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- 25.08.2006
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Oh mein Gott! Kein Licht, nichts! Jetzt ist es passiert! Nur keine Panik, Ferdinand, nur keine Panik! Ruhe bewahren, orientieren, kontrollieren. Das musst du jetzt machen. Ruhe bewahren! Das ist das Wichtigste. Und Hände dichter vor Nase und Mund. Komm schon! Dennoch muss ich erneut stark husten, bin noch immer in der Staubwolke gefangen. Nichts! Verdammt, ich kann nichts erkennen! Eine echte Staubwand. Nicht mal das Licht meiner eigenen Lampe sehe ich. Scheiße! Ich muss die Augen ohnehin sofort schließen, sie schützen. Versuche den Atem anzuhalten, chancenlos!
Verdammt! Dazu dieser ohrenbetäubende Lärm, dieses Krachen und Grollen, als wäre der ganze verdammte Berg in sich zusammengestürzt. Erneut muss ich husten. Mich fröstelt. Scheiße, wie lang hat das alles gedauert? Zehn Sekunden? Oder dreißig? Oder gar eine ganze Minute? Keine Ahnung, angefühlt hat es sich jedenfalls wie eine verdammte Ewigkeit.
Wenigstens legt sich jetzt langsam der Kohlenstaub. Wenn ich blinzle, kann ich bereits die Reflektion des Lichts meiner Stirnlampe an unzähligen Staubteilchen erkennen. Einen Meter, zwei, drei. Immer weiter. Ich starre in das schwarze Loch vor mir, jenes, aus dem das Grollen und danach die Staubwand kamen. Ich probier mal die Hände von Mund und Nase zu nehmen, obwohl die Luft noch immer beißend stinkt. Erneut muss ich stark husten, schleudere den Dreck aus meinen Lungen. Langsam erhebe ich mich aus meiner gehockten Position, richte mich auf. Schaue mich um. Das Licht meiner Stirnlampe erreicht nun wieder die Wände des Stollens. Langsam legen sich auch die letzten Staubteilchen. Endlich. Endlich!
Orientieren. Das muss ich jetzt tun. Ruhe bewahren und mich orientieren. Ruhig Blut, Ferdinand, das Schlimmste hast du bereits überstanden. Oder? Was jetzt noch kommt, kann nur... ach, denk einfach nicht dran. Orientieren, das solltest du stattdessen tun. Immerhin... oh Gott, wie viele meiner Kumpel mag es erwischt haben? Scheiße! Es waren sicher zwei Dutzend hier in dem Abschnitt... Verdammtes Drecksloch!, plärre ich! Am liebsten würde ich alles um mich in die Luft sprengen, den ganzen verdammten Berg! Es überkommt mich. Ich schlage und trete um mich. Scheiß-Zeche! Gott verdammte Scheiß-Zeche! Diese unglaubliche Kacke, ich... Ferdl, verdammt! Jetzt reiß dich zusammen! Du musst dich wieder einkriegen! Die Nerven bewahren. Immerhin kannst du noch deine Nerven bewahren. Lebst noch. Wurdest nicht von der Gerölllawine erdrückt. Umgebracht. Hier, in diesem Drecksloch.
Ich presse fest die Augen zusammen, bis sie schmerzen. Kralle meine Finger in die Handflächen. Verharre kurz, lasse den Schmerz wirken. Versuche nachzudenken. Also, hinter mir geht noch etwa vierzig Meter der alte Sondierstollen weiter. Vor mir im Hauptstollen kam es zum Einbruch. In der Förderstrecke. Das heißt, meine einzige Chance direkt zum Tagesschacht und damit zum Lift an die Oberfläche zu kommen, ist verschüttet. Keine Ahnung, wie massiv der Einbruch ist, aber ich muss es versuchen. Schließlich kann ich es noch versuchen. Nicht so, wie einst mein Vater. Heilige Barbara! Sein Unfall ereignete sich fast auf die Woche genau vor zwölf Jahren. Im Juni Siebzig. Wie viele Kumpel sind damals umgekommen? Sieben? Oder acht? War jedenfalls das zweitschlimmste Grubenunglück in der Geschichte dieses Untertagebaus.
