Verdammnis
Mit atemberaubender Geschwindigkeit flog die Verdammnis über die Wälder des Nordens, ausgeschickt von einem verspielten, grauenhaften Gott. Völlige Stille lag über dem Land, keine Windböe schüttelte die Bäume, keine Vögel schwebten durch die Lüfte, das Wild traute sich nicht aus den Höhlen und, auch wenn es weder zu sehen noch zu hören war: Auch der Tod traute sich nicht aus seinem Reich. Die Sonne brannte vom Himmel und beschien den Flug der, in buntesten Farben glitzernden, Verdammnis. Ihren Regenbogenschweif hinter sich herziehend, überzog sie das Land mit ehrfürchtigem Schweigen, einer erstaunten Atemlosigkeit, als alles Leben die Luft anhielt und sich vor grausigem Schrecken in die Niederungen seiner Unbedeutsamkeit duckte.
Zielstrebig hielt die Verdammnis, der windlose Sturm des Wahnsinns auf einen kleinen, unscheinbaren Punkt im Nordosten zu, streifte auf seinem Weg die zitternden Bäume, die ob seiner Berührung zu weinen anfingen, tastete sich seinen Pfad durch das Dickicht der Wolken, der herbstlichen Nebelschleier und schlich lautlos durch die weiten Lichtungen, die sich plötzlich in den vorher dichten Wald gedrängt hatten. Eine dieser Lichtungen hatte die Verdammnis im Blicke, tief in ihre unscheinbaren Augen eingebrannt, die nichts wieder losließen, was sie einmal gefasst hatten. In saftigem Grün stand die Lichtung noch, umgeben von immergrünen Nadelbäumen, wie eine Insel inmitten des Meeres der herbstlichen Tristesse, als erwarte dieser Flecken Erde etwas besonderes, etwas außergewöhnliches, etwas, dass es wert war, die Ordnung der Jahreszeiten durcheinander zu wirbeln. Was hatte der Gott, auf dessen Worte diese Verdammnis hörte vor? Und die Verdammnis selbst; wen zu holen war sie gekommen? Kein Leben auf der Lichtung. Kein Tod. Fürchterlicher noch.
Luthor war erschöpft, zwei Tage Fußmarsch in voller Rüstung, den Rucksack auf dem Buckel, Zelt und Waffen in und unter den Armen, hatten ihn völlig ermüdet, und die Männer um ihn herum waren nicht minder ermattet und schleppten sich mehr voran als dass sie liefen. Diesen Anblick bot die gesamte fürstliche Armee, wie sie sich in erbärmlichem Zustand nach Norden schleppte. Die letzte Rast lag einen halben Tag zurück, dazwischen nur Marschieren, Marschieren und immer weiter, so weit die geschundenen Füße ihn trugen. Und sie trugen ihn weit, sie mussten ihn weiter tragen. Zu viel stand auf dem Spiel. Der unaufhörliche Regen der letzten Tage hatte den Waldboden vollkommen aufgeweicht, an manchen Stellen versank man knietief im Schlamm, so dass es die doppelte Anstrengung kostete, die halbe Strecke zurück zu legen. Durchnässt waren die Leinentücher, die Luthor um seinen Körper gewickelt hatte, aber schlimmer noch der Lederpanzer, der regendurchtränkt an seinem Brustkorb hing und ein enormes Gewicht entwickelt hatte, dass ihm schwer zu schaffen machte. Die Leistungen seiner Kameraden waren übermenschlich, Schweiß, Regen, Blut, und Matsch entwickelten einen über alle Maßen Ekel erregenden Gestank, dazu der Schleim im Mund, der bittere Geschmack auf der dürstenden Zunge, die froh war, wenigstens ein paar Regentropfen aufzufangen und der Kot und Urin der Pferde und selbst der Hundertschaften von Männern, die in voller Kriegsmontur nicht mal das Nötigste mehr verrichten konnten. Es war elend. Elend und erbärmlich.
Damit war nicht zu rechnen gewesen, als ihn vor drei Tagen der Ruf des Fürsten erreichte. Krieg war nichts neues für Luthor, ebenso wenig wie Hunger und Krankheit und tausend andere Arten zu Tode zu kommen. Es war nunmehr das dritte mal, dass man ihn zur Verteidigung seiner Heimat ins Feld schickte, doch etwas dermaßen wahnsinniges war ihm noch nicht untergekommen. Die Verwirrung in den Gesichtern der Offiziere war überdeutlich, selbst der Fürst, ein kluger und gewitzter Mann sah aus, als sähe er nichts anderes als Gespenster. Und genau da lag der Hund begraben. Auf keinen einzigen Gegner war das Heer im zweitägigen Fußmarsch getroffen, nur auf niedergebrannte Dörfer, in den Boden gestampfte Gasthäuser und erschlagenes Wild. Flammen züngelten nahezu überall, gewannen in allen Ländereien den Kampf gegen den nassen Wolkenbruch; dort wo noch mehr als bloße, matschige Asche den Boden bedeckte, war das Flammenmeer unaufhaltsam, verschlang das Grün und ebenso die Tiere und, weiß Gott, was sich noch alles im Busch aufhielt. Der Regen schien machtlos, prasselte ununterbrochen auf die Feuerwände und vermochte doch absolut nichts auszurichten; unnatürlich resistent war das Feuer, brannte dem Land die Seele aus und das Gesicht hinfort.
