nicht, hab schon eine Mutter.“ Ein Bild von Anna Pauker haben wir bei der heutigen Kundgebung nicht dabei. Schon vor einigen Jahren wurde sie als antiparteiisches Element entlarvt, das sich als Jüdin in den Dienst des Faschismus gestellt hatte. Was aus der Mutter aller Kinder geworden ist, weiß ich nicht. Aber wen kümmert’s: Die Partei schreitet voran und hat immer recht.
Die Gruppen stehen. In die Mitte wurde der rot tapezierte Wagen platziert. Auf ihm sitzen oder stehen die schönsten Mädchen der Schule. Ihre weißen Blusen wölben sich schon recht schön. Ihren Eifer beim Aufbau des Sozialismus bekunden sie aber durch aufmerksames Lesen eines riesigen Buches oder durch Hantieren an einem Mikroskop. Die ernsten Posen unterbrechen sie manchmal und schlagen sich mit dem großen Lineal, das sie als künftige Ingenieurinnen ausweist, auf den Rücken. Auch die kräftigen Jungen, die den Wagen ziehen, ruckeln an ihm, so dass die Mädels kreischen. Jetzt wird der Appell durchgeführt. Wir sind gespannt: Sind alle gekommen? Wie immer, ist aber nur Butzi, der Hallodri der Klasse, nicht erschienen. So ist es: Die Randfiguren der Gesellschaft gleiten bewusst oder unbewusst am leichtesten in den Widerstand. Ich dagegen, als guter Schüler, ordne mich brav ein. Man weiß gar nicht, was bei Nichtteilnahme geschehen würde. Butzi ist bisher nichts Schlimmes passiert. Auch dieses Mal wird er lediglich mit Schimpfe davon kommen. Ich sehe ihn schon, wie er den Kopf einzieht, nichts sagt und dann wie ein nass gewordener Hund alles abschüttelt. Ich dagegen kann meinen Status nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht bietet sich später eine Gelegenheit, abzuhauen.
Wir marschieren los. Unser Marsch wird aber immer wieder aufgehalten. Es ist nicht der Klassenfeind, sondern andere Kämpfer für den Sozialismus stehen uns im Wege. Ganz Bukarest ist auf den Beinen und muss seine Treue zum Sozialismus heute auf dem zentralen Platz bekunden. Es sind vielleicht drei Kilometer bis dahin. Mal kommen wir ein paar Schritte voran. Dann stocken wir wieder eine halbe Stunde an Ort und Stelle. Vielleicht werden wir gegen Mittag unser Ziel erreichen oder früher abhauen. Das sehen wir als Mutprobe und wären auf eine gelungene Evasion stolz. Um dem zu begegnen, werden aber immer wieder Appelle durchgeführt. Auch stehen am Straßenrand Milizionäre in ihren grauen, unpassenden Uniformen und Arbeitergardisten in adretten blauen Anzügen, die sie nur zu diesen Anlässen anziehen. Aus den Lautsprechern ertönen immer wieder Losungen und revolutionäre Lieder. Wir beteiligen uns. Die Sportlehrerin stellt sich drahtig wie immer vor uns und dirigiert: „Unter der Führung der Partei, sind die Siege unser!“ Mal legen wir die Betonung auf ein Wort, mal auf das andere. Das macht sogar Spaß. Am Straßenrand gibt es gegrillte Wiener Würstchen und „Leberchen in Blut“. Auf die bin ich besonders scharf. Sie werden nämlich nur an nationalen Feiertagen feilgeboten. Dagegen sind schon vor einer Woche alle alkoholischen Getränke aus den Geschäften verschwunden. Das Bewusstsein der Werktätigen darf auf keinen Fall an einem solchen Tag getrübt werden.
Wir sind schon fünf Stunden unterwegs. Unter der August Sonne wird es immer heißer. Selbst das Schreien der Losung „Unter der Führung der Partei, sind die Siege unser!“ mit unterschiedlicher Betonung macht keinen Spaß mehr. Die Reihen haben sich aufgelöst. Sind welche abgehauen? Die Lage ist unübersichtlich und ich kann es nicht feststellen. Soll ich mich von der Truppe entfernen? Ich bin aber fest von den Massen eingeschlossen und mir fehlt die contrarevolutionäre Energie. Es ist auch nicht mehr so weit. Ich trottele weiter. Auf einmal sind wir unverhofft auf dem großen Platz. Rechts ist die Tribüne, an der wir uns vorbei schieben. Wir gaffen zu unseren weisen Führern hinauf, ohne einen Ton von uns zu geben. Selbst die energische Sportlehrerin ergreift die Initiative nicht, um uns anzufeuern: „Unter der Führung der Partei, sind die Siege unser!“ Dafür gibt es ausufernden Jubel und Applaus aus den Lautsprechern. Später wird man auch die enthusiastischen revolutionären Massen im Fernseher sehen können. Unsere weitsichtigen Führer scheinen ebenfalls unter der Sonne gelitten zu haben. Sie winken nur noch lahm und könnten eigentlich auch aus Pappe sein.
Der Höhepunkt der Kundgebung währt nur kurz. Jetzt sind wir in den großen Stau der heimkehrenden Demonstranten geraten. Es kann noch Stunden dauern, bis wir nach Hause kommen. Ich habe mich einer Gruppe innovativer junger Kämpfer der Generation „23. August“ angeschlossen. Wir schieben unseren rot tapezierten Wagen, von dem die schönen Mädchen inzwischen abgestiegen sind schnell voran und stoßen dabei ein bedrohliches Geschrei aus. Die Massen sind erschöpft. Sie teilen sich wie das Rote Meer vor Moses und geben uns den Weg frei. Auf diese Weise kommen wir schnell aus dem Gewühl heraus. Ich bin aber enttäuscht. Die Stände mit den „Leberchen in Blut“ sind abgeräumt. Ja, so ist das Leben: Alles geht mal zu Ende.