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Urlaub für immer
Urlaub für immer.
Gegebenenfalls will Gerald-Hubertus Geraber auch länger bleiben, aber er bucht erst einmal nur für sechs Tage ein Doppelzimmer im Hotel Drei Linden.
Es liegt malerisch auf einer felsigen Halbinsel hoch über dem Meer.
Ein Zimmer mit Meerblick ist frei und genau das richtige für Gerald-Hubertus, den alle nur Hubert rufen. Warum seine Eltern ihn so hatten taufen lassen, hatte Hubert nie erfahren können. Seine Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz über dem Atlantik tödlich verunglückt, als er gerade drei Jahre alt war.
Die Großeltern konnte er auch nicht mehr fragen; die waren schon im Ersten Weltkrieg umgekommen.
Hubert ist ein im Heim aufgewachsener Einzelgänger. Eine reife Leistung, alleine zu bleiben unter vielen. Aber es ist seine Methode zur Erlangung von Selbstbewusstsein.
Nur so kann er überleben.
Er übersieht die Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern. Es gibt sie nicht, niemanden; nur er lebt in seiner eigenen Welt.
In der Psychologie gibt es für seine Art zu leben und die Umwelt wahrzunehmen lateinische Fachbezeichnungen und ein genaues Krankheitsbild.
Für Hubert ist sein Leben die einzig normale, gute und richtige Lebensstrategie.
Er ist auch sehr konsequent, wenn auch unbewusst. Er liest keine Zeitung; nur Romane und Fachbücher verschlingt er, hat kein Radio und kein Fernsehgerät, noch nicht einmal ein Telefon.
Er bekommt äußerst selten Post. Denn seine Anschrift kennen nur sein Arbeitgeber, das Finanzamt, die Krankenkasse und ähnliche Institutionen. So lebt er sehr zurückgezogen in einer kleinen Zweizimmerwohnung im 14. Stock eines Hochhauses mit weitem Blick über ein Häusermeer.
Sein Alltag ist gleichförmig. Täglich verlässt er für wenigstens neun Stunden seine Wohnung, um an seinem Arbeitsplatz – einen Wandschrank mit Fenster nennt er ihn mit einem Anflug von bitterem Humor – einsam Computer-Programme für Statistiken und deren sinnvolle Auswertung zu schreiben.
Er erregt bewusst keinerlei Aufmerksamkeit und hat kaum Kontakte zu anderen Mitarbeitern des großen Elektronikkonzerns.
Seine Verbindung zur Firma hält zweimal täglich der Bote aufrecht, der ihm neue Aufträge bringt oder fertige Arbeiten abholt.
Zu Beginn seiner Tätigkeit war Hubert noch regelmäßig zum Essen in die Kantine gegangen. Traf er hier Leute, grüßte er stets freundlich und unverbindlich lächelnd, setzte sich aber immer gerne alleine an einen Tisch.
Er hat kein Namensgedächtnis, er hat es auch nie trainiert. So ist es ihm auch unangenehm, wenn von den wenigen Bekannten einer sich zu ihm setzt und mit ihm natürlich auch sprechen will. Jedes Mal bekommt Hubert einen gewaltigen Schreck, wenn er plötzlich angesprochen wird. Es ist einfach zu ungewohnt für ihn und stört seinen immerwährenden Gedankenfluss, seine lautlosen Selbstgespräche und Philosophien.
Anders, wenn er sich darauf vorbereitet hat, wenn er in einen Laden geht, um etwas zu kaufen. Er liebt es nicht; ist er aber auf das Gespräch vorbereitet, kann er seine brüchige Stimme, wenn auch stümperhaft und viel zu leise, gebrauchen.
Spricht ihn aber unerwartet, vollkommen ohne Vorwarnung, jemand an, so ist das für ihn wie ein Überfall aus dem Hinterhalt.
Einmal hatte eine Frau bei ihm an der Wohnungstür geklingelt und gefragt, ob er wüsste, ob eine Nachbarin in ihrer Wohnung sei. Er hatte sie nur angesehen und ohne zu sprechen absolut lautlos geantwortet, in Gedanken, er wüsste es nicht. Die Frau starrte ihn lange an und ging dann schnell und erschrocken zum Fahrstuhl und verschwand. Er wunderte sich.
An Feiertagen schläft Hubert lange und ausgiebig. Sein Tag beginnt stockend mit einem einfachen Frühstück; Müsli und eine Tasse warmes Leitungswasser genügen ihm.
