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Vaters Geschenk
Plötzlich steht mein kleiner Bruder nackt auf dem speckigen Linoleum in der Küche und sagt keinen Ton. Abgemagert ist er. Die Rippen stehen wie Fischgräten hervor, jede einzeln zu zählen. Der Bauch ist so eingefallen, dass man das Gummiband eines Weckglases darum spannen könnte.
Er hat blaue Stellen an den Hüften, vermutlich, weil der Fußboden unter der dünnen Isomatte aus dem Supermarkt viel zu hat war. Seit Tagen hat er nur gelegen, geschwächt vom Fieber.
»Geht es dir besser?«, frage ich.
Paul klappert mit den Zähnen und hat Gänsehaut. Sein Penis ist so klein als wäre er gerade aus einem kalten See gekommen. Das wenige Schamhaar klebt an seinem Bauch und er riecht, als hätte er im Schlaf gepinkelt.
Auch das noch. Jetzt muss ich wieder zum Fluss und sein Bettzeug und seinen Pyjama ausspülen.
»Wo ist Mama?« Paul kann gar nicht so stark zittern, wie er friert. Trotzdem steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Wenn wir mehr Wasser hätten, würde ich ihn unter die Dusche schicken und ihn anschließend in ein flauschiges Frotteehandtuch hüllen, damit ihm warm wird. Bestimmt hat er noch Fieber.
Ich wringe den Feudel aus, schmeiße ihn auf den Küchenboden und lege Paul meine Wolljacke um die knochigen Schultern. Zwar steht in der Küche der Herd, doch die Wärme reicht nicht bis in die Zimmer. Wir haben November und man hat uns den Strom abgestellt.
»Mama ist noch nicht zurück. Sie wollte nach der Arbeit noch zum Basar.«
Paul lässt sich zum Küchenstuhl schieben. Der Geruch von Krankheit beißt in meiner Nase, aber ich setze mich, nehme meinen Bruder auf den Schoß und in die Arme. Sein Haar fühlt sich fett und stumpf an, als ich darüber streiche. Es müsste dringend gewaschen werden. Ein bisschen Glut ist noch im Herd, ein bisschen Holz liegt noch auf dem Stoß, und ein bisschen Wasser ist noch in dem Kanister. Aber das werden wir brauchen, wenn Mama zurück ist. Für die Suppe …
Holz ist knapp, seit alles nur noch aus wiederverwertbaren Pfandkisten verkauft werden darf. Manchmal schleiche ich in die Wälder, sammle morsche Äste und Zweige.
Pauls Stirn ist nicht mehr heiß. In meinen Armen zittert er ein bisschen weniger.
»Hast du die Zeitungen …?«, fragt er leise. Ich nicke nur.
Einmal in der Woche darf er die Lokalanzeiger in die Treppenhäuser legen. Einen Cent bekommt er pro Blatt. Geld, durch das wir wenigstens ab und zu mal Kohlen kaufen können.
Zur Bestätigung fahre ich ihm noch einmal kräftig mit der Hand durchs Haar. »Mach dir keine Sorgen.«
Man gewöhnt sich daran, zu rechnen, sich mit anderen auf den Basaren um das zu prügeln, für das keiner mehr bezahlen möchte. Nur Paul können wir nicht losschicken. Mit seinen zwölf Jahren ist er nicht kräftig genug. Ich bin etwas stärker. Aber Mama ist am erfolgreichsten. Deshalb geht meistens sie über die Märkte, nachdem sie für einen Rubel die Stunde und einen Liter Milch pro Tag die Fußböden einer Molkerei putzen darf.
»Ich hatte einen merkwürdigen Traum, als ich krank war«, sagt Paul und seine Stimme ist immer noch belegt von den Tagen, die er auf der alten Matratze verbracht hat. »Papa ist zurückgekommen. Und er hat mir aus dem Himmel einen Bleistift mitgebracht. Den hat er mir geschenkt.«
»Aus dem Himmel?«
Paul rutscht unruhig auf meinem Schoß hin und her. Die Wolljacke verrutscht und er sitzt mit seinem nackten Hintern auf meiner letzten sauberen Hose. Die Beine nimmt er zur Seite, damit er mich anschauen kann, ohne den Kopf verrenken zu müssen.
