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Utopia

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27.11.2003
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Utopia

"Sagen wir endlich die Wahrheit, daß wir nie einverstanden waren mit diesen den Fliegen und Kamelen vergleichbaren Tagen." (Pablo Neruda)

Rosenthaler Platz. Ich nehme die Ansage in der U-Bahn kaum noch wahr. Und dort steigt der Mann im schwarzen Mantel dazu. Sein Körper ist dünn und schlacksig, kaum bemerkenswert. Voltastraße wird er wieder aussteigen. Erst nachdem ich beinahe alle seine Körperteile analysiert habe, sehe ich in sein Gesicht: Die Augen eingedrückt, versteckt hinter durchwachsenen Augenbrauen, als wollten sie verhindern, dass man in den Augen liest und somit ihr Geheimnis lüftet, dagegen liegen die Wangenknochen jedoch zu weit außen. Seine Mimik ist erstarrt und gleichgültig. Er unterscheidet sich von seinen Sitznachbarn, indem er keine Haltung bewusst einnimmt, manche haben die Beine überkreuzgeschlagen, andere sitzen aufrecht, als hätten sie einen Stock verschluckt, er sitzt einfach. Er grenzt sich in einer seperaten, isolierten Welt ab, um fühllos, dadurch unverletzbar zu sein. Das Gesicht wirkt wie ein freundlicher Totenkopf. Die Haut schmiegt sich den Extremen der Knochen an, es ist daher ein Widerspruch von Licht und Schatten, Ausdruck und Maske. Ist er dazu verdammt zu lächeln, wenn er weint? Das ist sein Vorteil: Mit Gewissheit könnte man nicht sagen, was er denkt oder fühlt.
Seinen Namen wage ich nicht zu raten, aber was könnte er arbeiten: Dunkle Haare, schwarzer Mantel, Aktenkoffer, er könnte Pförtner eines größeren Betriebes sein. In seiner Trostlosigkeit und Monotonie spiegelt sich auch mein Leben wieder. Voltastraße. Hey, du musst aussteigen! Ich bezweifle, dass er mich je bemerkt hat.
Gesundbrunnen. Hier werde ich von einer Menschenmasse mitgezogen. Ich denke nichts und ich tue nichts. Ich laufe einfach im selben Tempo, wie mein Vorgänger, bis ich vor der S- Bahn stehe. Sie muss unmittelbar vor mir angekommen sein, denn die meisten Leute stehen noch traubenweise vor den Türen. Von links nach rechts springend, versuche ich zu den letzten Wagons zu gelangen, ohne gegen die aussteigenen Fahrgäste zu prallen. "Einsteigen, bitte!" Immer noch drängen sich Einige vor den Türen. Ich renne zur nächst gelegenen Tür, doch dort scheint irgendetwas verstopft zu sein, niemand bewegt sich. Unbewusst hüpfe ich wieder von einem Bein aufs andere. "Zurückbleiben, bitte!" Mir wird heiß, das Blut fließt pochend in meinen Kopf. In der nächsten Tür scheint noch Platz zu sein, ich laufe also im völligem Adrenalinrausch hinein. Die Türen schließen sich, als hinter mir jemand ruft "Entschuldigung!" Ich drehe mich um und werde von grellem, weißen Licht geblendet, ich sehe nur eine Silouette, die in einer tierähnlichen Bewegung, Beine angewinkelt, Arme ausgestreckt, bereit mir in die Kehle zu beissen, auf mich zu springt, und dann an mir abprallt. Die Türen sind geschlossen. Mein Gewicht verlagert sich immer weiter nach hinten, mit den Händen greife ich neben mich, doch fasse ich nichts als Luft. Fast fürchte ich umzufallen, bis ich gegen jemand stoße. Wie bei einer Kettenreaktion von Dominosteinen, potentiell unendlich, würden wir nun alle nach hinten kippen, wäre es nicht ein begrenzter Raum an dem irgendwann alles abbremst.
