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Der Mann stieg aus dem Zug, allerdings nicht ohne die Menschen auf dem Bahnsteig mit routiniertem Blick zu mustern. Viele der Reisenden wurden bereits erwartet, manche von ihrem Partner, andere von Familie oder Geschäftsfreunden. Ihn erwartete niemand, und darüber war er auch glücklich, denn ein Empfang hätte in keinem Fall etwas Gutes bedeutet. Niemand durfte wissen, dass er hier war, denn er war im Auftrag des BND unterwegs, und sein unscheinbarer Aktenkoffer war mit jeder Menge hochbrisanten Dokumenten gefüllt.
Der Mann war mit seiner teuren Ausbildung und seinem durchschnittlichen Äußeren geradezu prädestiniert für seine Arbeit als Datenkurier. Er war knapp dreißig, etwa 1,80m groß, von normaler Statur, und trug das braune Haar kurz geschoren. Auch an seinem Gesicht war mit den ebenfalls braunen Augen und dem mäßig ausgeprägten Kiefer nichts Auffälliges zu finden. Kurz gesagt, der Durchschnitt in Person, ein Mann, der perfekt in der Masse untertauchen konnte.
Und das musste er auch können, denn der SISMi war ihm dicht auf den Fersen. In Wien hätten sie ihn beinahe erwischt, doch er hatte es geschafft, auf dem Opernplatz in der Menschenmenge zu verschwinden. und sich zu Fuß bis zum Franz-Josefs-Bahnhof durchzuschlagen. Dann war mit dem Zug nach München gefahren. Die Fahrt war ohne Zwischenfälle verlaufen, doch er war sich sicher, dass die Italiener ihm immer noch direkt hinter waren. Es mussten extrem heiße Informationen sein, die er mit sich führte, denn in Wien hatten die Italiener auf ihn geschossen. Allein diese Tatsache würde das außenpolitische Verhältnis zwischen Deutschland und Italien auf unabsehbare Zeit belasten, gar nicht zu reden von den Unterlagen in seinem Koffer. Er wusste nicht, was sie beinhalteten, er war schließlich nur der Überbringer, und er wollte es auch gar nicht wissen. Sein einziges Interesse galt der Übergabe in Berlin und dem anschließenden warmen Regen auf seinem Konto.
Er verließ den Münchner Hauptbahnhof durch den südlichen Ausgang, um sich im Stadtteil Sendling, einem Viertel der unteren Mittelschicht, eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Recht schnell entdeckte er eine kleine Kneipe, die auch Gästezimmer vermietete. „Zum Einsamen Reiter“. Ein viel versprechender Name.
Er betrat den Schankraum und nahm die auf ihn einströmenden Sinneseindrücke wachsam in sich auf. Die Beleuchtung war gedämpft, und es roch nach Bier, Zigarettenrauch und Schweinehaxen. Linker Hand befand sich der Tresen. Mehrere Männer hatten sich bereits dort niedergelassen, und unterhielten sich in Zimmerlautstärke. Ihr Gespräch wurde von gelegentlichem Gelächter durchbrochen. Rechts von ihm saßen an rustikalen Holztischen ebenfalls mehrere Männer, die sich auf ein Bier getroffen hatten. Er ging auf den Tresen zu, und fragte den Wirt nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ein Zimmer im 1. Stock sei frei, und da der Herbergsvater einen vernünftigen Preis nannte, sagte er zu. Als Namen gab er Paul Berger an. Auf diesen Namen lautete auch der falsche Ausweis, der ihm vom BND ausgehändigt worden war. Nachdem er den Schlüssel erhalten hatte, zog er sich sofort in sein Zimmer zurück. Er schätzte den Raum auf 12m². Die Inneneinrichtung setzte sich aus einem Doppelbett, einem Kleiderschrank und einem Nachttisch zusammen. Eine Tür führte in ein kleines Bad mit Dusche und WC. Es machte nicht unbedingt einen noblen, wohl aber einen gemütlichen Eindruck. Doch er hatte seine Verfolger durchaus nicht vergessen. Er brachte ein kleines, quaderförmiges Gerät am Türrahmen und einen kleinen Streifen Alupapier an der Türkante an. Dieser kleine Apparat stand über Funk mit einem Ohrstöpsel in Kontakt, den er jetzt in seinem rechten Ohr befestigte. Das Prinzip war einfach: sobald die Tür geöffnet wurde, ohne dass das Gerät den Ohrstöpsel in maximal einem halben Meter Entfernung registrierte, gab ebendieser Stöpsel ein unüberhörbares Fiepen von sich. Dadurch wurde er sofort geweckt, wenn sich die Tür, während er schlief, öffnete oder jemand in seiner Abwesenheit den Raum betrat. Den Aktenkoffer ließ er unter dem Bett verschwinden.
