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Unter einem Himmel, über den es nicht viel zu sagen gibt

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21.01.2003
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Unter einem Himmel, über den es nicht viel zu sagen gibt

Gestern sah ich einen Baum. Er stand einfach da. Bewegte sich nicht. Ich bleib stehen und beobachtete ihn. Der Boden war gelb. Und unglaublich eben. Wirklich sehr eben. Über den Himmel kann man nicht viel sagen, außer dass er da war. Ich hatte den Eindruck, dass er sich wölbte. Genau über mir und dem Baum wölbte er sich. Aber man konnte sich dessen nicht völlig sicher sein. Es war ein statisches Wölben, ohne jede Bewegung. Wie der Baum: Völliges Fehlen von Bewegung. Oder war der Himmel doch flach? Und der Boden war gewölbt?
Das Licht kam von überall und vermied es mit peinlicher Sorgfalt Schatten zu werfen. Das Gelb des Bodens war ein erdiges konturloses Gelb. Ich kniete mich nieder, ließ den bewegungslosen Baum für einen Augenblick aus den Augen und betrachtete den gelben Boden. Aus der Nähe sah er genauso makellos flach und konturlos aus, wie aus der Höhe, in der ich meinen Kopf für gewöhnlich beim aufrechten Gang trage. Kein Ton war zu hören. Der Boden war weder kalt noch warm. Das Gefühl, das an meinen Fingern entstand als ich ihn berührte, war unangenehm. Ich spürte den erwarteten Widerstand, aber sonst nichts. Der Boden war wirklich von einer perfekten Ebenheit, wie man sie nur bei einer mathematisch exakt ebenen Fläche erwarten würde.
Ich stand wieder auf. Der Baum war noch immer da. Ich schloss die Augen und fragte mich, ob er auch da wäre wenn ich ihn nicht sehe. Ich öffnete die Augen. Er war wieder da. Oder noch da. Wer kann das schon sagen? Ich dachte lange darüber nach, wie ich das rausfinden könnte. Nachdem ich der Meinung war, lange genug darüber nachgedacht zu haben, beschloss ich, dass es egal war. Wichtig ist, dass er da ist wenn ich ihn sehe. Was er gerade macht wenn ich ihn nicht sehe, ist mir egal. So lautete mein Entschluss, und das trotz meiner immerwährenden Neugier. Ich wunderte mich über mich. Das tue ich gelegentlich: Mich über mich selbst wundern. Ich glaube, andere Leute wundern sich auch manchmal über mich. Das verbindet mich mit den anderen Leuten. Befinde ich mich dadurch, dass ich auch zu denen gehöre, die sich über mich wundern, in guter Gesellschaft?

Der Himmel war noch immer da. Und er war noch immer so unglaublich eigenschaftslos wie gerade eben.
Die Zeit machte plötzlich einen weiten Sprung, aber ich bemerkte es nicht. Zeitsprünge passieren nicht oft, daher fand ich es ärgerlich, dass sie immer genau dann passierten, wenn sonst nichts passierte.
Ich beobachtete weiterhin den Baum. Er bewegte sich nicht. Ich ging auf ihn zu. Ich glaube, es war ihm egal. Ich hatte noch einen weiten Weg zurückzulegen bis zum Baum. Wenn der Baum nicht dagewesen wäre, hätte ich überhaupt nicht bemerkt, dass ich vorankomme beim Gehen.
Ich machte ein verwegenes Experiment: Ich schloss die Augen und ging weiter. Gehen mit geschlossenen Augen. Kein Ton war zu hören. Sollten meine Schritte nicht irgendwelche Geräusche verursachen? Ich wollte meine Augen öffnen und meine Füße beobachten, um zu sehen ob ich überhaupt gehe. Aber ich entschied mich dagegen. Das Experiment war wichtiger. Experimente sind wichtig, das wird oft unterschätzt.
Ich stellte deutlich fest, dass ich nicht feststellen konnte, ob ich mich bewege. Ich spürte, dass ich meine Beine bewegte. Das war ein beruhigendes Gefühl: Zu spüren, dass sich die Beine genau so bewegten, wie ich es von ihnen erwartete. Oder gaben meine Beine nur vor, sich zu bewegen, während sie in Wirklichkeit irgendwo schlaff herumlagen? Nein, ich glaube, Beine tun so etwas nicht. Beine sind ehrlich. Zumindest meine.

