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Unwege
Die Straßen lagen leer und offen vor ihm, jederzeit frei zu betreten. Er konnte sie entlang gehen, durch diesen klebrig schimmernden Schleier aus Regen, aus Stadtregen, versetzt mit Abgasen, klebrig grau. Autos glitten durch diesen Schleier, hier dumpfes Hupen, dort grelle Lichter, blendendes gelb und auch die Farben der zahlreichen Ampeln, alles verwischt, entrückt, abseitig. Schilder ohne Sinn, farbloser Beton, der schmutzig weiße Mittelstreifen und der leichte Wind, ohne Richtung, nicht kalt, nicht warm bildeten eine stumm schreiende Komposition.
Auch die Luft war nicht warm und nicht kalt, war nichts, wenn dann aber eher kühl, zumindest unangenehm. Langsam ging es die weiten Straßen entlang, es war erschöpfend, ein wenig schmerzhaft, doch hatte es für ihn keinen Sinn stehen zu bleiben. Denn im seltsamen Chor der Großstadt, im leichten Wind, im schmutzigen Wasser, das seine Beine umspülte, hörte er Lenores Stimme. Die Stimme war nicht leise, nicht laut, sie war da, verheißungsvoll und allgegenwärtig. Er musste sie finden.
Große, dunkle, hell erleuchtete Fenster glotzten ihn mit voyeuristischem Verlangen an. Sie trieben ihn zur Verzweiflung, das alles trieb ihn zur Verzweiflung, sie trieb ihn zur Verzweiflung. Das alles höhnte, er könne sie nicht finden, doch er spürte Lenores Nähe deutlich. Ecken bogen sich endlos nach hinten, Wege nahmen unmögliche Biegungen, aber nur weiter, dort hinten schon konnte sie sein.
Hier ein Blatt, nasses Laub fegte durch die Straßen, klatschte an seinen gelben, grellen Regenmantel. Jetzt schubste ihn der Wind, es vertieften sich die Rillen im Bürgersteig, Gullys atmeten stinkende Luft aus, Schornsteine übergaben sich in die Luft, in den Himmel, der Himmel weinte auf die Erde. Schrilles Quietschen, Engelsstimmen gleich, die Bremsen eines Autos oder nur die Vögel unterm blendend grauen Himmel.
Er war verzweifelt, die Verzweiflung war alles, sie kam von den wenigen Passanten und den schmutzigen Hauswänden, er konnte sich nicht verstecken, aber er konnte weglaufen, weglaufen war sinnlos, er musste Lenore finden. Es war mühsam, er keuchte, er atmete den Schmutz der Straße, eine Plastiktüte blieb an seinen Stiefeln hängen.
Was, wenn es Lenore nicht mehr gab, wenn sie tot war? Nein, unmöglich, das schien sicher, solange er nur suchte, er müsste sie doch sehen können. Ein Bus kroch um eine Ecke, ein Lindwurm der Menschen ausspie, ein Bad in der ablehnenden Menge machte nicht unsterblich, nicht unverwundbar und Hagen von Tronje hieß Eigennutz, wenn sie einen herumschubsten. Die Vögel am Himmel, der Rabe?
Er fand sie nicht.
Er kannte sie bereits ewig, ewig wo Zeit keine Rolle spielt, ferner Ort taumelbunte Lichter. Wann hatte er sie zum ersten Mal gesehen? Schwer zu sagen und unerträglich unwichtig, es spritzte, als ein Auto durch eine Pfütze fuhr, kurz ein Regenbogen im Zwielicht, er war nass. Er sah sie vor sich, ihr Gesicht, kastanienbraune Augen, das herrliche Haar, unsinnig zu beschreiben, schwachsinnig sich in Äußerlichkeiten zu ergehen, kannte er sie doch ewig, gab es etwas auf der Welt, dass in den fantastischen Begriff der Liebe passte, so war sie dies, konnte man das fantastische Gebilde in Worte fassen, musste es Liebe heißen. Eine abgöttische Verehrung, er hatte sie nie lange gesehen und selten noch dazu in letzter Zeit, doch war er ihr vom ersten Augenblick an verfallen gewesen. Oft hatte er nur kurz ihr Lächeln gesehen, Faszination und Schrecken zugleich, der Schrecken es könne verblassen.
Oft hatte er sie in den leeren Straßen gesucht, manchmal gefunden, nie hatten sie lange gesprochen.
Er fand sie nicht.
Sturz zur Seite, in eine dunkle Gasse, er musste wieder sehen und finden lernen. Die Gasse spuckte Düsternis auf die Straße und auch ihn.
Sollte dort die Sonne sein, verdeckte sie der Vogel, doch nicht zu sagen, ob dort Sonne war, unwichtig, er musste Lenore finden. Der Klang ihres Namens, konnte jemand wie sie nicht Lenore heißen?
Schneller zogen die Fassaden vorbei, ein Regentropfen lief aus seinem Auge hinab auf den Beton, eine Träne wuchs in ihm und Verzweiflung tropfte vom Himmel.
Was war das, dort hinten? An jener geschwungen, geraden Ecke dort hinten? War sie das vielleicht gewesen? Er musste hinterher, er rannte jetzt, beinahe geradeaus, sie war es, er wusste es.
Sein Herz raste, er war voller Überschwang, es ging die Kreuzungen und farblosen Wege entlang, im Kreis, vor und zurück, hin und her. Die Lichter explodierten schwarz, er hatte gewusst, dass er noch sehen konnte.
Seine Seele wurde umhergeworfen, trommelte von innen, jetzt war er gleich da, er sah sie deutlich, ihr wunderschönes Lächeln, auf der anderen Straßenseite, jetzt schnell, doch die Zeit dehnte sich endlos, wie so oft, wenn er Lenore sah, wenn er sie sehen konnte.
Der Beton, das Auto, der Mittelstreifen, grell, das Auto, schreiendes Hupen, alles war langsam und zu hell, alles wurde grell. Etwas an seiner Seite hob ihn empor, schleuderte ihn durch den Schleier, er sah noch Lenore, er wirbelte, wie das klamme Laub, schneller, sie war unbeschreiblich schön. Es trug ihn wieder herunter, noch sah er sie. Dann begegnete er dem Grauen, Rufe, ein dumpfes Geräusch, das war er, in seinem Rücken ein Gefühl wie ein kriechendes Knirschen, in seinem Mund ein Geschmack wie der rote Tod. In seinem Blick ein Blitz, Lenore, alles wurde noch langsamer, der Rabe am Himmel. Eine Autotür, auf, zu, alles wurde immer langsamer. Rasche Schritte näherten sich ihm, war es Lenore? Sicher. Die Zeit endlos, sie beugte sich über ihn.
Endlosigkeit.
Der Rabe krächzte Nimmermehr.
Dann sah er Lenore, endloses Vorrübergehen.