Selbst jetzt, es ist vielleicht 7.30 Uhr, ist es stickig. Alles scheint in einer seltsamen Flüssigkeit zu schwimmen, lauwarm, sie steigt den Boden hinauf. Wenn man die Augen schließen würde, könnte man ihren Dunst riechen. Er verbreitet sich schnell, schon riecht man ihn an dem Nachbar, jetzt an einem selbst. Wenn jemand die Tür an einer Station öffnet, stelle ich mir vor, wie der Pegel in Sekunden sinkt, die gelbe Flüssigkeit mit dem Sog ins Freie fließt.
Jungfernheide. An jeder Station öffnen die Leute hektisch die Türen, als ob sie die Weite der Freiheit spüren wollen. Doch gehen sie nur zur Arbeit, zur Schule, oder wohin auch immer.
7.55 Uhr stehe ich vor einem erdrückend tristen Haus, meinem Arbeitsplatz. Die geomatrisch genaue Fassade, vermittelt die Ordnung und Perfektion, durch die sich die Firma repräsentiert. Wenn man die gläserne Eingangstür hinter sich gelassen hat, findet man sich in einer großen Halle wieder. Die Fliesen an den Wänden sind hellblau, das warme, goldige Sonnenlicht wird an ihnen in ein blankes Silber transformiert. Jeder Schritt und jedes Räuspern hallt dröhnend durch die Flure, gleichzeitig blickt man nervös zur Decke hinauf, denn sie ist unverhältnismäßig dunkelfarbig und scheint so ständig hinunterzufallen. Die Uhr im Eingangsbereich kündigt das Fünf- Minuten-Limit an. Noch fünf Minuten, um auf Toilette zu gehen, sein Büro wiederzufinden und ein paar Kollegen aus den Nachbarräumen zu grüßen.
Wie üblich laufe ich den Flur zu den Fahrstühlen entlang. Als ich um die Ecke biege, ordnet meine Chefin gerade vor den spiegelnden Metalltüren ihre Frisur. Noch bevor ich in wirkliche Rufnähe komme, schreit sie: "Guten Morgen, Helena! Wie geht's dir!" "Ähm, ja, ganz gut, danke." Diese Frau scheint morgens eine Überdosis Kaffee zu trinken.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch, ich muss Briefe schreiben und Ordner anlegen, doch ich stütze meinen Kopf auf der Hand ab und sehe aus dem Fenster. Das Fensterkreuz ist die Begrenzung, durch die ich die Wirklichkeit betrachte. Es sieht stürmisch draußen aus, Blätter und Pflanzen zittern im Wind und einige Leute laufen vornüber gebeugt. Sicher würde niemand von denen annehmen, dass im Innern dieses Hauses etwas Bewegliches und Lebendiges ist. Der Außenstehende sieht nichts als eine Vielzahl von kleinen Fenstern, hinter denen man den Wind und die Sonne nicht spüren kann. Jeden Morgen geht man zur Arbeit, ohne überhaupt ein Ziel vor Augen zu haben. Die Firma erwartet, dass man pünktlich ist, Aufträge und Anweisungen ausführt, doch niemand intressiert sich persönlich dafür. Es spielt keine Rolle, ob man zehn Jahre früher oder später geboren wird. Bestimmte Arbeitsabläufe werden immer wiederholt. Das Leben eines Individuums wird in diesem System auf die reine Funktion beschränkt.
In jedem einzelnen Fenster sitzt eine Person, deren Namen, Gedanken und Ängste keine Rolle spielen. Innerhalb dieser Mauern ist man identitätslos. Würde man aus diesen Begrenzungen ausbrechen, wäre das ein Weg aus der Fremdbestimmung. Indem man um seine Freiheit kämpft, wählt man seine Extistenz. Allerdings würde diese Entscheidung dazu führen, kein geregeltes Einkommen und keine feste Wohnung zu haben. Sie ist daher von der Gesellschaft von vornherein ausgeschlossen. Das ist die grundlegende Wahl.
Um einen neuen Ordner anzulegen brauche ich dreißig Minuten und jedesmal, wenn ich einen Ordner abgeschlossen habe, sind dreißig Minuten meines Lebens unwiderruflich verloren gegangen. Nirgendwo sonst spürt man die Zeit so bewusst vergehen und gleichzeitig niemals enden. Der Zwang alles zu kontrollieren und Ordnung herzustellen, hat sich mit der Erfindung der Zeitmessung verselbstständigt.