Hm, das Leben ist schon merkwürdig. Da habe ich die Bergschule hinter mich gebracht, bin seit zwei Jahren Steiger, brauch mir selbst nicht die Hände dreckig zu machen und bin jetzt trotzdem nur knapp davor, genauso zu krepieren wie mein Vater. Ein einfacher Bergarbeiter, schlichter Braunkohlekumpel ohne besondere Ausbildung. Ein Schwerstarbeiter. Hm, nachdenken darf man nicht...
Ja, Recht so, Ferdinand! Hör auf nachzudenken, orientiert dich lieber. Konzentrier dich! Was kannst du jetzt tun? Zurück in den Hauptstollen, versuchen, irgendwie den Lift ins Freie zu erreichen. Im Notfall muss ich mich durchgraben, Hacke und Spaten werde ich ja sicher irgendwo finden. Und auch einen Presslufthammer könnte ich verwenden, obwohl... die Stromversorgung ist ja auch ausgefallen. Nicht einmal das Stollenlicht geht. Alles, was ich an Licht habe ist meine Stirnlampe.
Ach, ich muss darauf vertrauen, dass der Rettungseinsatz bald anlaufen wird. Ja vielleicht schon angelaufen ist. Ich muss ihnen zuarbeiten. Oder nein, zuerst versuchen, andere Überlebende zu finden. Gemeinsam können wir... ja Ferdinand, so ist’s richtig. Geh Richtung Hauptstollen, dann schaust du mal, wo der Einbruch passiert ist und dann kannst du die Förderstrecke immer noch in die entgegengesetzte Richtung absuchen. Da muss doch noch jemand sein. Gemeinsam werden wir es schaffen!
Die stickige Luft und der ganze Dreck reizen erneut meine Lungen. Ich muss meine Arme auf die Knien abstützen, mich nach vorbeugen, husten und spucken. Und mich dabei fast übergeben.
Dann gehe ich weiter. So, jetzt müsste ich bald den Förderstollen erreicht haben, da vorne ist die Gabelung und... Oh nein! Ich muss mich an der Wand abstützen, jetzt endgültig speien. Die Abzweigung ist verschüttet. Mein Gott! Ich bin allein hier! Ich übergebe mich erneut. Scheiße! Ich bin in einem Nebenstollen gefangen, der keine achtzig Meter lang ist. Scheiße! Soll ich hier, in diesem Drecksloch verrecken? Dann wäre ich nach Vater und Onkel Gustl der bereits dritte aus meiner Familie, der in dieser beschissenen Zeche draufgeht! Nein. Nein! NEIN! Ich könnte schreien. Ich will schreien. Ich schreie. Aaaah! Brülle mir den Kohlestaub und die Scheiß-Angst aus den Lungen! Und noch mal. Und noch mal! Scheiß Bergwerk, scheiß Hacke, Scheiß-Leben! Scheiß-Leben!
Komm schon, Ferdinand, komm schon! Ein paar tiefe Atemzüge! Beruhig dich wieder! So hilfst du keinem! Versuch Ruhe zu bewahren und dich zu orientieren. Versuch herauszufinden, wie weiträumig der verschüttete Bereich ist. Und bekomm keine Panik! Immerhin hast du hier, in diesem Stollen, mehr als genug Luft um zu warten. Einige Zeit. So lange es eben dauert. Kannst atmen, darfst leben. Komm schon, Ferdinand, reiß dich zusammen. Du hast wenigstens eine Chance. Du kannst... was ist denn das? Hallo? Hallo?! Ruft da jemand? Mein Gott, ja, ja! Da ist noch jemand! Da ruft einer!
Ja, hier bin ich! Im Sondierstollen 42, hallo! Rufen da mehrere oder ist das lediglich einer? Scheiß egal, wenn ich da jemanden höre, dann kann der Einbruch nicht so weiträumig sein, ich muss versuchen zu graben. Eine Schaufel, aber hier gibt’s keine. Ich... ich muss meine kleine Spitzhacke nehmen und einfach losbuddeln. Als ginge es um mein Leben. Ja, Ferdl, es geht um dein Leben, reiß dich zusammen! Buddle los! Los!