Da er sowieso noch keinen Schlaf finden konnte, entschied er, sich noch ein Bier zu genehmigen. Kurz überlegte er, ob er die Beretta 92FS, die er bis jetzt in seinem Mantel transportiert hatte, mit nach unten nehmen sollte. Diese Waffe war auch der Grund, warum er kein Flugzeug von Rom nach Berlin hatte nehmen können: er hatte keine Lust verspürt, sich bei einem missglückten Versuch, die Pistole mit an Bord zu nehmen, den Verfolger selbst ans Messer zu liefern. Schließlich beließ er sie im Mantel. Man wusste schließlich nie, wann man ein wenig Feuerkraft brauchen konnte.
Im Schankraum angekommen, setzte er sich an den Tresen und orderte ein Weißbier. Seine persönliche Präferenz war zwar anders geartet, aber er wollte nicht mehr auffallen als nötig. Und wenn man sich in München befand, musste man sich eben anpassen.
Er tauschte ein paar allgemeine Floskeln mit dem Wirt aus, der aber bald davon absah, sich mit Paul unterhalten zu wollen, und sich lieber zu seinen Stammgästen setzte, die er besser kannte.
Seine Gedanken kehrten zu dem Koffer zurück. Es war ihm ein echtes Rätsel, was die Dokumente beinhalteten. Er mochte Rätsel nicht, vor allem wenn sie ihn das Leben kosten konnten. Vielleicht waren es Informationen von militärischer oder politischer Bedeutung. Aber seit wann interessierte sich der BND so intensiv für einen Bündnispartner Deutschlands? Wenn man eine so schwerwiegende Entscheidung getroffen hatte, ein Land wie Italien auszuspionieren, musste das einen verdammt triftigen Grund haben. War es möglich, dass der BND – und somit in letzter Instanz auch die Bundesregierung – Italien für eine Bedrohung hielten? Zugegeben, der Ministerpräsident Berlusconi hatte in letzter Zeit auffallend nationalistische und deutschfeindliche Reden gehalten, aber Paul hatte es immer als ein rechtspopulistisches Aufplustern abgetan.
„Hast du Feuer?“ Er wandte sich dem Ursprung der Frage zu. Seine Aufmerksamkeit war so herabgesunken, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich eine junge Frau auf dem Barhocker links von ihm niedergelassen hatte. Den Umstand, dass sie ihn geduzt hatte, schob er auf die lokalen Gepflogenheiten.
Sie hatte braunes Haar wie er, im Gegensatz zu ihm allerdings etwas über Schulterlänge, dazu ein hübsches Gesicht und eine ansprechende Figur. Sie sah aus wie Mitte zwanzig.
„Rauchen schadet der Gesundheit“ brummte er, gab ihr aber Feuer. Sie überhörte seinen Kommentar geflissentlich.