Die Zeit ist nichts als eine Übereinkunft, doch sie ruft in mir eine permanente Anspannung hervor. Wenn ich am Morgen mit der Bahn zur Arbeit fahre, frage ich mich: Bekomme ich meinen Anschluss? Ich halte den Atem an und überschlage die Minuten auf meiner Armbanduhr.
12 Uhr. Jetzt habe ich Mittagspause. Die Zeit ist längst zu einer ins Bewußtsein eingebrannte Begrenzung geworden. Die Mittagspause ist eine Dreißig-Minuten-Begrenzung.
Zusammen mit Kollegen und meiner Chefin sitze ich in der Cafeteria. Allerdings gibt es dort nur ein paar Tische und Stühle, einen Kühlschrank und einige Poster an den Wänden. Alles wurde auf das Notwendigste reduziert, die Stühle haben keine Polster, als müsste man verhindern, dass jemand sie aufschlitzt und den Inhalt im Raum verteilt. Plötzlich steht meine Chefin von ihrem Stuhl auf, in einem knitterfreiem Blazer, frisch gelocktem, rot gefärbtem Haar und sagt: "Mir ist aufgefallen, dass wir uns viel zuwenig Zeit füreinander nehmen." Bedeutungsvoll streift ihr Blick die verwunderten Kollegen. "Ich meine die Kollegen untereinander, aber auch die Menschen im allgemeinen. Wir hören einander einfach nicht mehr wirklich zu. Ihr müsst einmal darauf achten. Als ich gestern mit meiner Freundin telefoniert habe, machte ich eine kurze Pause und sie fragte, ob ich schon aufgelegt hätte und ich sagte, nein, ich denke nur darüber nach, was du gerade gesagt hast." Als bräuchte sie eine Zusstimmung, nickt sie selbst mit dem Kopf.
"Wisst ihr, früher war das alles anders. Zum Beispiel kam jeden Sonntag ein Eislieferant in die Stadt, jeder freute sich deshalb auf diesen Tag. So etwas gibt es heute nicht mehr. Man sollte sich einen Tag bestimmen, zum Beispiel Sonntag, auf den man alle schönen Dinge legt. Das hilft, die Woche besser zu überstehen." Zu meinem Erstaunen ergänzt mein Nachbar: "Vorfreude ist die schönste Freude." "Ja, ganz genau!" Was soll man dazu noch sagen?
Ich sage nichts und finde mich auf der Toilette wieder. Die grüne beruhigende Farbe, ist teilweise abgeplatzt und stellt nun das rohe Holz bloß.
Meine Chefin würde ihre Begrenzung niemals erkennen, weil jegliche geistige Entwicklung zum Erliegen gekommen ist. Es ist eine besondere Art von Arroganz, das Leben durch Voreingenommenheit verstanden haben zu wollen.
"Das hilft mir die Woche besser zu überstehen", wieso kündigt sie nicht und sucht sich einen anderen Beruf? Ist das die großartige Weisheit ihres Lebens? War es das, was sie jungen Leuten auf den Weg geben wollte: Lebt nicht heute, verschiebt es auf morgen?
Grundsätzlich heißt es, dass man in der Vergangenheit lebt. "Früher war alles anders" na und? Das rechtfertigt nicht die Nostalgie und die Ignoranz gegenüber der Gegenwart.
Aber auch ich bin dumm und schwach: Jeder mag seine philosophischen Höhenfluge entfalten, wenn er allein auf dem Klo sitzt. Es bedeutet nichts. Diese Höhenflüge werden am Staub des Lebens ersticken, wenn man sich vor dem Neuen und Unbekannten verschließt.
Als ich wieder im Büro sitze, hat mir jemand ein Biologiebuch auf den Tisch gelegt. Ein Zettel liegt im Kapitel der humoralen Abwehr, wahrscheinlich in Bezug auf einen Bericht, den ich schreiben muss. Überaus interressant sind hierbei die Dialoge, hören wir einander nun einmal wirklich zu. Also, wie reagiert die B- Helferzelle nachdem sie aktiviert wurde:

B- Zelle: Was ist los, was ist passiert?
Makrophage: Ich habe 'ne Bakterie oder sowas gefressen.
B- Zelle: Ist ja eklig. Wieso nimmst du auch immer gleich alles in den Mund?
Makrophage: Verbinde dich mit dem Antigen!
B- Zelle: Mit dem Rezeptor...
Makrophage: Hast du es?
B- Zelle: Wenn du nicht dauernd dazwischen quatschen würdest vielleicht.
T- Zelle: Hey, Leute!
B- Zelle: Mann, du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du hier?
T- Zelle: Ich verbinde meinen Rezeptor mit dem Antigen.
Makrophage: Könntet ihr euch mal beeilen.
T- Zelle: Ok. Wir haben's.
B- Zelle: Du sag' mal, was schießt denn da aus deinem Hinterteil raus?
T- Zelle: Interleukin 2.
B- Zelle: Was für'n Zeug?
T- Zelle: Wir werden uns gleich teilen.

Bla, bla, bla u.s.w. Ich brauche jetzt eine Pause.
Während ich den Flur entlang laufe, sehe ich am Ende meinen Ableitungsleiter. Wie er dort steht, wie er mich ansieht, weiß ich, dass er mich ansprechen wird. Der Kontrast zwischen der feierlich dunkeln Kleidung und seiner bleichen Haut scheint enorm, teilnahmslos beobachtet er meine Schritte. Ich bin von dieser Präsenz gebannt. Es ist seltsam, man könnte glauben, er wäre blind, denn er trägt eine Sonnenbrille. Als ich näher komme, erkenne ich in den schwarzen, reflektierenden Gläsern mein Abbild wieder.
"Helena, ich muss mit Ihnen reden!" Ich frage mich, weshalb er eine Sonnenbrille trägt. Will er nicht von der Helligkeit des Lebens geblendet werden? Will er nicht in der Schattenwelt seiner Isolation gestört werden? Mit der Zeit hat er seine Träume abgelegt und sich den scheinbar unveränderlichen Widrigkeiten seines Lebens gefügt. Er hat sich seinem Job, den Fakten und Zahlen angepasst, Gefühle haben keinen Platz. In zwanzig Jahren könnte auch ich in der Stellung eines Abteilungsleiters sein: Gleichgültig und teilnahmslos. Ich würde innerlich gestorben sein in meinem Chefsessel. Mein Leben wäre bereits beendet, ohne, dass ich jemals den Mut gehabt hätte, eine Entscheidung zu treffen und ihre Konsequenzen für mein Leben zu tragen. Wo liegt der Wert eines passiv gelebten Lebens?
"Ich muss mit Ihnen reden!" Ich jedoch ignoriere ihn. Ich laufe weiter. "Helena!" Ich müsste noch vier Stunden arbeiten aber ich laufe. Ich laufe, bis ich das Gebäude verlassen habe und in der Bahn sitze. Gleicht eine Minute auch der Unendlichkeit, vergeht eine Stunde wie ein Wimpernschlag, Zeit ist relativ.
Als ich benommen meine Straße entlang gehe, hallt das Hupen eines Autos in meinen Ohren wieder. Mein Kopf dröhnt. Ich fühle mich distanziert, als wäre alles nur eine Kopie der Wirklichkeit. Die Riemen meiner Tasche pressen sich in die Schulter, scheinen fast mit dem Gewebe verwachsen zu sein.
Ich glaube in den Boden zu sinken, denn er hat seine Stabilität verloren, ist eine weiche formlose Oberfläche.
Doch jetzt trägt mich der Wind meinem grauen, vertrauten Haus entgegen. Jede Schmiererei oder Unebenheit ist zu einem Charakterzug geworden, der das Haus unverkennbar und zum festen Bestandteil meines Lebens gemacht hat. Für andere hat es keine Bedeutung. Während ich routiniert nach meinem Schlüssel greife, eile ich wie mit Sieben-Meilen-Stiefeln der Tür entgegen. Ich fasse keinen konkreten Gedanken, doch mein Körper bebt erwartungsvoll, als ich die Wohnungstür öffne und im weißen Flur stehe.
