Veteran
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Völlig bewegungslos (Rewrite)
Hannes zog seine Gummistiefel an, nahm den Hut von der Garderobe, den mit der breiten Krempe, und seinen Regenmantel. Auf dem hinteren Feld gab es noch einiges an Disteln, die er heraushacken musste, bevor seine Geschwister am Nachmittag auf den Hof kamen. Es war ein kalter und nasser Tag, nasser noch als alle der vergangenen drei Wochen. Was gut so ist, dachte er bei sich. In all den Jahren hatte er von seinem Vater nie Beschwerden über den Regen gehört. Und sich selbst ebenfalls nie beschwert, seit er mit der Landwirtschaft begonnen hatte.
Die Tür zum Waschkeller wurde geöffnet, Ruth betrat den Raum und reichte ihm ein Paar Handschuhe. „Hier, nimm die. Ich will nicht, dass du dich in ein paar Jahren über Gicht in deinen Händen beklagst.“
Er nahm die Handschuhe und steckte sie in seine Tasche. „Lange werde ich nicht brauchen. Höchstens zwei Stunden.“
Ruth begann, die Waschmaschine mit Laken zu füllen. „Komm nicht zu spät zurück heute Nachmittag. Damit du da bist, wenn die beiden hier ankommen.“
Hannes öffnete die Hintertür zum Garten und lehnte sich gegen den Rahmen. „Wegen mir brauchen sie gar nicht erst kommen, das ist sicher.“
„Aber du wirst hier sein.“ Ruths Stimme wurde fester. „Deine Schwester hat es viel Mühe gekostet, euch drei heute hier zusammen zu bringen. Und ihr müsst euch endlich mal wieder zusammen setzen. Ein Treffen unter Geschwistern ist jetzt wichtig. Wenn nicht für dich, dann wenigstens für Karin.“
Hannes zuckte mit den Schultern, trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. „Kann schon sein“, murmelte er und blickte durch den steten Nieselregen nach oben. Dunkle Wolken, so weit das Auge reichte.
Sie war jetzt etwa einen Monat her, die Beerdigung seines Vaters. Alle Verwandten waren erschienen, alle Nachbarn, dazu die meisten der übrigen Dorfbewohner. Ein vielrespektierter Mann war er gewesen, einer, der seine Zeit tagein, tagaus damit verbrachte, den Hof zu bewirtschaften. Wann immer er seine Arbeit erledigt hatte, half er den Nachbarn – beim Heu einholen, Zäune setzen, Schafe scheren. Wenn es um den Hof ging, steckte in ihm eine kompromisslose Entschlossenheit, und die war es, die ihn zu einem ebenbürtigen Einwohner des kleinen Ortes im Sauerland machte. Nicht mehr und nicht weniger hatte Hannes’ Vater erreichen wollen. Ein Leben lang hielt er seine Arbeitsmoral aufrecht, und nichts konnte ihn davon abhalten, sie in die Tat umzusetzen. Bis der Zucker kam. Erst erblindete sein rechtes Auge, drei Finger mussten nach und nach amputiert werden, schließlich ließ ihm das zunehmende Versagen seiner Nieren keine Wahl, und so hatte er Hannes die Leitung des Hofs übergeben.
Hannes konnte sich noch gut erinnern, wie es gewesen war, als er seinen Vater das erste Mal zum Disteln jäten aufs Feld begleitet hatte. „Ein Mensch hat nur dann einen Wert, wenn er auch einen Nutzen hat“, hatte er gesagt und ihm die Hacke gereicht. „Also nimm die und mach dich nützlich.“ Seine Geschwister waren auch dabei gewesen, doch Hannes war sich sicher, dieser Satz galt nur ihm allein. Er hörte seinen Vater ihn nie wieder sagen. Dennoch war er immer da gewesen, bei Arbeiten, die es zu verrichten galt, hallte er in ihm nach und half ihm oft, auch die noch so schwersten Aufgaben, die der Hof ihm stellte, zu bewältigen.
Er zog die Hacke von ihrem Haken und schwang sie über seine Schulter. Für einen Moment lang berührte ihn eine ihm unbekannte Sehnsucht, vielleicht auch nur die Art von gedämpfter Traurigkeit, die viele Menschen begleitet, wenn sie in dünn besiedelten Gegenden arbeiten. Er schob das Gefühl beiseite, zog den Kopf tief zwischen die Schultern und trat wieder in den Regen – so, wie er und sein Vater jahrelang gemeinsam in den Regen getreten waren.