Er braucht immer lange zum Anziehen, aber er kleidet sich ordentlich und redet sich jedes Mal ein, wie blöde er ist, wenn er ein frisches, möglichst weißes Hemd anzieht und wählerisch eine seiner zahlreichen Fliegen für den speziellen Tag aussucht und bindet.
Er bleibt natürlich in seiner Wohnung, kocht lieber selbst, als zum Essen zu gehen und liest fast den ganzen Tag – meistens in Fachbüchern, die er in großer Zahl von seinen Großeltern und Eltern geerbt hat.
Alle Wände sind verstellt, auch im Flur und teilweise in der Küche, mit bis zur Decke reichenden Kiefernholzregalen, die unzählige Bücher enthalten.
Er hat sich eine unglaubliche Zahl theoretischer Fähigkeiten angelesen, die er alle im Geiste auch ausübt. Er kann Messer schmieden mit Damaszener Klingen und wertvollen Heften aus Amarant oder Elfenbein, Segelschiffe aus Holz und weniger gerne auch aus Kunststoff bauen und Segel nähen.
Alle Knoten aus der Seefahrt kennt er und hat sie vielfach geschlagen.
Von seiner Mutter – sie war Allgemeinmedizinerin – stammen einige medizinische Fachbücher. Er hat fast alle gelesen und traut sich eine Blinddarmoperation zu, mit allem Drum und Dran, auch mit verschiedenen Narkosemöglichkeiten und an sich selbst.
Wobei ihn dabei einiges Unbehagen befällt. Man kann sich schließlich nicht selbst narkotisieren und operieren, glaubt er. Örtliche Betäubung ist aber möglich, auch Vereisung könnte in Frage kommen.
Aber endgültig hat er das Problem noch nicht gelöst.
Einen Zahn hat er sich selbstverständlich schon selbst gezogen, mit einer Zange aus seinem Werkzeugschrank. War nicht einfach, aber was ist schon einfach?
Zum Zahnarzt zu gehen findet er jedenfalls wesentlich schwieriger.
Ein neues Projekt hat er gerade vor wenigen Tagen begonnen; die christliche Seefahrt hat es ihm nun angetan. Er lernt Navigation nach Sonne, Mond und Sternen. Ja, er hat sogar einen Sextanten aus Messing erworben, im Versandhandel ist es ihm leicht gefallen.
Er zuckt zusammen, es hat geklopft!
Die Realität kann ihn oft nur schwer erreichen.
Aber er ist in einem Hotelzimmer, mit Blick auf das Meer, und die Welt klopft an!
„Guten Abend“ übt er leise und geht zur Tür, um sie zu öffnen.
Eine junge Frau trägt ein Tablett mit dem Abendessen herein. Er hat es ausdrücklich auf das Zimmer bestellt, alle Mahlzeiten. „Guten Abend“ und „vielen Dank“ kann er gerade räuspern, mehr nicht.
Die junge Frau lächelt und fragt nach eventuellen Wünschen.
Er holpert ein mühsames „Nein“ heraus, und sie wünscht ihm einen guten Appetit. Er solle bitte klingeln, wenn er mit dem Speisen fertig sei, dann hole sie das Geschirr wieder ab, sagt sie höflich.
Er nickt nur viel zu heftig mit dem Kopf und sucht fast gleichzeitig die Klingel, nach der er nicht fragen mag.
Sie geht schnell, spürt seinen Wunsch, alleine zu sein und schließt vorsichtig die Tür, als ob jemand schliefe und nicht gestört werden soll.
„Hubert, such die Klingel!“ befiehlt er sich mit Nachdruck, und nun sieht er wohl auch erstmalig die Einrichtung seines großen Hotelzimmers. Die Wände sind mit einer Art Seidentapete bespannt, auf jeden Fall ist es Stoff in ziemlich dunklen roten und braunen Tönen, die schwarz und ganz leicht mit Gold abgesetzt sind und geometrische, kreisende Figuren bilden.
Ein riesiger Kleiderschrank aus Mahagoni, ein passender kleiner Sekretär, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein großes Doppelbett harmonisieren mit den Wänden, die außerdem durch zwei große Ölgemälde, Segelschiffe darstellend, geschmückt werden. Das Fenster zum Meer mit einer großen, jetzt geöffneten Doppeltür, die auf den Balkon führt, gibt den Blick frei auf ein kaum gewelltes, grünblaues Meer mit kleinen weißen Schaumkronen, in das gerade die Sonne zu versinken scheint. Sie ist schon von weißglühend auf gelbglühend abgekühlt, gerade noch könnte man sie schmieden, ehe sie rot zu sehr erkaltet ist.