Die Garderobe, der Kleiderschrank, nebenan das Wohnzimmer. Die Fenster sind etwas verschmiert. Als ich in der Wohnung stehe, habe ich vergessen, worauf ich mich gefreut habe. Es ist 14.00 Uhr. Das heißt ich habe noch ungefähr acht Stunden, um zu essen, um Berichte zu schreiben, Zeitung zu lesen und wieder schlafen zu gehen. Manche Leute brauchen nur sieben Stunden Schlaf, ich brauche mindestens neun.
Vor drei Jahren bin ich hier eingezogen, ein paar Möbel sind noch von meinen Eltern, andere habe ich in einem Antiquitäten-Geschäft dazu gekauft. Einige waren giftgrün gestrichen, ich hatte sie dunkelbraun lackiert. Und doch sind nicht das Haus oder die Möbel Bestandteile meines Lebens, vielmehr bin ich ein Teil der Gegenstände. Sie existieren länger, sind soviel beständiger als ich und habe ich sie einmal gekauft, sind sie wie Ketten am Körper, die den Rest meines Lebens halten werden.
An den Wänden stehen sperrige Schränke, Tische und Stühle drängen sich um meinen Körper. Sie nehmen den Raum ein, es ist zu wenig Platz. Ich glaube kaltes Metall zu spüren, das wie Nadeln in die Haut sticht. Dann höre ich das Ticken der Uhr. Das monotone Ticken der Uhr, die Gegenwart. Diese Definition von zu Hause beinhaltet keine Geborgenheit, keine Wärme.
Dabei könnte jede Minute eine Möglichkeit sein, aus der festgefahrenden Routine auszubrechen. Die Konsequenzen könnten problematisch sein, doch wieso sollte ich Problemen aus dem Weg gehen?
Um glücklich zu sein, muss man etwas zerstören, um es neu zu erschaffen!
Ich möchte über die reine, staubige Erde gehen, die Sonne und den Wind spüren und nicht die zensierte und vorgesetzte Natur betrachten. Ich habe die Möglichkeit alle Ketten zu brechen. Ich bin frei alles zu tun, was ich will! Meine Wahl habe ich getroffen, ich werde mich für die Freiheit entscheiden.
Früher oder später verkommt alles zur Gewohnheit, es verliert seinen Glanz und seine Schönheit. Wie lange kann ein Mensch also an dem selben Ort existieren?
Nicht lange. Etwas muss sich verändern. Wenn ich morgen zur Arbeit gehe, werde ich mich für mein plötzliches Verschwinden rechtfertigen müssen, es sei denn, ich habe meine Stelle bereits verloren. Ich ertrage die trockene Disziplin nicht länger. Nur selten habe ich Zeit einen Film zu sehen, also gehe ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Im Videorekorder liegt ein Film, den ich wohl vor etlichen Wochen bereits schauen wollte. Ich spiele ihn ab und sehe, es ist "Alexis Sorbas". Die Schwarz-Weiß-Bilder, die Weite der griechischen Landschaften ziehen mich in ihren Bann. Trotz zahlreicher Tragödien verzweifeln der Grieche Sorbas und sein Freund nicht. Hauptsächlich Sorbas stützt diese Leichtigkeit, impulsiv und leidenschaftlich scheint er durch das Leben zu tanzen. Der Film setzt ein, als beide an der Steinküste sitzen, im Hintergrund glitzert die Sonne auf dem Meer. Nachdem Zusammenbrechen des Förderbandes sind ihre finanziellen Mittel aufgebraucht, die Freunde jedoch sitzen auf Steinbrocken und essen. Sorbas hebt ein Glas Wein und sagt: "Auf dein Wohl Boss." Sein Freund erwidert die Geste. "Auf deins, Sorbas." Sie trinken einen Schluck, dann greift Sorbas ruckartig nach dem Bein seines Freundes und sagt: "Verdammt nochmal, Boss. Ich mag dich. Ich muss es dir sagen. Du bist so begabt, nur eins hast du nicht mitgekriegt." Und mit einer schwungvollen Handbewegung unterstreicht er das Wort: "Wahnsinn." "Und ein Mann braucht eine Portion Wahnsinn, weil er sonst..." Sorbas stockt einen Moment und fährt fort "weil er sonst nicht Courage hat auszubrechen um frei zu sein." Ich kreische, zwei Sekunden, dann ist es still.