Ich beginne zu graben. An der rechten Seite der Verschüttung, Richtung Gebirge, denn von da her höre ich die Stimme. Das heißt zwar, dass der Einbruch auf dem Wege zum Lift passiert ist, aber immerhin, ich bin nicht alleine. Gemeinsam sind unsere Chancen sicher höher. Und wenn die Kumpel von der Rettung auch so flink sind, wie ich jetzt, ja dann, dann kommen wir alle hier lebend raus. Los, Ferdl, grab! Grab um dein Leben! Reiß dir den Arsch auf, grab weiter!
Ich schaufle schneller und wilder als der neue Schaufelradbagger im Tagebau. Grabe wie ein überdimensionaler Maulwurf, werfe das Geröll hinter mich, buddle mit der Linken freihändig, in der Rechten kratze ich mit der Spitzhacke das Geröll weg. Ja, ja!, schreie ich, ich bin hier! Ich bin hier! Auf der anderen Seite höre ich auch jemanden. Sein Schreien, sein Scharren. Auch er gräbt. Wir graben uns zueinander durch. Ja, brülle ich, ja! Ich komme schon. Ich komme!
Ich weiß nicht, wie lang ich schon wie ein Verrückter hier grabe, aber es kann sich nur mehr um ein Stückchen handeln, dann habe ich es geschafft. Wir haben es geschafft! Ja, es entsteht ein erster kleiner Spalt, ich schaufle wie besessen weiter. Es bröckelt Gestein nach, aber langsamer, als ich es wegbuddle. Der Spalt wird immer größer, ich erkenne Licht. Eine Stirnlampe. Leider nur eine. Nein, Ferdinand, immerhin eine! Der Spalt zwischen Einbruch und Stollenwand wird immer breiter, ich denke, ich kann mich durchzwängen. Ja, es gelingt mir, ich zwänge mich durch, bekomme zwei Hände zu fassen, die mich auf die andere Seite ziehen. Ich purzele nach unten, schlage mit dem Gesicht am Boden auf, zerschürfe mir das Kinn. Aber das ist egal. Scheißegal! Ich lebe und bin nicht alleine.
Erneut werden mir zwei Hände gereicht und helfen mir auf die Beine. Mit Tränen in den Augen umarme ich meinen Retter, drücke ihn an mich. Dann erst leuchte ich ihm ins Gesicht. Und erstarre.
Herr Ingenieur!, sagt der andere verdutzt.
Weber, Sie?, erwidere ich ungläubig und schieße schnell eine Frage hintennach, ob noch andere Knappen hier seien. Weber verneint. Ausgerechnet er, der Weber.
Wir schweigen uns kurz an, dann reden wir darüber, was passiert sein mag. Ein Gebrechen der Zimmerung, der Stützstreben? Kann sein. Ein Wassereinbruch? Unwahrscheinlich. Eine Schlagwetterexplosion? Eher ausgeschlossen, hier dürfte es kein Methangas geben. Wahrscheinlich eine simple Erdverschiebung. Aber mit massiven Auswirkungen. Wie breit mag der Einbruch sein? Wir wissen es beide nicht. Ich frage ihn, ob er weiter nach hinten gegangen sei, ob es dort Gezähe gäbe? Er meint ja, einige Schaufeln und Hacken. Auch ein Presslufthammer oder Bohrer, frage ich. Nein, keiner, antwortete er mit einem flüchtigen Lächeln. Um schließlich nachzuschieben, dass diese ohnehin nicht funktionieren würden, da der Strom ja ausgefallen sei. Ich überhöre diese großkotzige Bemerkung, greife mir ans verletzte Kinn, tue so, als denke ich nach. Das tue ich auch. Warum ausgerechnet Weber? Von all den knapp hundertzwanzig Bergarbeitern in diesem Untertagbau ausgerechnet Weber. Ich verstehe es nicht, schiebe aber weitere Gedanken diesbezüglich beiseite.
Schließlich meint Weber, er habe hinten in der Kaverne seine Jausentasche. Wir sollten uns stärken. Ich verneine. Meine lediglich, wir sollten das Werkzeug holen und uns an die Arbeit machen. Zum Essen sei später noch genug Zeit, wir sollten uns den Proviant besser aufsparen. Wobei, bevor ich seine Jause annähme, würde ich lieber verhungern.