»Weißt du nicht, dass Papa tot ist?«
»Papa ist auf dem Mond.« Wieder fahre ich ihm mit der Hand durchs Haar. »Er baut dort Swimmingpools für die reichen Leute und bestimmt wird er uns bald Geld schicken. Oder Flugtickets, damit wir nachkommen können.«
»Nein.« Paul schüttelt den Kopf. »Papa hat sich beschwert, weil sie ihn nicht bezahlt haben. Und da haben sie ihn erschossen. Weißt du das wirklich nicht?«
»Hast du das auch geträumt?«
Vor sechs Wochen hatte Papa den Befehl von der Agentur Eigenverantwortung bekommen. Für eine Baufirma sollte er Fliesen in Swimmingpools auf dem Mond verfugen. Wenigstens für einen Winter konnte er so Arbeit finden. Also hat er nicht nur die Chance nach so vielen Jahren, sondern auch seinen alten Lederkoffer gepackt, den klammen Herbst mit der Schwerelosigkeit getauscht, die triste Hoffnungslosigkeit mit Enthusiasmus und versprochen, uns so bald wie möglich in die Sonne des Lebens zu holen.
Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Kein Überweisung, kein Brief, keine E-Mail, nicht einmal eine Postkarte.
»Nein«, sagt Paul. »Das habe ich nicht geträumt. Ich habe nur geträumt, dass Papa zurück aus dem Himmel gekommen ist und mir einen Bleistift geschenkt hat.«
»Du hattest Fieber. Da träumt man manchmal so wirres Zeug.«
Paul steht auf, zieht die Wolljacke vor seiner Brust zusammen und geht an die Schublade des Küchentischs.
Ich begebe mich zurück zum Eimer mit dem kalten schmutzigen Wasser, tauche den Feudel wieder hinein, knie mich hin und wische den Boden.
»Lass das«, sage ich zu meinem Bruder, denn aus dem Augenwinkel sehe ich ihn mit einem Bleistift auf der Tischplatte zeichnen. Er hört nicht auf mich. Unbeeindruckt kratzt er mit dem Stumpen über das Holz, beißt sich dabei auf die Lippe, Schweiß tritt ihm auf die Stirn und die Zähne klappern wieder schneller.
»Du sollst das lassen. Ich muss das doch alles wieder sauber wischen.« Genervt stehe auf, gehe zu meinem Bruder an den Tisch und sehe auf die Zeichnung.
Grau senkt sich ein tiefer Krater in das Holz, schraffiert, wie Beton. Ein Erdwall ist neben dem Loch aufgehäuft, so lebendig, dass ich glaube, die Regenwürmer darin riechen zu können. Schaufelbagger fahren über den geschundenen Boden und ein Zementwagen fährt mit dem Heck an den Rand der Grube.
»Hast du das alles gerade erst gezeichnet?«
Paul antwortet nicht. Er kratzt weiter konzentriert den Bleistift über den Tisch. Ich sollte böse sein, aber ich kann es nicht. Es ist, als fände der Bleistift seine Farben von selbst, als würden die Räder der Autos und die Zementmaschine auf dem Rücken des Lasters sich drehen. Und aus der Tiefe des Kraters kann ich die Stimme meines Vaters hören.
»Hilfe!«
»Sie haben ihn in den Pool gestoßen und den Zement über ihn geschüttet.« Paul hält in der Zeichnung inne, löst seine Zähne von den Lippen, wischt sich den Schweiß von der Stirn und ein paar Tränen aus den Augen. »Aber er ist in den Himmel gekommen. Es ist nicht schlimm.«
Woher nimmt er so etwas? Hätte man uns nicht längst benachrichtigt, wenn Papa etwas passiert wäre?
»Wann soll das passiert sein?« Ich beuge mich über den Tisch, stütze mich auf der Platte ab und betrachte abwechselnd die Zeichnung und das Gesicht meines Bruders. So ernsthaft wie er aussieht, habe ich keinen Zweifel, dass er daran glaubt.
»Als ich krank wurde«, antwortet Paul. »Aber jetzt geht es ihm gut. Deshalb hat er mir den Bleistift geschenkt und mir gesagt, dass ich wieder gesund werden kann.«
Ich höre seinen Magen knurren. Vielleicht ist es ein aus Hunger und Fieber geborener Albtraum, von dem er mir erzählt. Hatte er nicht selbst von einem merkwürdigen Traum gesprochen?