Obwohl der Film weiter läuft, achte nicht mehr auf die Handlung. Das ist es, wirklich etwas zu fühlen, absolut und leidenschaftlich, ohne Einschränkungen, das ist Freiheit. Dieses Land und meine Umgebung prägt die Menschen zur Disziplin und Vernunft, bis hin zur kalten Rationalisierung der Gefühle. Eine Musik setzt im Film ein und zertreut meine Gedanken. Sorbas tanzt mit dem eindringlichen Takt, und auch ich möchte tanzen. Mein Ziel ist Griechenland!
Ich spüre das Blut durch meine Adern fließen, ich spüre meinen Herzschlag gegen die Brust donnern und in meinen Ohren widerhallen. Wärme verbreitet sich im Körper. Unfähig mich zu bewegen, bleibe ich einfach stehen. Dann renne ich los und werfe T- Shirts und Hosen jeder Farbe in die Reisetasche. Ich presse alles noch einmal zusammen und mache den Reißverschluss zu. Ich greife das Portemonaie und den Reisepass und schließe die Wohnungstür. Vielleicht komme ich bald wieder, vielleicht auch nicht.
Als ich im Flugzeug sitze und die Maschine abgehoben hat, sehe ich aus dem Fenster. Ich fliege über den Wolken. Hier oben ist ständig wunderbares Wetter. Man könnte spazieren gehen und die Wolken würden einen tragen. Die Sonne würde einen wärmen, während man sich auf diesen reinen, makellosen Grund legt. Wenn man dann die Augen schließt, würde man nichts als sanft, streichelnde Federn am Rücken spüren. Eine Ansage: "Wir befinden uns auf einer Höhe von 3000m, die Außentemperatur beträgt -30°C.
Etwa fünf Stunden später bin ich in Athen gelandet. Ich will nach Ándros, das ist eine kleine Insel, auf die man mit einem Boot übersetzen kann. Als ich an der Küste stehe, liegt vor mir das klare, blaue Meer, die Ägäis. Der Wellengang, die Ausgeglichenheit und Dynamik erinnert an das Wiegen eines Kindes. Ich setze mich auf den kargen, staubigen Boden, neben mir kriechen einige trockende Gräser aus dem Kies hervor. Die Erde reflektiert den grellen, intensiven Glanz der Sonne ebenso wie ihre Wärme. Ein Schiff verschwindet gerade hinter dem Horizont. Ich weiß nicht, wo meine Anlegestelle ist und es ist mir egal. Zeit spielt keine Rolle, sie hat keinen Einfluss mehr auf mein Leben. Ich schiebe meine Tasche in Position, lege meinen Kopf darauf und beobachte zwei Vögel, die im Himmel ihre Bahnen fliegen. Sind das nicht die eingeschränkesten Wesen, die es gibt? Sie sind Gefangene ihrer Gattung. Einige werden ihr Revier niemals verlassen. Besonders Zugvögel, sie sind die ärmsten unter ihnen. Denn sie fliegen in andere Länder, doch jedesmal in den selben festgelegten Bahnen. Zugvögel sind Versklavte ihres Instinktes: Sie hätten die Möglichkeit überall hinzufliegen, alles zu tun, doch sie begreifen es nicht.
Jetzt stehe ich am Bug des Bootes, die Wellen brechen am Metall. Der Wind greift nach meinen Haaren und meinen Kleidern. Er scheint auf mich allein konzentriert zu sein, ich bin der einzige Widerstand. Ich bin der Mittelpunkt der Welt!
Ich schließe meine Augen und alles was bleibt, ist die Sonne. Ihr warmer Schleier bedeckt mein Gesicht, ich fühle ihre Geborgenheit. Die Empfindungen sind so viel klarer und reduziert auf das Wesentliche: Ein sanfter Rot-Ton bedeckt meine Lieder, die Gischt spritzt an meine Beine, ich ziehe den Sauerstoff in die Lungen ein und ich bin mir bewußt zu leben.