Selbstbewusst grinsend meint er schließlich, Jawohl, Herr Ingenieur. So ein arrogantes Arschloch.
Wir gehen den Förderstollen nach hinten, etwa hundert Meter weiter ist eine kleine Kaverne. Zum Glück sind dort auch einige Reservebatterien für die Stirnlampen, wir sollten also noch für einige Zeit Licht haben. Was jetzt, fragt er und fordert mich damit heraus. Nun gut, wenn er Spielchen spielen will, dann kehre ich eben den Vorgesetzten hervor. Schaffe ihm an, Schaufeln und Krampen nach vorne zur Einbruchsstelle zu tragen. Ich nehme sicherheitshalber zwei Batteriegurte mit, dann machen wir uns wieder an die Einsturzstelle.
Dort angekommen, lässt er das Werkzeug fallen und schaut mich groß an. Was nun?, will dieser Hund wissen. Ich meine, dass wir durch den Spalt in den Sondierstollen klettern sollten um von da aus mit dem Graben zu beginnen. Da würden wir uns einige Kubikmeter Abraum ersparen. Grinsend nickt er mir zu. Er scheint sich seiner Überlegenheit hier in diesem Drecksloch bewusst zu sein. Schließlich ist das hier sein ureigenstes Revier, seine tägliche Arbeit. Während ich nur mehr beaufsichtige, auch Zeit im Büro verbringe. Über Papieren, Akten, Formularen, mit sauberen Fingernägeln.
Ich will mich gerade anschicken, durch den Spalt wieder auf die andere Seite zu klettern, da meint Weber, ob es nicht gescheiter sei, weiteres Werkzeug, die Jause, vor allem aber die restlichen Batterien aus der Kaverne zu holen, ehe wir den Förderstollen verließen. Na klar, lüge ich, ich wollte ja auch nur das erste Werkzeug auf die andere Seite werfen. Sein Aha verrät mir, dass er mich durchschaut hat und ich ihm voll ins Messer gelaufen bin. Wieder einmal. Nur diesmal so offensichtlich, dass wir beide es wissen. So gehen wir schweigend in die Kaverne zurück und holen den Rest. Umso länger das Schweigen dauert, umso lauter höre ich sein inneres Lachen. Weber, dieser Arsch, lacht über mich.
Kurz bevor wir wieder am Verbruch ankommen, rollt ein Flackern durch den Stollen, das Ganglicht geht wieder an. Licht! Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich muss blinzeln, das schwache Licht schmerzt in meinen Augen. Etwas anderes schmerzt aber plötzlich noch viel mehr, wir beide verharren kurz. Ich blicke Weber an, er mich. In seinem Gesicht erkenne ich den Hauch eines Lächelns. Eigentlich sollte ich mich freuen, doch mir schießt nur ein Gedanke durch den Kopf: Weber lachte mich aus! Still und heimlich. Im Dunkeln schon schlimm, aber jetzt, bei Licht, still und unheimlich. Der Stein fällt von meinem Herzen. Tief, tiefer, direkt in die Magengrube.
Ich versuche meine vermeintliche Souveränität zurückzugewinnen, kehre den Vorgesetzten heraus. Will Sicherheit und Ruhe ausstrahlen und meine, dass Hilfe gleich käme. Der Einbruch wohl nicht so schlimm sein konnte. Das Dumme war nur, dass Weber keine beruhigenden Worte brauchte, stattdessen starrte er mich nur abfällig an. Er hatte mich durchschaut, dass ich nur mich selbst beruhigen wollte.
Schweigend erreichen wir erneut die Einsturzstelle und ich klettere als Erster durch den Spalt zurück in den Sondierstollen. Danach reicht er mir das Werkzeug, die Batterien und die Jause nach. Schließlich schickt auch er sich an, zu mir in den Seitenstollen zu steigen. Wie er sich so mit bulligen Schultern durch die Kluft zwingt, mit seinem Körper einem Schneepflug gleich das Gestein wegschiebt, überkommt es mich. Zum ersten Mal spüre ich die Gewissheit in mir. Es ist nicht nur das reine Wissen, dass es so ist und schon gar kein bloßer Verdacht, nein. Zum ersten Mal fühle ich die Wahrheit, erkenne, dass sie stimmt. Stimmen muss. Alles. Ich habe zwar keine Ahnung, was Karin an diesem Weber findet, aber nun weiß ich, dass er mit ihr schläft. In diesem Moment, wie er sich da durch das enge Loch zwängt, kommt es in mir hoch. Nie gesehene Bilder. Bloße, pure, geifernde Vorstellung. Ich wollte es nie glauben, aber in meinem Inneresten wusste ich von Anfang an, dass es stimmte. Aber jetzt hatte sich die Erkenntnis ihren Weg nach außen gebahnt. Eruptiv.