„Du bist nicht von hier, oder?“ fragte sie. „Nein, ist das so offensichtlich?“ „Wenn man weiß, worauf man achten muss, ja.“
„Darf ich fragen wie du heißt?“ Sie wirkte eigentlich recht sympathisch, deswegen blockte er ein Gespräch nicht sofort ab. Es stellte sich heraus, dass sie Natascha hieß und vor kurzem ihren Job als Kellnerin verloren hatte, jedoch ein Stellenangebot eines Nobelrestaurants erhalten hatte. Ihr Arbeitsvertrag würde in zwei Tagen in Kraft treten. Da sie allerdings noch keine Wohnung in München gefunden hatte, die ihr zusagte, hatte sie sich vorerst im „Einsamen Reiter“ einquartiert. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfuhr er außerdem, dass sie keinen Freund hatte, und mit ihrer Familie nicht unbedingt auf gutem Fuß stand. Früher hätte Paul sofort bei der Erwähnung von „kein Freund“ im Zusammenhang mit einer adretten jungen Frau sofort begonnen sie anzubaggern. Aber seine Zeit als Schürzenjäger war vorbei. Außerdem war er im Dienst und schon jetzt hatte er sich zu weit aus der Deckung gewagt.
So leid es ihm auch tat, er musste ihr seine Tarngeschichte vom jungen Unternehmer auf der Durchreise auftischen. Von seinem Privatleben erzählte er allerdings die Wahrheit, wenn auch mit veränderten Namen.
Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sie sich, und er begab sich auf sein Zimmer. Niemand hatte sich Zugang verschafft. Als er gerade in dem kleinen Bad verschwinden wollte, klopfte es an der Tür. Verdammt, jetzt haben sie mich!
Entschlossen zog er die Beretta und schraubte den Schalldämpfer auf. „Wer da?“ rief er, die Waffe auf die Tür gerichtet.
„Ich bin’s!“ Es war Nataschas Stimme. Erleichtert schob er die Pistole zurück in den Mantel und öffnete die Tür.
„Das nenn’ ich ein schnelles Wiedersehen!“ kommentierte er.
„Ich dachte du hättest nichts gegen ein bisschen Gesellschaft heute Nacht…Paul.“ Sie wirkte ziemlich verlegen. Alle möglichen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, hauptsächlich fragte er sich, ob er so etwas mit seiner Mission vereinbaren konnte. Schließlich siegte sein vorgelagertes Gehirn.
„Hab’ ich absolut nichts dagegen einzuwenden.“ erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Viel Schlaf bekam er in dieser Nacht nicht.
Als er am Morgen danach pünktlich um acht von seiner inneren Uhr geweckt wurde, war er allein, doch das war nicht anders zu erwarten gewesen. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel mit einer Handynummer, den er vorsorglich einsteckte. Aus der Schankstube drang der Geruch von Spiegelei nach oben. Er überprüfte den Koffer, doch er lag noch unberührt da, und so ging er nach unten, um sich ein Frühstück zu besorgen.
Nachdem er gesättigt war bezahlte er den Wirt, gab ein großzügiges Trinkgeld und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Die Italiener hatten sich nicht wieder gezeigt, und das war ihm auch ganz recht. Die Fahrt nach Berlin verlief problemlos. Am Hauptbahnhof sollte sein Kontaktmann ihn erwarten und den Koffer in Empfang nehmen. Im Geiste zählte er schon das Geld, dass ihm so gut wie sicher war, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu Natascha ab. Plötzlich schaltete sein Geist auf volle Aufmerksamkeit. Der Kerl kommt jetzt schon zum dritten Mal den Gang runter und wirft mir die ganze Zeit Blicke zu!
Als der Mann wieder verschwunden war, rief Paul sofort die Auskunft an, um die Nummer des „Einsamen Reiter“ in Erfahrung zu bringen. Er ließ sich weiterverbinden, und bekam auch gleich den Wirt zu sprechen.
„Hallo, hier ist Paul Berger, ich habe die Nacht in Ihrer Herberge verbracht. Hat sich irgendjemand nach mir erkundigt? Das ist wichtig!“
„Ja, dieses Mädchen, wie hieß sie doch gleich…? Ich glaube Natascha. Sie hat nach Ihnen gefragt. Ziemlich viel sogar. Schien an Ihnen interessiert zu sein.“ Oh ja, das war sie. Aber anders als ich dachte. Verdammt, das hab jetzt davon!