Die Koffer stehen noch mitten im Zimmer, so wie sie der Hotelpage abgestellt hat, weil er ein außerordentlich zögerlich und unbeholfen gegebenes Trinkgeld entgegennehmen musste, und weil er sofort wieder aus dem Zimmer hinaus geschoben wurde. Vermutlich hätte der Page unter normalen Umständen den Koffer auf die dafür vorgesehene Bank gelegt, die Hubert jetzt neben dem Schrank entdeckt und versucht aufzustellen.
Der Mechanismus ist schwergängig und aus Messing, aber es gelingt ihm nach einigen Versuchen.
Dann fällt ihm das Essen ein,;es wird kalt, er muss essen. Die Hummersuppe ist nur noch lauwarm, aber schmackhaft. Das Steak mundet ihm auch,und Bratkartoffeln liebt er sowieso.
Das etwas zu wenig gegarte Gemüse, vor allem die Bohnen, lässt er liegen. Zum Nachtisch gibt es Pudding.
Nun hat er keine Ruhe mehr, er muss die Klingel suchen und vor allen Dingen auch finden. Und er muss auch noch die Koffer auspacken, damit seine Sachennicht so kraus werden.
Auch wenn ihn darin kaum ein Mensch sehen wird, musste alles ordentlich aussehen.
Eine Art Panik befällt ihn; Finde ich die Klingel nicht, muss ich in das Restaurant gehen und um Abholung bitten? Was soll ich sagen, "in meinem Zimmer ist keine Klingel?" Und wenn sie doch da ist, würden sie ihn auslachen, womöglich weise den Kopf schütteln über ihn, den kleinen Hubert. Er fühlt sich wie „Hubert ist alleine zu Haus“.
Nein, das kommt nicht in Frage, er muss die Klingel finden! Er schaltet das Oberlicht an, der Kristalleuchter verbreitet ein diffuses, aber warmes Licht. Dann entdeckt Hubert neben der Tür in der Tapete den gleichfarbig gestrichenen Klingelknopf. Ein Glücksgefühl durchströmt seinen Körper; er setzt sich wieder an den Tisch und trinkt hastig einen großen Schluck Wein. Dann steht er langsam auf und drückt auf die Klingel.
Jetzt steht er schon, also gleich den Koffer auspacken. Er beginnt mit den Hemden, es folgen die Hosen und Jacketts. Es sind reichlich Bügel im Schrank vorhanden.
Für seine vielen Fliegen benutzt er einen Hosenbügel – sehr praktisch, findet Hubert.
Es gibt auch mehrere Schubladen für die Unterwäsche und alles andere.
Zehn Bücher hat er mitgenommen für das Studium der Navigation, das er durch praktische Übungen vom Balkon aus vertiefen will. Weit draußen eben unter dem Horizont erahnt er ein Schiff. Er greift zu dem Feldstecher, den er auch mitgebracht hat, und erkennt einen ziemlich großen Containerfrachter, obwohl die untergehende Sonne sehr blendet und die eigentlich sehr bunten Container und auch das Schiff pechschwarz aussehen, wie ein Scherenschnitt.
Jetzt kann er das Schiff anpeilen und dann Minuten später eine Kreuzpeilung vornehmen und so vielleicht die Entfernung zum Schiff ermitteln.
Er sucht hastig nach dem Artikel dazu in seinem Lehrbuch „Astronavigation“ von Maximilian Schelte, findet ihn und liest konzentriert, als es klopft.
Er schreckt zusammen und versucht zu rufen: „Herein, es ist offen!“ Seine Stimme zerbröselt die Worte, es haucht nur aus ihm wie bei einer defekten Autohupe. Aber die junge Frau öffnet auch ohne seine Aufforderung und fragt höflich, ob es gereicht habe, das Abendessen und natürlich, ob es ihm geschmeckt habe.
„Ja“, krächzt er; „gut, wirklich“, versucht er zu ergänzen und starrt in sein Buch. Sie schaut etwas erstaunt und sagt: „Wenn sie noch Wünsche haben klingeln sie bitte einfach“. Er nickt lautlos und vertieft sich in seine Lektüre.
Dabei versucht er zu unterdrücken, dass er im Gesicht rot wird. Ohne Grund steigt ihm plötzlich das Blut zu Kopf. Vielleicht hat sie ihn zu lange fragend angesehen, oder ist es, weil er so unbeholfen ist, weil die Welt unberichtigt in seine eigene Welt und ihn belästigt?