Das Gefühlte lässt mich erzittern, emotionaler Schüttelfrost überkommt mich. Ich denke an Karins wippende Brüste. Seine Hände auf ihren verschwitzen Hüften. Und ihre Augen. Dieses Leuchten, als sie mich damals vom Zug abholte. Nach der Konferenz in Krakau. Und ich Trottel dachte, sie freue sich bloß, mich zu sehen, nach den paar Tagen Trennung. Dabei... jetzt streckt mir Weber, dieses Arschloch, auch noch seine Hand entgegen. Abhacken würde ich sie ihm am liebsten. Und nicht nur die Hand. Er will wohl, dass ich ihm helfe. Aha, haben wir wohl doch ein paar Muskeln zu viel, ha? Bleiben wir fast in einer Spalte stecken? Wieder einmal?
Ja, ja, nur keine Panik, Weber, ich zieh Sie schon raus. Hm, ist schon komisch. Da schlafen wir beide mit meiner Frau und sind dennoch per Sie. Rasch ziehe ich ihn über das grobe Geröll nach unten, sodass er wenigstens auch einmal verletzt wird. Verdammter Dreckskerl!
Ob er weiß, dass ich es weiß? Ich glaube nicht! Ich denke, er fühlt sich bloß wahnsinnig überlegen, eben weil es meine Frau ist. Die Frau eines Steigers. Wie er so vor mir liegt, am Boden, sich abputzt, ich würde ihn am liebsten treten. Nicht bloß mit Fäusten schlagen, nein, treten. In den Bauch, den Rücken, ja sogar ins Gesicht. Ich will ihm die Zähne ausschlagen, ich will, dass er Blut spuckt. Mit schierer und roher Gewalt. Genau mit jener ungestümen Kraft und stumpfen Rohheit, auf die Karin anscheinend so steht. Reine körperliche Brutalität, total unkontrolliert und enthemmt. Aber alles, was ich tue ist, ihn liegen zu lassen und mich umzudrehen. Vielleicht bin ich wirklich kein echter Bergmann? Kein echter Mann? Sonst hätte ich meine Frau schon längst rausgeschmissen oder ihr zumindest die Lust auf andere Kerle aus dem Leib geprügelt.
Uh, da haben Sie jetzt aber ganz schön fest gezogen, Herr Ingenieur, grinst mich dieser Weber an. Obwohl er am Boden liegt, lacht er mich an. Und aus. Ist er der Sieger. Ich beiße mir fest auf die Backenzähne, ehe ich mich erneut umdrehe und eine Schaufel nehme. Reden Sie nicht lange herum, Weber, nehmen Sie lieber ihr Werkzeug und graben Sie.
Er rappelt sich hoch, baut sich vor mir auf, gut einen Kopf größer, sicher zwanzig Kilo schwerer. So, wie er mich jetzt ansieht, denke ich, er weiß vielleicht doch, dass ich es weiß. Nein, Blödsinn! Es gefällt ihm bloß, dass sie meine Frau ist. Er, dieser ungebildete Trottel, der beim 1.Mai-Aufmarsch immer in der ersten Reihe rennt, weil er glaubt, nur er arbeite. Der bei den Barbarafeiern immer die Böller schießt, weil er ja so ein toller Hecht ist. Aber auch Hechte verfangen sich manchmal im Netz und sterben, lass dir das gesagt sein, Weber.
Was? Ach, nichts hab ich gesagt, Weber, graben Sie einfach los. Natürlich tagwärts.