„Ich danke Ihnen.“ war das Einzige, was er hervorbrachte, bevor er das Gespräch mit einem Tastendruck beendete.
Als nächstes rief er seine Kontaktnummer beim BND an.
„Noch scheint die Sonne…“
„…doch das Unwetter ist nicht fern.“ beendete der BND-Mann den Codesatz. Dadurch konnten beide Seiten relativ sicher sein, den richtigen Gesprächspartner zu haben. Das Schiller-Zitat beschrieb seine Situation ausgezeichnet.
„Meine Deckung ist möglicherweise aufgeflogen.“ informierte Paul den anderen.
„Werden Sie verfolgt?“
„Vermutlich.“
„Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig diese Daten sind. Ich werde Vorkehrungen am Übergabeort treffen.“
„Bis nachher!“ Mit diesen Worten beendete Paul das Gespräch.
Unter dem Mantel schraubte er den Schalldämpfer von der Beretta. Er brauchte jetzt eher Durchschlagskraft als Heimlichkeit.
Eine halbe Stunde später verließ er den Zug. Etwa einhundert Meter den Bahnsteig hinab sah er seinen Kontaktmann. Erleichtert atmete er durch, jetzt hatte er es so gut wie geschafft. Er konnte zwar von den angesprochenen Vorkehrungen nichts erkennen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er warf einen Blick über die Schulter, und sein Herz setzte für einen Moment aus. Geschätzte vierzig Meter hinter ihm waren vier Italiener aus dem Zug gestiegen und griffen gerade in ihre Jacken. Sie zogen ihre Pistolen und legten auf Paul an. Die ersten Reisenden hatten die Gefahr bemerkt und rannten schreiend los.
Paul gab ebenfalls Fersengeld. Hinter ihm bellten mehrere Schüsse, doch keiner traf ihn. Eine ältliche Dame hatte weniger Glück und erhielt einen Rückentreffer. Er sah den BND-Mann ebenfalls die Waffe ziehen, doch er war zu weit weg, um in das Feuergefecht einzugreifen. Paul hechtete hinter einen Mülleimer, und feuerte aus der Deckung heraus auf die Italiener. Er schien getroffen zu haben und nutzte die erkaufte Zeit, um weiter auf seinen Kontakt zuzurennen.
Plötzlich erschien vor ihm auf dem Bahnsteig Natascha. Die Pistole in ihrer Hand sah nicht nach einem Spielzeug aus. Sie zielte auf ihn, doch er rannte weiter. „Waffe weg!“ brüllte er in vollem Lauf. Sie schien einen inneren Kampf zwischen Pflicht und Gewissen auszutragen. Als Paul sie fast erreicht hatte, schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben.
„Lauf!“ rief sie ihm zu. Ihre Waffe fand ein neues Ziel. Sie riss den Abzug durch, und er erkannte sofort das ohrenbetäubende Brüllen einer Desert Eagle. Doch die Schüsse galten nicht ihm. Sie feuerte auf ihre vormaligen Auftraggeber. Er fühlte tiefe Dankbarkeit ihr gegenüber, doch er rannte weiter. Die Mission hatte Priorität.
Plötzlich tauchten aus der Unterführung, auf die er zusprintete, schwarz vermummte Kommandosoldaten auf. Sie ließen unverzüglich ihre H&K Maschinenpistolen sprechen, was die Italiener allesamt das Leben kostete. Sie schossen nicht auf Natascha, verhafteten sie jedoch sofort.
Paul sah das mit gemischten Gefühlen, doch schließlich gewann seine gutmütige Seite die Oberhand. Da er beim BND einen mächtigen Stein im Brett hatte, erklärte dieser sich bereit zu vergessen, dass Natascha überhaupt im Bahnhofsgebäude gewesen war. Sie versuchte wortreich sich bei ihm zu entschuldigen, doch er wollte nichts davon hören. Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.