Er schüttelt es ab wie ein Hund das Wasser und versucht, sich wieder auf die Lektüre zu konzentrieren. Es gelingt, und schon taucht er wieder ab in seine heile Welt.
Es ist kalt und dunkel draußen geworden. Er schließt das Fenster und starrt in die dunkle Nacht.
Weit hinten verbreitet ein Leuchtfeuer Lichtblitze von unterschiedlicher Dauer, die scheinbar schnell Wolken und Meer streicheln.
Er beschließt, ins Bett zu gehen und auf den neuen Tag zu warten.
Hoffentlich scheint dann die Sonne, damit er seinen Sextanten benutzen kann.
Die Stille umgibt ihn wie Watte. Als er das Licht ausschaltet, umhüllt ihn auch die Dunkelheit, und er schläft schnell ein.
Das Frühstück wird um 9 Uhr gebracht. Er liegt noch im Bett – wach, aber nicht bereit zum Aufstehen.
Der Kellner zieht unaufgefordert die schweren Übergardinen auf, das Licht tobt ins Zimmer, scheinwerfergleich.
Der Kellner deckt stillschweigend – wie angenehm – den kleinen Tisch und verabschiedet sich genau so wortlos.
Das Meer leuchtet heute Morgen im Schein der Sonne blau und ist bewegter als gestern, mehr weiß und zerrissen ist es. Gischt scheint bis auf den Balkon zu wehen, die Fenster sind feucht, als flöge man durch Wolken. Schön ist es und doch friedlich.
Hubert beschließt, nach dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Der Hotelier hatte ihm bei der Anmeldung zugesichert, dass hier jetzt im Herbst die totale Einsamkeit herrsche. Nur wenige, mehr zufällige Hotelgäste übernachten jetzt oft nur eine Nacht auf dem Weg in den Süden oder umgekehrt.
Das Hotel liegt in der Nähe der Autobahn, aber doch so weit entfernt, dass sie nicht stören kann.
Das nächste Dorf findet man erst nach einer Fahrt von über 30 Kilometern und jetzt, außerhalb der Saison, sind auch nur wenige Menschen im Hotel beschäftigt.
Es scheint unglaublich, wenn der Besitzer berichtet, im Sommer sei er immer ausgebucht, und das schon seit vielen Jahren..
Kaffee und Rührei mit Schinken will er warm genießen. So setzt er sich, entgegen seiner Gewohnheit, im Pyjama an den Tisch.
Angezogen ist er heute schnell. Ganz nach seinem Geschmack, mit weißem Hemd und Fliege. Auch das ist eine Art Protest oder Überlebensstrategie. Scheint doch seine Umgebung nur noch von Freizeitlern oder Holzhackern bevölkert zu sein, die gerade ihr Auto gewaschen haben. Auch so kann er abtauchen in seine eigene, schönere Welt.
Er hat eine Regenjacke übergezogen, denn wenn es auch nicht regnet und die Sonne vom stahlblauen Himmel lacht, die Gischt des Meeres überzieht auch den Steilküstenweg mit glänzender Feuchtigkeit.
Besonders schön zeichnen sich die vielen Spinnennetze gegen das Herbstlaub der Bäume und Büsche ab – Spinnennetze, die nun erst durch die vielen kleinen Wassertropfen sichtbar geworden sind.
Böiger Wind vom Meer lässt die Jacke und die Hosenbeine flattern, es riecht salzig und nach Wasserpflanzen, ein wenig auch nach Öl oder Tran.
Möwen streben schreiend gegen den Wind zum Meer.
Das Festland besteht, so weit das Auge reicht, nur aus Wiesen, Feldern, kleinen Büschen und einzelnen vom Wind stark geneigten Bäumen. Er atmet tief.
Dann geht sein Blick über das Meer. Die Augen beginnen zu tränen, so stark bedrängt ihn der salzwasserhaltige Wind.
Das Meer scheint in der kleinen Bucht weit unter ihm zu kochen.
Hörbar stöhnt das Ufer unter den Angriffen. Kleine und große Steine rollen und rumpeln mit jeder Welle hin und wieder zurück. Jede siebte Welle erscheint besonders stark und heftig.
Er zählt mit: Tatsächlich jede siebte und hin und wieder auch noch die direkt folgende Welle sind größer, stärker als alle anderen.
Er will versuchen, nach unten an den Strand zu kommen und sucht Abstiegsmöglichkeiten. Das Hotel hat er längst aus den Augen verloren.