Schweigend graben wir nebeneinander, schaufeln das taube Gestein hinter uns. Es rutscht zwar frisches Material nach, aber nicht allzu viel. Hoffnung keimt auf. Mit der Zeit werde ich dennoch langsamer, meine Hände tun weh, während Weber, dieser Superkerl weitermacht wie eine Maschine. Die Schwielen an seinen Händen sind wohl seine besten Verbündeten. Was findet meine Frau bloß an diesem grobschlächtigen Kerl? Was? Was hat der, was ich nicht habe, verdammt?! Und ist sie mit mir wirklich nur zusammen, weil sie auf mein Geld steht? Und darauf, die Frau eines Steigers zu sein? Vielleicht sogar eines künftigen Obersteigers. Sofern dieser Bergbau überhaupt eine Zukunft hat. Ach, nicht denken, Ferdl, nicht denken! Einfach weitergraben, auch wenn du schon Blasen an den Händen hast, die sicher bald zu bluten beginnen. Einfach weitergraben Ferdl, gib dir keine Blöße, du...
Plötzlich halten wir beide inne, verharren starr. Blicken einander sogar flüchtig in die Augen. Haben wir uns getäuscht? Nein! Erneut schauen wir uns an und starren danach wieder auf den Erdkegel vor uns. Tatsächlich! Wir hören ein Brummen. Das müssen unsere Kumpel sein! Sie scheinen schon mit der Bergung begonnen zu haben. Das Brummen könnte von einer Fräse oder einem Schremmarm stammen. Mein Gott, sie suchen uns. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern und wir sind gerettet. Gerettet!
Umso entschlossener umfassen wir die Stiele unserer Werkzeuge und schaufeln wie besessen weiter. Wenn Knappen auf der anderen Seite des Verbruchs graben und wir hier... und wenn man das Brummen schon so klar hört, dann dürfte der Verbruch nicht so mächtig sein. Wir haben wohl gute Chancen. Hoffnung keimt auf. Zielstrebig grabe ich mich weiter, schaufle das taube Gestein weg. Denke nicht an Karin und Weber und den tristen Rest. Doch irgendwann kann ich nicht mehr, ich bin ja kein Knappe, sondern ein Steiger. Der Krampen wird immer schwerer, die ersten Blasen an meinen Händen sind aufgebrochen. Ich werde deutlich langsamer. Viel langsamer als er.
Da dreht er sich zu mir, ihm rinnt der Schweiß in Bächen vom Gesicht. Er nickt mir zu, Rettung naht. Und fragt, ob wir uns nicht unterhalten wollten? Was? Spinnt der komplett? Anscheinend hat er wirklich keine Ahnung, dass ich es weiß. Oder er ist sich seiner Sache so sicher. Mir wird wieder übel. Na gut, sage ich, letztlich stehen unsere Chancen nicht schlecht. Wir reden über die Rettungsaktion. Wie großräumig die Verschüttung ist. Über die anderen. Über Kumpel, die jetzt nach uns graben, aber auch jene, die es erwischt haben mag. Wie viele? Meist stellt er die Fragen, ich gebe nur kurze Antworten. Je mehr er fragt, desto mehr beginne ich ihn zu hassen. Ihn und meine Frau. Die nahende Rettung entfernt sich immer weiter aus meinem Denken und Fühlen, erneut graben sich diese Bilder und Visionen von ihm und Karin ihren Weg an die Oberfläche meines Bewusstseins. Verlassen die stickigen Stollen meiner dunkelsten Ängste und Befürchtungen und entfalten erst in der kalten Sonne der gefühlten Wirklichkeit ihre ganzen Schrecken.
Wie er mit Karin am Stausee liegt, vielleicht am vorletzten Wochenende. Während ich unser Geld verdient habe, beim Treffen der Berghauptmänner. Immer weiter steigt in mir der Drang hoch, ihm wehzutun, ihn körperlich zu verletzten. Mein Puls rast. Da dreht er sich zu mir um und fragt mich nach Karin. Ganz direkt. Wie es ihr gehe? Immerhin haben wir beide die selbe Hauptschule besucht, ergänzt er. Ungläubig starre ich ihn an, meine Ohren beginnen zu summen. Vom schrillen Gelächter seiner maßlosen Überheblichkeit. Das Herz schlägt mir bis zu Hals. Was bezweckt er damit? Will er mich testen?