 

Hallo Angelina,

herzlich willkommen auf kg.de.

Sehr gelungen in deiner Geschichte finde ich die Übereinstimmung der Überschrift mit dem Schluss. Für einen "normalen" Menschen ist es schon sehr utopisch, einfach seinen Alltag zu verlassen und in den Süden zu fliegen. Wenn man auch manches Mal die Lust dazu hätte.

Zu deinem Schreibstil kann ich nur sagen, dass er mir gut gefallen hat. Vor allem hast du einen ziemlich großen Wortschatz, der die jeweilige Situation oder Person gut beschreibt.
Nur fehlte mir in der Geschichte eine gewisse Spannung. Als gegen Ende der Abteilungsleiter auftauchte, dachte ich, jetzt passiert etwas. Doch in dem Moment, wo sie einfach nach Hause gefahren ist und sich ein Video anschaut, ist die Spannung wieder verflogen.
Es ist mE nur der Ablauf des Tages geschildert, damit dem Leser klar gemacht wird, weshalb deine Prot ausbricht und in Urlaub fährt.

Auch sind mir eine Reihe von Fehlern aufgefallen, die ich dir gerne mitteilen möchte.

Er unterscheidet sich von seinen Sitznachbarn, indem er keine Haltung bewußt einnimmt, ...
bewusst

Sie muss unmittelbar vor mir angekommen sein, denn die meißten Leute stehen noch traubenweise vor den Türen.
meisten Leute

Von links nach rechts springend, versuche ich zu den letzten Wagons zu gelangen ohne gegen die aussteigenen Fahrgäste zu prallen.
Waggons; Komma nach gelangen

Ich renne zur nächst gelegenden Tür, ...
gelegenen Tür

Immernoch drängen sich Einige vor den Türen.
immer noch

Unbewußt hüpfe ich wieder von einem Bein aufs andere.
unbewusst

..., ich sehe nur eine Silouette, die in einer tierahnlichen Bewegung, Beine angewinkelt, Arme ausgestreckt, bereit mir in die Kehle zu beißen, ...
tierähnlichen; beissen

... wäre es nicht ein begrenzter Raum an dem irgendwann alles abbremst.
Komma nach Raum

Noch fünf Minuten um auf Toilette zu gehen, sein Büro widerzufinden und ...
Komma nach Minuten; wiederzufinden

Indem man um um seine Freiheit kämpft, wählt man seine Extistenz.
ein "um" streichen

Nirgendwo sonst spürt man die Zeit so bewußt vergehen und gleichzeitig niemals enden.
bewusst

Jeder mag seine philosophischen Höhenfluge entfalten, wenn er allein auf dem Klo sitzt.
Höhenflüge

Als ich näher komme, erkenne ich in den schwarzen, reflektierenden Gläsern mein Abbild wider.
wieder

"Ich muss mit ihnen reden!"
Ihnen

Ich glaube in den Boden zu sinken, denn er hat seine Stabilitat verloren, ist eine weiche formlose Oberfläche.
Stabilität

Ich schiebe meine Tasche in Position, lege meinen Kopf darauf und beobachte zwei Vögel die im Himmel ihre Bahnen fliegen.
Komma nach Vögel

Zusammenfassend hat mir die Art, wie du dich ausdrückst, sehr gut gefallen. Doch ist die Geschichte für mich etwas zu langatmig.

Viele Grüße
bambu

 
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Hi Bambu,

Danke für's Antworten.
Utopia ist allerdings nicht als Adjektiv gemeint, sondern in der ursprünglichen Bedeutung des "Nirgendwo-Landes". Die Überschrift bezieht sich deshalb nicht auf die Handlung, die zwar nicht gesellschaftskonform, aber trotzdem nicht unverwirklichbar ist: von der Arbeit abhauen, in ein Flugzeug zu steigen ist doch alles möglich, oder?
Nur die Annahme, dass es woanders entscheidend besser wäre, bedeutet Utopia.
Der Ausbruch war eigentlich schon etwas radikaler gemeint, als nur ein Kurzurlaub.

P.S. Danke für die Fehlerkorrigierung, werde sie gleichmal berichtigen.

 

also ich fine dies ein großartiges Stück Literatur!
Und die Szene mikt dem Film ist die allerbeste!
Fanny

 

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