Der Wind hat deutlich nachgelassen. Die Sonne wärmt nun, die Regenjacke wird lästig.
Er hängt sie an einen Baum am Wege und geht weiter.
Dann entdeckt er eine hölzerne Treppe, die offensichtlich zum Strand führt. Sie ist schon stark verwittert, wird aber wohl gewartet, denn einzelne Stufen sind sichtbar erneuert und auch große Teile des Unterbaues und das Geländer auf einer Seite. So geht er flott die vielen Stufen hinab, bis er an den felsigen Strand kommt.
Er besteht aus großen Findlingen, die unregelmäßig verteilt im Sand liegen, diesen aber fast vollkommen verdecken.
Die Sonne hat die Steine schon fast getrocknet, das Wasser überspült die großen Steine nicht mehr. So kann er trockenen Fußes von Stein zu Stein springen.
Nur wenn die siebte Welle kommt, kann er noch nass werden. Er vermeidet es, indem er auf besonders großen Findlingen abwartet.
So vergeht die Zeit im Fluge, und er überlegt gerade, ob es Zeit ist umzukehren, damit er zum Mittag wieder im Hotel sein kann.
Da fährt ihm wieder ein Schreck durch die Glieder, das Herz scheint zu erstarren.
Wie die Figur in Kopenhagen, die kleine Meerjungfrau, sitzt ein Mädchen auf einem riesigen Stein. Sie ist einfach gekleidet, grober Rock und Pullover, mit nackten Füssen. Sie erscheint wie leblos, starr wie aus Bronze.
Sein Kreislauf beruhigt sich, er hüpft langsam weiter, auf die Figur zu.
Als er sie fast erreicht hat – er könnte sie schon berühren –, dreht sie plötzlich den Kopf und nimmt ihn mit weit schreckhaft geöffneten Augen wahr.
Aber sie zeigt weiter keine Regung, und schweigend schaut sie zurück weit über das Meer.
Er kann nicht reden, jetzt. Zu erschrocken und erstaunt ist er und setzt sich wie sie.
Woher kommt sie, warum sitzt sie hier?
Er fragt sie, lautlos, aber sie antwortet nicht auf seine Gedanken, sie ignoriert ihn.
Nach fast einer Stunde – sie hat ihn nicht wieder angesehen, scheint ihn vergessen zu haben – beschließt er zu gehen. Er muss zum Essen ins Hotel, dort wird er erwartet.
Er geht, ohne sich umzudrehen und wie er gekommen ist. Sich umzudrehen, ist in seiner Vorstellung gefährlich, vor allem für das Mädchen.
Auf dem Weg nimmt er seine Jacke mit und erscheint etwas verspätet zum Mittagessen in seinem Zimmer. Der Kellner folgt ihm mit dem Teewagen.
Immer wieder sieht Hubert das Mädchen, auch beim Essen kann er das Bild nicht verdrängen. Nach einer kurzen Mittagsruhe kann er nicht anders, als den gleichen Weg noch einmal zu machen. Es ist wärmer geworden, der Wind ist eingeschlafen, still ruht das Meer.
Der Blick geht endlos weit, aber das Mädchen ist nicht mehr da.
Er setzt sich auf „ihren“ Felsen. Weit über eine Stunde sitzt er so da.
Dann kehrt er um, geht ins Hotel zurück.
Abendbrot, lesen, später schlafen, aber immer das Bild des einsamen Mädchens im Kopf, auch in vielen Träumen seiner unruhigen Nacht.
Die nächsten Tage wandert er immer wieder zu der Stelle, wo die Treppe zum Ufer am Meer führt.
Die Meerjungfrau aber fehlt.
Er überlegt, ob er den Kellner oder das Zimmermädchen fragen soll nach der Meerjungfrau.
Er verwirft diesen Gedanken. Er müsste lange üben – peinlich ist es auch – und er erwartet auch nicht das geringste Verständnis für seine Fragen.
Er fühlt hart ihren Widerstand und ihre Abwehr gegen seine Fragen, sie alle mögen ihn nicht, obwohl er sie kaum stört und auch kaum belastet, dessen ist er sich sicher. Abgesehen von seinem Wunsch, alle Mahlzeiten auf dem Zimmer serviert zu bekommen.
Die Navigation hat er verdrängt, die Bücher liegen ungelesen auf dem Koffer.
Auch der Sextant hat bisher kein Interesse gefunden.
Stundenlang sitzt Hubert und versucht telepathisch Kontakt mit der Meerjungfrau zu bekommen. Es gelingt nicht; sie antwortet nicht, oder er kann sie nicht verstehen.
