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Urlaub am Goldstrand 1970

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(Vor)lesealter: Text nicht geeignet für Kinder!
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14.07.2020
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Urlaub am Goldstrand 1970

Vor ein paar Monaten habe ich die gelbstichigen Polaroidfotos bei meiner Mutter zuhause in einem alten Album entdeckt. Alle diese Polaroidfotos aus den 70ern haben etwas gelb-orange-stichiges – als wenn Vincent Van Gogh sie persönlich geknipst hätte.
Aber ich glaube: Der war 1970 nicht am Goldstrand in Bulgarien.

Bulgarien 1970: Reinster Ostblock. Günstiger Urlaub für viele Westeuropäer – mit harter West-Währung. Eldorado für alle „Zu-kurz- gekommenen-Wessis“ um dort mal auf richtig „Dicke Hose“ zu machen. Der Urlaub in Italien und Spanien ist damals für viele schon zu teuer.
Also: Geheimtipp für deutsche Familien mit „schmalem Portemonnaie“.
So auch für meine Familie.
Aber: Die Mutter hochschwanger mit meinem Bruder. Geht nicht. Ist ihr zu risikoreich, wie sie mir später erzählt.

Ich also alleine mit meinem Vater an den Goldstrand nach Bulgarien.

Ich auf den Fotos: Ein unsicher blickender 5jähriger, blonder Junge. Meist mit einem zugekniffenen Auge. Etwas gequält lächelnd.
Rot-weiß-gestreiftes T-Shirt ohne Arme (wohl der letzte Schrei der Kindermode in den 70ern) und ein fürchterliches, eckiges Kassengestell von Brille auf der Nase. Eigentlich kann man damit nur unsicher gucken.

Mein Vater: 32 Jahre alt, braungebrannt, schlank, relativ groß für einen Italiener, Schnauzbart, schon lichtes Haar - aber voll der Typ italienischer Gigolo!

Immer dieselben Bilder der Erinnerung. Ich versuche krampfhaft auch noch andere Bilder zum Leben zu erwecken. Aber das ist jetzt 50 Jahre her – und wird wohl nix mehr. Und das was ich erinnere – reicht mir auch.
Also - dann diese Bilder:

Wohl der erste Urlaubstag im Hotel.
Ich stehe vor einem Balkon-Kasten mit Geranien. Die Sonne scheint. Es ist angenehm warm. Ich beobachte, wie eine Laus/Floh auf einem grünen Blatt herumkriecht – faszinierend. Ich kann mich kaum davon lösen. Alles ist grün. Ich studiere die Maserung des Blattes.

Ich gehe mit meinem Vater immer denselben Weg zum Strand. Wir haben dort wohl einen festen Platz mit Schirm. Wir müssen immer dieselbe Straße überqueren. Unter dem Arm haben wir die Strandsachen. Es ist mega-heiß. Am Straßenrand liegt eine tote Katze. Irgendwo ist sie aufgerissen.
Man sieht die Gedärme hervorquellen. Mein Vater zieht mich von dem ekligen Bild weg. Aber ich will hinsehen. Immer wenn wir fortan die Strasse überqueren will ich hinsehen. Ich glaube sie liegt da noch ein paar Tage – dann ist sie weg.
Das erste wirklich bewusste tote Tier.

Ich spiele im Sand. Der ist mega-heiß.Die Füße schmerzen beim Gehen. Ich muss schnell über den Sand laufen. Man hält es eigentlich nur unter dem Sonnenschirm aus. Mein Vater hat schon in den ersten Tagen irgend so eine tschechische Torte aus Prag aufgerissen und vergnügt sich mit ihr im Sand. Er liegt auf ihr. Beide haben zwar Badesachen an – aber es kann gut sein, dass sie vor meinen Augen gevögelt haben. Ich erinnere mich an die rhythmischen Bewegungen, die mein Vater auf der tschechischen Matratze macht. Ich habe das wohl verdrängt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass sexuelle Handlungen vor Kindern auch schon zum Missbrauch gehören.
Auf jeden Fall fühlt sich alles ziemlich merkwürdig an.
Ich buddel wohl etwas verlegen weiter an meiner Burg – was soll ich auch machen?

Wir fahren in einem Cabrio – zusammen mit der Eroberung meines Vaters einen sonnigen Hügel hinauf. Alle lachen. Mein Vater fährt rasant um die Kurve. Beide drehen sich um und lächeln mir zu. Der Wind weht mir ins Gesicht. In einem Restaurant essen wir etwas. Ich fühle mich unwohl mit der Frau. Obwohl sie bestimmt ganz nett ist.
Man nennt so etwas wie mich in diesem Moment auch heute noch „Drittes Rad am Wagen“. Ich glaube – auch ein 5jähriger Junge checkt das schon. Ich esse bulgarischen Salat mit Kaschkawal-Käse. Ich liebe diesen Käse-Salat. Er ist eine der wenigen Dinge über die ich mich in diesem Urlaub freuen kann.