Mein kleiner Bruder zieht die Wolljacke wieder fester zu. Ich gehe um den Tisch herum, stelle mich hinter den Stuhl und lege meine Hände auf seine Schulter.
»Du hast geträumt. Du hast den Bleistift doch aus der Schublade geholt.«
Mehr mich als ihn möchte ich davon überzeugen. Das Bild auf dem Tisch ist so echt, dass der Zement immer fester wird. Ich habe Paul noch nie so zeichnen sehen. Und liest man nicht immer wieder von Menschen, die so sensibel sind, dass sie spüren, wenn etwas Schreckliches passiert?
Hatte mein Bruder nicht versucht, unseren Papa am gepackten Koffer festzuhalten, hatte er ihn nicht weinend beschworen, nicht zum Mond zu fliegen? Es könnte doch möglich sein, dass er da schon eine Ahnung hatte. Eine Ahnung, die wir nur als Ausdruck seiner Bindung zu seinem Vater gesehen haben. Als wir versucht hatten, ihn zu trösten, hatte er uns als Lügner beschimpft und noch mehr geweint.
»Ich habe ihn im Traum dort hineingelegt.« Sein Blick ist fest wie der Zement auf dem Bild auf der Tischplatte, seine Stimme flehentlich wie die Hilferufe meines Vaters in der Grube.
»Du glaubst mir nicht.«
Und wie ich ihm glaube. Gegen alle Vernunft glaube ich ihm. Das Bild macht mir Angst. Ich muss in die Realität zurückfinden, heraus aus dem bösen Schein eines Albtraums auf dem Küchentisch. Ich muss mich wieder zum Feudeleimer begeben, die Flecken vom Linoleum putzen und am besten die Tischplatte gleich mit, möglichst, bevor unsere Mama, hoffentlich mit Abfällen, vom Wochenmarkt zurückkommt.
»Ich glaube dir«, sage ich und sehe an seinem verzogenen Mund, dass er mir das nicht abnimmt.
»Ich sage die Wahrheit.«
Ich wringe den Feudel aus und gehe damit zum Tisch.
»Kannst du dich anziehen und dir eine alte Zeitung zum Malen nehmen?«
Ohne Murren steht Paul auf und geht in unser Zimmer. Er meckert auch nicht, als ich den Lappen über die Zeichnung wische. Kurz erschrecke ich, denn einen Moment lang sieht es aus, als fließe das Wasser in einen blau gekachelten Pool, unter dem mein Vater ertrinkt.
Gott sei Dank hat Paul das nicht gesehen. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, hat Paul eine Unterhose und ein T-Shirt an, die Wolljacke darüber. Er ist immer noch barfuß.
»Ich habe Hunger.«
»Mama kommt bestimmt bald.«
Er kramt in einer alten Kiste neben dem Kohleherd, zerrt sich eine Zeitung heraus und legt sie auf den noch etwas feuchten Tisch. »Kannst du nicht schon Feuer machen? Dann geht es schneller, wenn Mama wieder da ist.«
»Wir haben nur noch sehr wenig Holz.«
Den Bleistiftstummel schon wieder in der Hand, beugt er sich über die Zeitung.
»Warte.«
Mit schnellen und harten Strichen malt er etwas über die Buchstaben. Ich könnte wahrscheinlich vor lauter Wörtern nichts sehen, aber wir haben kein Zeichenpapier, nur die paar Schulhefte, die wir dringend für den Unterricht brauchen.
Zeitungen bleiben immer ein paar übrig von der wöchentlichen Tour meines Bruders. Die muss er behalten, obwohl es illegal ist. Wenn er sie zurückgibt, wird dem Verlag die Ration an Papier gekürzt.
Manchmal, wenn wir Kleister haben, mache ich uns Briketts daraus. Die brennen länger als das nur zusammengedrückte Papier.
Ich kippe das schmutzige Wasser aus dem Eimer in die Erde der Pflanzen auf der Fensterbank und frage Paul, ob er zur Toilette müsste. Es ist günstiger, mit gebrauchtem Wasser zu spülen.
Er schüttelt den Kopf und reißt seine Zeichnung aus der Zeitung, trägt sie vorsichtig zum Herd, öffnet die Klappe, schmeißt sein Bild hinein und setzt sich auf den kalten Boden.