Nach fünfzehn Minuten erreichte er das hintere Feld und begann damit, den Boden zu hacken und dabei die Wurzeln der Disteln zu durchtrennen. Er konnte das gut, erst den Strang mit einem Schwung zerschneiden, dann nach der Wurzel treten und sie dabei aus dem Boden ziehen. Und zur nächsten Distel, alles in einem Atemzug, eine nach der anderen. Wieder und wieder die gleichen Bewegungen, so sicher wie die Züge eines guten Schwimmers. Derweil dachte er daran, wie er damals mit Hermann und Karin gemeinsam das Feld jäten musste. Jede einzelne Distel hatten die beiden gezählt und abends in einem Buch notiert. Eine unendliche Strichliste, die das ganze Jahr lang geführt worden war. Nur so bewältigten sie ihre Aufgaben, indem sie einen Wettbewerb daraus machten. Für Hannes war es einfach eine der vielen Arbeiten, die das Erhalten des Hofs mit sich brachte. Kein Nonsens, keine Drama. Einfach eine Distel nach der anderen, bis ein Feld gejätet war.
Seine Geschwister hatten sich nie so gefügt wie Hannes. Ihre Pflichten erledigten sie, weil sie keine andere Wahl hatten. Sobald sie konnten, verließen sie den Hof – Hermann begann mit sechzehn eine Kaufmannslehre im nahegelegenen Ort, Karin heiratete mit neunzehn und zog in die Stadt. Aber Hannes war geblieben. Mit zwanzig richtete er sich die beiden kleinen Zimmer über der Garage ein, und nachdem er Ruth geheiratet hatte, baute er auf dem Grundstück nebenan ein kleines, einstöckiges Haus. Als seine Eltern Jahre später in die Stadt zogen, um in unmittelbarer Nähe guter medizinischer Versorgung zu leben, zogen er und Ruth in das alte Haupthaus um und der Hof war von da an sein eigener.
Hannes verrichtete zügig seine Arbeit. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er richtig gelegen hatte mit seiner Einschätzung. Knapp zwei Stunden waren vergangen, bis er das Ende des Feldes erreicht hatte. Zufrieden schwang er die Hacke über seine Schulter und machte sich auf den Heimweg. Die Dinge waren einfach so, wie sie sein sollten. Als er das Tor erreichte, schaute er kurz zurück. Erstaunt bemerkte er eine kleine Gruppe Disteln in der hinteren Zaunecke, die er übersehen haben musste. Seine Hand lag bereits am Riegel des Tors, die Finger waren gekrümmt und bereit, es zu öffnen, und er versuchte, das verbliebene Unkraut aus seinem Gedächtnis zu radieren. Doch dieser Impuls ließ schnell nach, wieder zog er den Kopf ein und ging zurück ins Feld. Erst nachdem auch die letzte Distel zerhackt war, kehrte er auf den Hof zurück.
Im alten Werkzeugschuppen fand er Karin. „Hannes“, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. „Ich bereite gerade alles vor. Einen Alten Schneider habe ich mitgebracht, dort im Korb. Und dahinter stehen Pinnecken.“ Hannes nickte.
„Oh, und guck mal!“ Sie griff hinter einen Stapel mit trockenem Holz. „Das habe ich gefunden.“ Sie bückte sich und hob ein unfertiges Vogelhaus hoch. Die Ecken waren abgerundet und mit Schmirgelpapier geschliffen worden. Lediglich das Dach fehlte noch. „Hat Vater das gemacht? Du könntest es doch mal fertig bauen.“
Hannes’ Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Ja, er hat noch daran gearbeitet, als ich ihn das letzte Mal hergeholt habe. Wo ist Hermann?“
Karin setzte den Kasten zwischen den drei Stühlen, die sie aufgestellt hatte, auf den Boden. „Er ist schon da, sagt nur noch schnell Ruth Hallo. Hier, setz dich, ich gieß dir ein Glas ein.“
Hannes setzte sich und nahm das Schnapsglas, das Karin ihm reichte. Der Korn war gekühlt, er schüttelte ihn leicht, genoss das eisige Gefühl in seiner Hand und ließ dann das Glas auf seinem Knie ruhen.
Das Scharnier der Holztür quietschte, und Hermann betrat den Schuppen. „Ziemlicher Scheißtag heute, oder?“, fragte er, nickte Hannes zu und setzte sich auf den gegenüber liegenden Stuhl. Hannes nickte zurück. „Beschwer’ dich nie über den Regen“, entgegnete er, „es kann Tage geben, da sehnst du dich nach ihm.“
Seine beiden Geschwister lachten. Karin trat hinter ihn und rieb ihm die Schultern. „Manchmal erinnerst du mich so sehr an Vater.“ Sie ging zur Werkbank und hielt Hermann eine Bierflasche hin. „Nun“, sagte sie, „es ist schön, dass wir drei uns mal wieder sehen.“ Die beiden Brüder nickten. „Ich glaube, Vater hätte das gefallen. Dass wir uns hier bei ihm treffen.“
„Prost!“, sagte Hermann und hob seine Flasche. „Auf den alten Mann.“ Die Geschwister taten es ihm nach. „Auf den alten Mann“, wiederholten sie.