Weber, wir machen jetzt eine kurze Pause, schaffe ich an.
Dann werfe ich meine Schaufel zur Seite, doch das Geräusch geht unter in Karins Lustgestöhne, dem Summen zwischen meinen Schläfen, dem Brummen dieses Stollens, der noch immer zu unser beiden Grab werden könnte. Wenn wir doch sterben sollten, durch einen neuerlichen Einsturz, würde ich es ihm im letzten Moment, vor dem Tod, sagen? Dass ich es weiß? Oder hätte er soviel Anstand, es mir zu gestehen? Nein, sicher nicht! Er ist ja ein echter Kerl, ein Bergmann. Das wäre eine Schwäche. Volksberger Bergmänner haben keine Schwächen. Und wenn er es mir sagen würde, dann nur, um mich ein weiteres Mal zu demütigen. Ein letztes Mal vor dem Tod. Eine neuerliche Niederlage. Aber soweit werde ich es nicht kommen lassen. Vielleicht sollte ich jetzt nicht mehr so lange überlegen und es einfach tun. Sofort. Wer weiß, wann die Kumpel uns hier rausholen, dann ist die Chance vergeben. Es könnte wie ein Unfall aussehen, ich müsste nur... obwohl... so ein Mord ist eben keine Wirtshausschlägerei wie beim Grubenwirt oder Zangtaler Zeltfest.
Ich dürfte ihn halt nicht mit einem Werkzeug erschlagen. Aber mit einem dieser Felsbrocken, die hier am Rand liegen. Sind ein paar Kilo schwer. Damit könnte ich ihm locker den Schädel einschlagen. Und dann seine Leiche ein bisschen durch den Dreck ziehen oder gar unter dem Abraum verbuddeln. Darauf spucken. Unter diesen Bedingungen würde es sicher wie ein Unfall ausschauen. Wenn er an meiner Stelle wäre und ich was mit seiner Frau hätte, der würde sicher nicht lange fackeln. Er würde es einfach tun. Wie sagt meine Frau, dieses verdammte Luder, vermutlich immer dann, wenn der feine Herr Weber sie gerade vorher gepackt hat? Echte Kerle erkennen gleich, was getan werden muss und tun es dann. Sofort. Sie nützen ihre Chancen. Genau wie Karin, die lässt ja auch nichts anbrennen. Ach, Scheiße, was weiß denn meine beschissene Frau schon? Arbeitet beim Konsum, räumt Regale ein und aus. Und bescheißt mich noch dazu!
Ha, wenn ich diesen Weber echt bezahlen lassen will, wie müsste ich es anstellen? Es muss auf jeden Fall schnell gehen, für ihn überraschend. Damit er sich nicht wehren kann. Gegen ihn hab ich ja sonst keine Chance. Es muss von hinten geschehen. Ja, von hinten! Ich könnte die Pause nutzen, wir nehmen die Helme ab, ich verleite ihn zum Trinken, stell mich dabei hinter ihn... ja, so könnte es klappen. Ich muss mich nur trauen. Aber was, wenn er... nichts aber, Ferdl! Komm schon, Alter, reiß dich zusammen! Das ist deine Chance! Zahl’s ihm heim! Worauf wartest du noch?
Ja, so ist’s richtig! Greif jetzt nach der Flasche, nimm einen kräftigen Schluck. Leg zuvor aber noch deinen Helm ab, Ferdl, vielleicht macht er es dir ja nach. Oh mein Gott, ja, ich tue es. Ich tue es! Jetzt muss ich ihm nur noch sein eigenes Getränk anbieten und mich dann hinter ihn stellen. Das werde ich machen. Dann einen Kohleklumpen nehmen wie den da drüben und ihm damit seinen hohlen Arbeiter-Schädel einschlagen. Ich werde... Ha? Wo kommt denn dieses Licht her? Haben unsere Kumpel schon den Durchbruch geschafft? Unmöglich! Es ist ja wie Tageslicht. Nur heller. Und wärmer. Und was ist jetzt überhaupt los? Bin ich nicht gerade eben aufgestanden, aber... warum sehe ich mich plötzlich selbst am Boden liegen? Und was ist das für ein glibberiges weiß-rotes Zeug an meinem Hinterkopf?