Den Herd lässt er nicht aus den Augen, Rauch steigt in meine Nase, doch nicht der beißende Geruch verbrennender Druckerschwärze, sondern das warm knisternde Aroma eines Kiefernscheits.
Ich schnuppere. Es kann unmöglich sein, was ich da sehe und rieche, aber der Blick in den Ofen zeigt mir ein grell loderndes Feuer. Ein behaglicher Duft strömt durch die Wohnung.
»Das ist das Geschenk von Papa«, sagt Paul, als ich ihn entgeistert ansehe. »Er konnte uns ja kein Geld mehr schicken, weil sie ihn vorher ermordet haben. Aber den Stift.«
Ich knie mich hinter meinen Bruder, nehme ihn in die Arme. »Paul. Papa ist nicht tot.« Er drückt mich von sich, springt auf und rennt zu dem Zeitungsbogen auf dem Tisch.
Hektisch malt er etwas, schaut dabei immer wieder zur Tür und zu mir. Langsam nähere ich mich ihm wieder, stelle mich hinter ihn, sehe das schüttere Haar unseres Vaters, seine vollen Lippen, das Muttermal an seinem Kinn und das gerippte Unterhemd, das er immer trug. Ich sehe die Haare an seinen Armen und die groben Poren seiner Haut. Doch die Augen sind nicht, wie ich sie in Erinnerung habe. Sie sind stumpf und leblos. Auf einmal fängt Paul an zu weinen, dreht sich um, presst sein Gesicht in meinen Magen. Er schluchzt, holt immer wieder Luft, zittert.»Ich kann ihn nicht wieder lebendig malen.«
Hilflos streichle ich ihm über den Kopf. Was soll ich ihm sagen? Wenn Mama doch bloß schon vom Basar zurück wäre.
»Es ist gut Paul. Wein dich aus.«
Wir verharren, als hätte jemand die Welt angehalten, den Kreislauf des Lebens oder wenigstens die Zeit gestoppt. Er weinend an mich gelehnt, ich mit der Hand in seinem Haar, bis mein Bruder sich langsam beruhigt.
Mein T-Shirt klebt feucht von Pauls Tränen an meinem Bauch. Auch mein Magen knurrt. Meine Mama müsste längst zurück sein. Vielleicht hat sie auf dem Basar nichts bekommen und klappert die Läden ab, fragt nach dem, was sich die Kinder für ihre Kaninchen und Meerschweinchen holen.
»Du hast auch Hunger?«, fragt Paul.
»Ja.«
»Lass uns etwas zu essen machen.«
»Wir haben nichts mehr da.«
»Lass uns Mama überraschen, wenn sie kommt.« Er dreht sich um, blättert die Seite der Zeitung um und malt ein Stück Fleisch über die Buchstaben.
Aus der Klappe unter dem Herd holt er eine Pfanne, stellt sie auf die Ringe über dem Feuer. Die bemalte Zeitungsseite trägt er vorsichtig zum Ofen, formt einen Ausguss, aus dem er ein paar Tropfen Öl in die Pfanne gießt, bevor er das Fleisch ausreißt.
Ich habe keine Lust mehr, mir Gedanken über Illusionen und Träume zu machen. Zu lecker riecht das warme Fett, zu verlockend brutzelt es in der Pfanne. Der Duft von Thymian, Salz und Knoblauch zieht durch die Küche. In einen Topf hat Paul kleine Rosenkohlschnipsel in Wasser geschüttet, in einen anderen buchstabenbedruckte Kartoffeln. Und ich schwöre, ich kann die Mahlzeit schon in der Luft schmecken, wenn ich Mund und Nase öffne und schlucke.
Ich will mich dem Traum hingeben, decke den Tisch, frage Paul, ob er mir eine Kerze und einen Strauß Blumen zeichnen kann. Eifrig macht er sich an die Arbeit und der Geruch von Hyazinthen verbreitet sich.
Mein Bruder füllt die Teller, wir sitzen vor dem Mahl, fassen uns an der Hand und beten.
Jetzt fehlt nur noch Mama …
Die von Bernadette zur Verfügung gestellten Wörter sind: Bleistift, Magenknurren, sensibel, Linoleum, schnuppern