Das Glas in Karins Hand schlug leise gegen ihre Zähne. Hermann und Hannes starrten auf das Vogelhaus zwischen ihnen auf dem Boden hindurch, als wäre es nicht da. „Hier hat er also immer gewerkelt“, murmelte Karin und zeigte auf die Werkbank. „Genau hier. All die Jahre.“
Hermanns Blick streifte kurz den Arbeitsplatz. Hannes sah nicht einmal auf. Schweigen erfüllte den Schuppen, das einzige Geräusch machte draußen der Wind, der leise durch die Dachziegel pfiff. Wie die Eckpunkte eines Dreiecks saßen sie da, verbunden, aber irgendwie auch getrennt.
Karin verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Jetzt kommt schon, sagt doch was. Deshalb sind wir schließlich hier. Keine Stille mehr. Stille hat uns bisher auch nichts gebracht.“
Unruhig rutschte Hermann auf seinem Stuhl hin und zurück. „Die Dinge scheinen gut zu laufen, Hannes, der Hof sieht gut aus. Hast du alles im Griff wie immer?“
Hannes nickte. „Alles im Griff.“ Hermann trommelte mit den Fingern gegen seine Bierflasche.
„Hermann.“ Karins Stimme klang frustriert. „Erzähl uns was von Vater.“
„Was erzählen?“, fragte er, lehnte sich vor und stützte einen Ellenbogen auf seinem Knie ab. „Vom alten Mann?“ Sein Blick wanderte zur Decke. „Ach ja.“ Er lächelte. „Wisst ihr noch, wie wir uns gegenseitig mit Eiern bewerfen wollten?“ Sein Blick wanderte von Karin zu Hannes. „Eine richtige Eierschlacht sollte es werden. Wir sind rein geschlichen, haben die Eier aus dem Kühlschrank genommen und dann nix wie raus.“
„Stimmt,“ fiel Karin ihm ins Wort. „Wir hatten uns gerade hinter dem Wassertank versteckt und wollten die Eier unter uns aufteilen, da stand er auf einmal hinter uns. Ich weiß immer noch nicht, wie der uns überhaupt gesehen haben konnte. Jedenfalls hat er uns ordentlich den Hintern versohlt, jeder kriegte ne Tracht mit dem Dreschschlegel.“
„Und sein Gesicht“, fuhr Hermann fort, „ich sehe es heute noch manchmal vor mir. Wie es immer anschwoll, wenn er wütend wurde. Ganz rot und dick.“ Der Regen war stärker geworden, er musste die Stimme anheben, damit die beiden ihn hören konnten. „Aber überstanden haben wir es dann doch immer. Dich hat oft am härtesten rangenommen, Hannes. Du konntest hinterher kaum laufen. Meistens gab es für dich noch ne Extraportion.“
„Ja, einmal war sein Hintern so grün und blau, dass Mutter zu weinen anfing“, fügte Karin hinzu. „Ich weiß noch genau, wie sie in der Küche stand und Abendbrot machte, mit einem Taschentuch in der Hand, mit dem sie sich ständig die Augen wischte.“
Hannes hielt ihr sein Glas hin und ließ sich einen neuen Schnaps einschenken. „So schlimm war es gar nicht, glaube ich. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass es so schlimm war.“
Hermann nahm sich auch eine zweite Flasche. „Doch, doch. Die Abreibungen vom alten Mann waren nie ohne. Immer wenn sein Gesicht rot wurde,...“
Hannes schüttelte den Kopf. „Dafür wird mir immer im Gedächtnis bleiben, wie er nie mit einer Arbeit aufhörte, bis sie beendet war. Glaube nicht, dass es etwas gab, das er nicht fertig stellte.“
„Da hast du Recht.“ Karin nickte. „Wisst ihr noch, wie es dunkel wurde und wir hatten das Feld noch nicht fertig. Er kam mit dem Traktor und ließ die Scheinwerfer an, damit wir die Disteln sehen konnten.“
„Ach geh, ich höre ihn heute noch: Ein Mensch hat nur dann einen Wert, wenn er auch einen Nutzen hat.“
Hannes nickte mir ernster Miene. „Er hielt den Hof immer tiptop in Ordnung. Er war sein Ein und Alles.“
„Du machst deine Sache auch sehr gut“, sagte Karin und klopfte ihm auf die Schulter. „Und du bist ihm so ähnlich.“ Hannes streckte ein Bein aus und trat mit der Stiefelspitze leicht gegen das Vogelhaus.