Seltsam, sonst hat er sofort eine Empfindung.
Dann aber, nach vielen vergeblichen Wanderungen, sitzt sie plötzlich wieder auf dem Stein!
Er ruft; vielmehr krächzt er, wie ein alter Rabe.
Sie reagiert nicht. Er springt näher, droht immer wieder abzurutschen auf den nassen Steinen. Er merkt es kaum, fixiert nur sie.
Ihr Haar, lang und brünett, weht leicht im Wind.
Sie hat ihn immer noch nicht bemerkt.
Sein Herz schlägt bis zum Hals, deutlich trommeln seine Schläfen, es schmerzt fast.
Er möchte sich ans Herz fassen, aber er braucht beide Hände und Arme, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren – er eilt zu ihr!
Einen Stein vor ihr stoppt er; sie hat ihn wohl immer noch nicht bemerkt.
Dann dreht sie hastig den Kopf und schaut ihn aus großen, dunkelbraunen Augen an.
Nicht erschrocken, eher scheint sie es zu akzeptieren, vielleicht gehofft zu haben, dass er gekommen ist.
Aber sie wendet sich schnell wieder ab und schaut über das Meer.
Es ist diesig, die Sicht reicht nur wenige Meter.
Sie bleiben beide so sitzen, wieder fast eine ganze Stunde sitzen sie schweigend.
Jedoch können sie sich jetzt lautlos verständigen, wie zarte Druckwellen gehen die unausgesprochenen Worte zwischen ihnen hin und her.
Sie bittet ihn um Geduld, er möge bitte wiederkommen, alleine und genauso lautlos wie bisher.
Eines Tages würde sie ihn einweihen in ihr Leben, ihr Geheimnis.
Er erklärt sich einverstanden und genießt ihre Nähe, ihren schlanken Körper im groben Tuch.
Sie hat sehr kleine, zarte Füße, ist nicht groß, vielleicht 1 Meter 50 oder wenig mehr.
Nachmittags ist sie wieder nicht zu finden.
Etwas traurig kehrt er zurück in das Hotel und verlängert seinen Aufenthalt um eine Woche.
Nun hat er Zeit und beschließt, seinen Arbeitgeber um unbezahlten Urlaub zu bitten; er schreibt.
Dann fühlt er sich wohler, noch viel Zeit liegt vor ihm.
Er genießt das Abendbrot und träumt vor sich hin.
Woher kommt das Mädchen? Er wusste nicht, dass Frauen ihn interessieren, bis heute nicht. Aber nun fühlt er eine unheimliche Kraft, die ihn zu ihr zieht, wie von einem starken Magneten angezogen. Er kann nicht anders, er muss sie suchen.
Er kann sich nicht vorstellen fortzugehen, ohne sie wieder zu sehen.
Er kann sich nicht an seine Mutter erinnern, aber er hatte Fotografien gesehen.
Er ist überzeugt, sie sah aus wie diese Meerjungfrau!
Unheimlich – ist sie eine Wiedergeburt, und deswegen hat er sie treffen müssen?
Ist sie aus dem Meer gekommen?
Hat er deswegen gerade dieses Hotel gewählt, aus unzähligen Angeboten?
Er kann es sich nicht erklären, will es aber auch nicht.
Viele Tage noch geht er zu ihrem Treffpunkt am Strand.
Inzwischen hat er das Hotelzimmer schon fast bis zum Beginn der Saison gebucht.
Sein Arbeitgeber hat ihm Verständnis signalisiert und ihn vorerst freigestellt. Die wirtschaftliche Lage hat sich für das Unternehmen deutlich verschlechtert, neue Aufträge waren nur schwer zu requirieren. So kommt der Wunsch nach unbezahltem Urlaub nicht ungelegen.
Die Wohnungsmiete bezahlt Hubert per Dauerauftrag.
Pflanzen oder Tiere hält er nicht in seiner Wohnung.
Sparsam leben kann er auch alleine von seinem bescheidenen Erbe.
Das Warten und seine Geduld werden belohnt; Plötzlich zeigt ihm die Meerjungfrau den Wunsch, er möge ihr folgen. Er versteht sofort und bekommt Herzklopfen vor Aufregung und Glück.
Er folgt ihren Zeichen.
Über die Holztreppe geht es hoch und weiter auf dem Weg oberhalb der Steilküste in Richtung Süden.