Ich öffnete wieder die Augen.
Der Baum war weg.
Ich bleib stehen. Ich schloss wieder die Augen, gab der Umgebung die Möglichkeit zu rebooten und dann so zu tun als wäre nichts passiert, und nach einer Zeit, die ich für angemessen hielt, öffnete ich die Augen wieder.
Der Baum war noch immer weg. Ich hielt es für sinnlos, ihm eine zweite Change zu geben.
Eines meiner Beine ist um sieben Millimeter kürzer als das andere. Das weiß ich. Der Schneider, der Maß für meinen Hochzeitsanzug genommen hat, hat es mir gesagt. Aber ich habe vergessen, welches das kürzere Bein ist. Ich spüre es nämlich nicht. Sieben Millimeter spürt man nicht, wenn es diese sieben Millimeter jeden Tag gibt. Vermutlich hat das beim Gehen mit geschlossenen Augen dazu geführt, das ich einen Bogen gegangen bin. Vermutlich befand sich der Baum links von mir. Möglicherweise auch rechts. Das wusste ich nicht so genau.
Ich ging weiter. Diesmal mit offenen Augen. Wenn ich weiterging, müsste sich der Bogen irgendwann zu einem Kreis schließen, und ich wäre dann genau dort wo ich losgegangen bin, und dann müsste ich den Baum wieder sehen können. Ich wollte nicht zur Seite sehen, oder gar nach hinten, weil das mein Experiment gefährdet hätte. Experimente sind wichtig. Ich ging weiter und sah dabei nur den glatten gelben Boden und den Himmel ohne Eigenschaften. Ich bemerkte tatsächlich nicht, ob ich mich vorwärts bewegte.
Ich bekam Angst. Was, wenn der Baum wirklich verschwunden wäre? Ich hatte die Augen geschlossen, und diesen Augenblick hat er vielleicht genutzt, um mal Pause von seiner Existenz zu nehmen. Er hat sich in der Kantine der Nichtexistenz einen kleinen Snack geholt, hat dort einen anderen Baum getroffen den auch gerade niemand ansah, die beiden haben sich über die ungewöhnliche Färbung des Himmels unterhalten, und dabei ganz auf mich vergessen.
Ich musste das Experiment abbrechen. Es war notwenig. Das was ich wissen wollte, habe ich erfahren: Wenn man unter einem eigenschaftslosen Himmel über einen konturlosen gelben Boden von mathematisch perfekter Ebenheit geht, ohne einen Baum im Blickfeld zu haben, merkt man nicht, dass man vorankommt. Man glaubt, immer am selben Ort zu bleiben.
Ich drehte mich nach links. Der Baum stand da, als wäre nichts gewesen. Zur Sicherheit drehte ich mich auch nach rechts, aber wie ich erwartet habe, war er dort nicht zu sehen. Das hätte mich auch sehr gewundert.
Ich wandte mich dem Baum zu und ging auf ihn zu. Er schien nichts dagegen zu haben. Vielleicht war es ihm auch ganz egal.
Er passte nicht hierher. Ich fragte mich, wie er wohl hierhergekommen ist. Wenn er nicht schon immer hier war: Wo war er dann vorher? Und wie hat er es von dort hierher geschafft? Man hört sehr selten von Bäumen, die durch die Gegend marschieren um sich einen neuen Platz zu suchen.
Als ich den Baum erreichte, blieb ich etwa einen Meter vor seinem Stamm stehen. Kein Ton war zu hören.
Ich streckte die Hand aus. Ich war aufgeregt. Das war ein sehr intimer Moment. Nur der Baum und ich unter einem Himmel, über den kaum etwas zu sagen war.
Der Baum war deutlich größer als ich.
Meine Finger schwebten einen Millimeter über seiner Rinde, ich spürte seine Wärme. Es roch nach Baum. Ich fand das nicht ungewöhnlich. Aber es fiel mir auf. Ich berührte den Baum mit der Spitze meines Mittelfingers. Er ließ es geschehen. Er wehrte sich nicht. Ich legte die ganze Hand auf seine Rinde. Sie war rau und uneben. Ganz anders als der konturlose ebene Boden aus dem er wuchs.
Ich legte auch die andere Hand auf seine Rinde. Ich spürte Leben in ihm. Ich mochte diesen Baum. Ich schmiegte meinen Körper an ihn, legte meine Wange auf seine Rinde.
Dann schloss ich die Augen.
Er war noch immer da. Ich konnte ihn deutlich spüren. Er war auch da wenn ich ihn nicht sah. Ich fand das sehr beruhigend. Ich spürte seine Rinde überall auf meinem Körper. Das war ein sehr sinnlicher Augenblick. Ich glaube, ich war nackt. Ich umarmte den Baum und spürte, wie ich eins mit ihm wurde. Meine Hände drangen durch seine Rinde. Ich schmeckte das Holz auf meiner Zunge. Ich wollte meine Augen nicht mehr öffnen. Ich war er. Ich brauchte keine Augen mehr.
Ich drang ganz in ihn ein. Meine Äste waren seine Arme, meine Wurzeln waren seine Füße.
Ich fühlte mich wohl.
Ich wuchs aus einem konturlosen gelben Boden hinauf in einen Himmel, über den bereits alles Notwendige gesagt ist.

 

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