„Was ist das eigentlich?“ fragte Hermann. „Ein halbes Vogelhaus“, erklärte ihm Karin. „Er hat daran gebastelt, als er das letzte Mal hier im Schuppen werkelte. Ich habe Hannes schon vorgeschlagen, es mal fertig zu basteln. Hinten im Garten würde es bestimmt hübsch aussehen.“ Hermann lachte. „Es gibt also doch etwas, das der alte Bastard nicht zu Ende gebracht hat.“
Hannes zog den Fuß zurück unter seinen Stuhl. Sein Gesicht und sein Nacken fühlten sich plötzlich heiß an. Er starrte auf den Kasten und dann hinüber zur Werkbank, über der Hammer und Zangen hingen. Irgendetwas schwoll unter seiner Haut an. Irgendetwas unangenehmes. Und dieses etwas würde sich durch still sitzen, Schneider trinken und träge Gespräche nicht beruhigen lassen.
„Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie er mit dem Holzklotz nach Hannes warf?“ Karin verschluckte sich und schlug sich mit der Hand aufs Knie. „Stimmt, wie war das noch mal, was haben wir gemacht?“
Hermann strich sich durch den Bart. „Ich glaube, irgendwas für die Hunde. Eine Hundehütte oder so.“ – „Eine Stange für den Hühnerstall. Mit den Hunden hatte das nichts zu tun.“ Hannes Lippen pressten sich fest aufeinander. Er atmete schwer durch die Nase, ein und aus, als wäre er gerannt. „Genau, wir haben eine Stange gebaut.“ Karin stand auf. „Und ihr beide habt aufeinander rumgehackt.“
Hannes knirschte mit den Zähnen, so stark, dass er fühlen konnte, wie sich die Muskeln unter seinem Kiefer anspannten. „Hermann hat auf mir rumgehackt. Vater fuhr uns mehrmals an, wir sollten aufhören. Und als ich es einfach nicht mehr aushielt und Hermann in den Schwitzkasten nahm...“ – „Warf er den Klotz nach dir!“, rief Karin. Genau so war es. Ich hab zu weinen angefangen.“
Die leere Flasche zwischen Hermanns Knien polterte zu Boden, als er in die Hände klatschte. „Ja, das war ja das Lustige. Du hast geheult. Der Klotz hat Hannes’ Kopf nur um ein paar Zentimeter verfehlt. Aber geflennt hast du.“
Hannes runzelte die Stirn. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Scheit nach uns beiden warf. Wir haben uns gegenseitig geärgert.“ Hermann schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „den hat er definitiv nach dir geworfen. Er rief deinen Namen, als das Ding durch die Luft flog. Kannst du dir vorstellen, wie Mutter reagiert hätte, wenn er dich am Kopf getroffen hätte?“
„Ich würde Geld darauf wetten, dass das Holz seine Haare gestreift hat“, murmelte Karin. Sie setzte sich wieder und stütze die Ellenbogen auf ihre Knie. Das unfertige Vogelhaus lag immer noch zwischen ihnen. Alle drei sahen die perfekt geschnitzten Säulen, die glatt geschliffenen Seiten und das große Loch, dort, wo das Dach hätte sein sollen.
Hannes legte einen Arm über seinen Bauch und rieb ihn vor und zurück, als wollte er einen Schmerz wegreiben. Der andere hing schlaff herunter, baumelte lose gegen das Stuhlbein. „So hat er auch immer dagesessen“, flüsterte Karin.
Hermann nickte. Beide Geschwister mieden Hannes’ Blick. Stattdessen stand Karin auf, ging hinüber zur Werkbank, nahm den Hammer und eine Schachtel mit Nägeln. Beides legte sie neben das Vogelhaus. Als sie ein Stück Holz aufhob und es prüfend über die Öffnung hielt, strich sich Hannes mit der Hand durch die Haare und erhob sich aus seinem Stuhl. Für einen kurzen Moment stellte er sich vor, wie er den Fuß heben und stampfend das beinahe perfekte Werk seines Vaters zertreten würde. Stattdessen verließ er das Dreieck, öffnete die Tür und trat hinaus. Der Wind fuhr ihm unter sein Hemd, er blickte in den Himmel und verfluchte den Regen. Noch immer das Schnapsglas in der rechten Hand haltend stand er da, völlig bewegungslos.