Erst als das Unterholz endet, das wild verwachsen bis an die Küste wächst, geht sie auf einem kleinen Trampelpfad zu einem kleinen, urtümlichen Haus.
Es ist mit Holzschindeln gedeckt, hat kleine Fenster, frisch weiß gekalkte Wände, und seitlich steht ein schräger Anbau mit großem Doppeltor.
Davor verschiedene Werkzeuge, alt und kräftig, aber nicht verrostet.
Sie werden gebraucht, man kann es ihnen ansehen.
Auffällig ein großer, dicker Schornstein, der ganz am Ende des Anbaues weit über das Dach herausragt.
Sie lächelt ihn an und öffnet das Doppeltor.
Sie betreten eine Schmiedewerkstatt aus vergangener Zeit.
In der großen Esse – eine weitere kleine steht unmittelbar daneben – ist noch deutlich Glut zu erkennen.
Sie lächelt und bindet sich eine lederne Schürze um, schüttet kleine Kohlestück in die Esse und schaltet einen Ventilator ein, der die Glut schnell zu einem Feuer entfacht.
Er begreift langsam, schwerfällig: Sie ist eine Schmiedin, oder?
Mühsam und zaghaft versucht er zu fragen: „Bist du eine Schmiedin?“
Aber sie reagiert nicht.
Sie zeigt auf die vielen Werkzeuge auf den Werkbänken oder in speziellen Halterungen. Dann zeigt sie ihm ein unfertiges, zweiflügeliges Tor, beide Rahmen sind fertig, aber die Füllungen fehlen bei einem Tor weitgehend.
Die Kohle glüht nun weiß und mit leichtem Funkenflug, sie wird von dem Mädchen mit einem eisernen Haken auseinander getrieben.
Sie legt ein dickes Vierkanteisen in die Glut und dreht und wendet es, bis es gelbglühend ist. Dann streckt sie es auf dem runden Horn des großen Ambosses immer weiter und dünner, um es schließlich mit wenigen, meisterhaften und sicheren Schlägen des Schmiedehammers zu einem gedrehten Blatt zu treiben.
Dann schiebt sie das Feuer zusammen, nimmt die Schürze wieder ab und ergreift einen Zettel und einen Bleistift. Sie schreibt:
Ich bin taubstumm, Sie müssen Verständnis haben. Aber Sie sehen einfach nett aus, Sie haben mich nicht belästigt, sondern nur still neben mir gesessen. Dafür bin ich Ihnen dankbar.
Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch, und daher vertraue ich Ihnen. Wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, müssen Sie ganz langsam und sehr deutlich sprechen, oder wollen wir schreiben?
Er nimmt den Zettel entgegen und beginnt auch zu schreiben, aber ihm wird klar, er kann ihr seine Geschichte nicht aufschreiben, es dauert einfach zu lange!
Er schreibt nur: Ich mache hier Urlaub, aber ich suche die Einsamkeit, denn ich lebe in einer Großstadt, in einem Hochhaus im 14. Stockwerk.
Ich kann hören und sprechen, aber ich rede nicht gerne und bin etwas aus der Übung.
Er kommt nicht weiter, sie hat mitgelesen und nimmt ihm den Zettel wieder aus der Hand.
Sie formt mit den Lippen und zeigt mit den Händen die Worte: „Haben Sie Hunger?
Im Hotel werden sie nun nichts mehr bekommen, oder?“
Er kann sie verstehen, und glücklich bestätigt er ihre Vermutung.
Sie lädt ihn ein zum Essen.
Beim Kochen in der Küche versucht sie ihm ihr Leben zu erklären. Mmanchmal muss sie zu Bleistift und Zettel greifen, aber er versteht sie.
Sie hat die Schmiede vor über fünf Jahren von ihrem Vater übernommen, bei dem sie auch gelernt und anschließend gearbeitet hat.
Er starb vor drei Jahren, und ihre Mutter folgte ihm ein Jahr später.
Nun lebt sie hier in der Einsamkeit, alleine.
Sie hat aber gut zu tun; bis in die Hauptstadt konnte sie ihre Schmiedearbeiten liefern.
Sie hat lange Lieferzeiten.
Sie ist sehr fleißig, nichts und niemand lenkt sie ab, und sie ist eine außerordentlich begeisterte und begabte Kunstschmiedin.
Sie essen gemeinsam und unterhalten sich still.
Dann merkt er, er muss gehen, sie möchte nun alleine sein.
Vergeblich sucht er nach ihrem Namen. Ihr Name steht nicht an der Haustür, und einen Briefkasten findet er auch nicht.