Ich liege im Hotel-Bett. Alleine. Ich habe Ohrenschmerzen. Ich kann mir meine Kindheit ohne Ohrenschmerzen gar nicht vorstellen. Ich glaube ich habe als Kleinkind mindestens einmal pro Woche Ohrenschmerzen gehabt. Höllische Schmerzen. Und auch hier in Bulgarien.
Mein Vater ist genervt. Er sagt mir, dass er eine Apotheke sucht um Ohrentropfen oder Schmerzmittel zu holen.
Er geht weg. Ich warte. Er kommt nicht. Er kommt in dieser Nacht nicht mehr – zumindest solange ich wach bin. Die Ohrenschmerzen hören nicht auf. Ich sehe in die Wolken aus dem Hotelzimmer.
Ich weiß, dass er bei dieser Frau ist und mich alleine lässt. Ich flenne unentwegt. Und warte.
Irgendwann schlafe ich ein. Wohl mit Ohrenschmerzen.

Mein Vater schließt schnell Kontakte. Er lernt wohl einen Kumpel aus Deutschland am Goldstrand kennen. Auf den gelbstichigen Fotos vom Goldstrand ist jedenfalls immer dieser blondgelockte Typ zu sehen. Von der Frau hat er natürlich kein Foto gemacht. Meine Mutter hätte auch komisch geguckt.
Mein Vater lernt schnell Frauen kennen. Ich hatte das ja schon am Anfang gesagt.
Am Goldstrand ist es eine Frau aus Tschechien – damals hieß das noch Tschechoslowakei – und war auch Ostblock.

Mein Vater hat auch damals nie wirklich viel Geld. Am deutschen Standard gemessen – bewegen wir uns immer knapp über Sozialhilfe-Niveau. Hat meine Mutter mal gesagt. Aber in Bulgarien ist er der King. Mit seinen harten West-Devisen kann er die Ostbock-Tussis beeindrucken – und auch die DDR-Urlauber, die man dort oft trifft. Vielleicht ist dieser blondgelockte Typ auf den Fotos, mit dem er zusammen die Frauen aufreißt hat ja ein Ossi – keine Ahnung.

Auf jeden Fall ist er in diesem Urlaub privilegiert. Er genießt das. Man sieht es auf den Fotos. Ein richtiger Lebemann – wie er im Buche steht. Aus armseligen italienischen Verhältnissen stammend, in den frühen 60ern nach Deutschland gekommen, kann er hier in Bulgarien einen auf „Graf Koks“ machen. Das ist genau sein Ding. Alles palletti – nur das Kind stört.

Mein Vater hat in diesem Urlaub richtig gut und viel rumgevögelt. Ich glaube, das war seine Hauptbeschäftigung. Ich erinnere mich an keine schöne, nette Geste von ihm. Aber Eis hat er mir immer gekauft.
Er hat da immer den Dicken gemacht. Mit seinem Schnauzer und einem Goldkettchen am Hals. Sympathisch war er schon. Aber eben auch ein Schwein.

Im Hotel muss er die harte D-Mark immer in sogenannte Coupons tauschen. Ein komisches System - offensichtlich will man damit verhindern, dass die wertvollen Devisen in Privathände gelangen. Das will sich der bulgarische Staat sichern. Trotzdem wird mein gewiefter Vater auch oft schwarz und zu einem besseren Kurs getauscht haben. Als ehemaliges "italienisches Straßenkind" ist er damals für die krummen Sachen bestens geeignet und präpariert.
Mein Vater ist generös – gibt den bulgarischen Kellnern viel Trinkgeld. Wir werden oft bevorzugt behandelt. Ich glaube, mein Vater versucht mir zu erklären, was Ossis sind – und warum die länger auf ihr essen warten müssen.

Ich reite am Goldstrand auf bulgarischen Eseln. Die haben rote Bommeln am Kopf hängen und am Hintern Auffang-Beutel für ihre Scheisse. Ich finde das faszinierend. So eine Art Esel-Windel – aber nicht direkt am Körper. Was die wohl mit der aufgefangenen Scheisse anstellen?
Ich liebe das Eselreiten. Ich liebe in dieser Zeit sowieso alle Pferde und Esel.
Ich glaube – auf dem Rücken eines Esel kann ich diese schrecklichen Tage mit meinem Vater einigermaßen bewältigen. Deswegen will ich auch oft reiten – und nerve meinen Vater damit.

Als mein Vater und ich einmal alleine am Strand sind, erzählt er mir, dass es in Bulgarien Wölfe gibt. Ich finde das unheimlich aufregend und eigentlich auch unvorstellbar. Als ich ihn frage, wo die denn sind – antwortet er mir:“ Da hinter den Bergen!“
Ich schaue zu den Bergen – und kann es kaum glauben. Da sollen wirklich Wölfe sein? Ich frage ihn, ob die auch an den Strand kommen können? Mein Vater verneint.


September 2017

Als ich den Nachlass meines verstorbenen Vaters ordne fällt mir eine Postkarte aus Prag von 1970 in die Hände. Dort steht geschrieben, dass sich eine Frau bei ihm für den schönen Urlaub bedankt und es bedauert, dass er mit seinem Andreas (so heiße ich gar nicht und so hieß ich nie) solche Umstände oder Mühe gehabt hätte. Trotzdem sei es sehr schön für sie gewesen. Ich habe die Postkarte aufbewahrt. Sie ist der schriftliche Beweis, dass es diese Frau wirklich gab. Als wir nämlich damals aus dem Urlaub zurückkamen habe ich meiner Mutter natürlich gleich alles erzählt. Auch das mit der Frau. Mein Vater hat behauptet, dass das Kind lügen würde.
Aber meine Mutter hat mir natürlich geglaubt. Sie kannte ja nach gut 5 Jahren Ehe ihr kleines Arschloch.

 

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