So fragt er sie.
Sie schreibt ihm auf: Sabrina.
Er schreibt: Gerald-Hubertus ist mein Name.
Mit einem langen Händedruck verabschieden sie sich. Noch lange steht sie in der niedrigen Tür und sieht ihm nach. Er geht schnell auf dem schmalen Weg zum Hotel.
Die folgenden Tage entwickeln sich, wie es anders nicht zu erwarten ist: Er erlernt bei Sabrina das Schmiedehandwerk. Ohne viele Worte zeigt sie ihm täglich die Kunst ihres Handwerks. Schnell lernt er, und er ist mit Begeisterung dabei. Obwohl sie ihm nur Zeichen und Vorbild geben kann, ist es, als würden sie sich ständig unterhalten.
Nach zwei Monaten wird der Arbeitgeber von Hubert ungeduldig, er verlangt nun eine Entscheidung.
Hubert beschließt, sich mit Sabrina zu besprechen. Sie versteht ihn sofort, obwohl er nur leise gehaucht hat: „Ich glaube, ich muss nun nach Hause fahren.“ Sie sieht ihn lange an. Dann nimmt sie ihn an die Hand und zeigt ihm ein großes Zimmer im Dachgeschoss ihres kleinen Hauses.
Viele Gauben geben helles Licht, und die Holzbalken der Deckenkonstruktion machen den Raum unheimlich wohnlich und warm.
Er versteht sofort, hier kann er wohnen, wenn er will – und er will!
Leben können sie gut von ihrer Arbeit, denn Sabrina hatte ihm gezeigt, sie muss noch viele Rechnungen schreiben, hatte aber bisher kaum Zeit dafür gefunden.
Das ist schon eine Tätigkeit, die er leicht übernehmen kann, die bringt auch Geld in ihre Kasse.
Er umarmt sie und sagt ihr, er bleibe bei ihr.
Sie weint und gibt ihm einen flüchtigen, hastigen Kuss, so als täte sie etwas sehr Unrechtes.
Sie ahnt nicht, welches Opfer er ihr bringt, und welch riesiges Geschenk er gleichzeitig entgegennehmen kann.
Er kündigt das Hotelzimmer und bezahlt.
Gleich morgen will er auch seinem Arbeitgeber schreiben und kündigen.
Es fällt ihm merkwürdig schwer und doch ist ihm klar, er muss es tun.
Er muss hier bleiben, hier bei Sabrina.
Seine Wohnung will er noch einige Monate behalten..
Mit großem Eifer stellen sie gemeinsam das große, zweiflügelige Tor fertig und bauen es dann auch ein.
Ein Cousin von Sabrina, ein kräftiger, sehr einsilbiger, aber noch junger Mann, fährt sie mit seinem Lkw zur Baustelle und bringt sie abends wieder nach Hause in ihre Einsamkeit.
Einige Wochen braucht Hubert, dann hat er alle Rechnungen geschrieben, fast für ein ganzes Jahr.
Wenn alle bezahlt sind, haben sie mehr Geld zur Verfügung als er in drei Jahren hätte verdienen können.
Und immer weitere Aufträge laufen ein.
Viele Gutsbesitzer aus der Umgebung lassen schon seit Jahrzehnten bei Sabrina bzw. bei Ihrem Großvater arbeiten, sie schätzen die besonders gute Arbeit sehr.
Unglaublich schnell vergeht die Zeit. Sie reden nicht wirklich miteinander, aber sie verstehen sich wortlos.
Die Kundenbetreuung, Bestellungen und alle mit dem Schmiedebetrieb verbundenen Verwaltungsaufgaben löst Hubert mit Bravour, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Das Reden fällt ihm natürlich immer noch sehr schwer, aber er kann sich in Ruhe vorbereiten, und so gelingt es ihm leidlich.
Gut kann er ihr zur Hand gehen, als Zuschläger arbeitet er gerne und absolut gut.
Auch an der Eisensäge entwickelt er eine große Perfektion.
Seine Wohnung hat er längst gekündigt. Er kann sich kaum noch an seine Vergangenheit erinnern.
So stehen sie wirklich jeden Tag zusammen in der Werkstatt, in ihrer kleinen, glücklichen Welt und vergessen Zeit und Raum.
Wie lange?
Wen interessiert das schon – die beiden in der Schmiede jedenfalls nicht.
Glück braucht keine Zeiteinteilung, keine Uhr.
Glück kann unendlich sein, auf jeden Fall aber unvorstellbar lange dauern.