Eine gewaltige Armee musste nötig sein, solches Grauen zu verursachen, solche Zerstörung anzurichten, ja, solche Verdammnis über die blühenden Lande zu bringen. Und doch war nichts zu sehen, die Späher kehrten erschöpft, aber ohne neue Kunde zurück. Aus der Marschrichtung kam keine Menschenseele, niemand der von dem Schrecken berichten könnte, es war alles wie ausgestorben und nur Feuer und Regen durchbrachen die ansonsten vollkommene, unheimliche Stille.
Ein ohrenbetäubender Schrei riss Luthor aus seinen Überlegungen. Er hob seinen, seit langem vor Müdigkeit hängenden Kopf, und versuchte einen Blick durch die Fluten des Regens auf den Ort zu erhaschen, von dem der Schrei gekommen war. Einer der Männer aus dem Regiment, dass vor ihnen marschierte kam mit schreckverzerrtem Gesicht nach hinten gestolpert, brüllte ihnen einen stummen Schrei zu und deutete im Fallen auf den Himmel, der seit Tagen nichts außer dunklen Wolken zeigte. Doch als Luthor seinen Blick nach oben richtete, zuckte er instinktiv zusammen, seine Gesichtszüge verkrampften und er brach in ein erbärmliches Weinen aus, ohne sagen zu können warum.
Über ihn und seine Kameraden flog ein unbeschreibbarer Farbstreif, dessen schillernde Farbtöne ständig zu wechseln schienen, in atemberaubendem Tempo von links nach rechts wanderten, Überschläge und Rollen machten, und so die seltsamsten, unnatürlichsten Muster in die Regenwand zeichneten. Die Farben brachen sich in den Regentropfen und vollführten so einen grotesken Tanz, einen infernalischen Tanz, denn das blutige Rot der flackernden Flammen tauchte das Farbspiel in einen höllischen Glanz, aus dem es kein Entrinnen gab.
Von unmenschlichem Grauen gepackt warf sich Luthor auf den Boden, bedeckte sein Gesicht vor wahnsinniger Angst mit seinen brennenden, schmutzigen Händen und versuchte verzweifelt, den jagenden, nach ihm greifenden Farben zu entkommen. Ohne den Grund dafür zu kennen, war Luthor auf einmal klar, was hier vor sich ging. Die Farben gehörten nicht zu einem verirrten Regenbogen, sondern waren geschickt worden, ihn zu holen, ohne auf Tod oder Leben zu achten, ihn zu holen, ohne Rücksicht, ohne Gnade, ihn zu holen, ihn zu verdammen. Er schrie auf, stimmte ein in den Chor seiner Kameraden, den Chor der Verdammten, und brüllte seine Seele aus sich heraus. Zitternd versuchte er sich aufzurichten, schaffte es mit ungeheurer Kraftanstrengung auf die, im Matsch versinkenden Knie, und warf seine Arme in Richtung Himmel, der zwischen dem bizarren Farbspiel nur noch in Form ewiger Schwärze zu erahnen war und begann zu beten, sein letztes Gebet, sein Klagelied an den Gott, der ihnen das antat, der sie verdammt hatte. Dabei sah er mit flackerndem Blicke zu allen Seiten, sah seine Kameraden im Dreck liegen, blutend und schreiend und klagend.
Und dann brach die Hölle los. Aus dem wogenden Flammenmeer vor Luthors sterbendem Regiment brachen schwankende Gestalten in grausamer Langsamkeit. Erst tauchten nur die Umrisse auf, schrecklich verzerrt, unmenschlich auf eine nicht zu beschreibende Weise, und einen fürchterlichen Gestank vor sich her schickend, der noch den Geruch des kochenden Blutes überdecken konnte, das Luthor aus allen Körperöffnungen lief. Die Schatten wankten näher, kämpften sich durch Feuer und Regen, bis sie schließlich vor den verängstigten Männern auftauchten. Bestialisches Geschrei übertönte die unmögliche Szenerie, als die Gestalten sichtbar wurden. Tod. Tot waren sie, die sie vor ihnen standen. Skelette, Zombies, Knochen, verwesendes Fleisch, das vor Luthors Augen so schnell verrottete, dass er zuschauen konnte. Farben umspielten die leblosen Körper der Toten, tanzten auf den klappernden Schädeln, durchzogen die Hohlräume zwischen den Gebeinen, fraßen die letzten, stinkenden Klumpen Fleisch von den Rippen und trieben ihre Opfer auf die, vor Furcht gelähmten Männer zu.
Luthor warf allen unnötigen Ballast in einer Bewegung zu Boden, zog sein Schwert und stimmte ein Todesgeheul an, dass von seinen Gegenübern hätte stammen können. Erschrocken über seine eigene Stimme verlor er die Macht über seine Sinne, taumelte hilflos nach vorne und jagte seine Klinge unbeholfen in die Rippen der regungslosen Gestalt vor ihm. Klappernd fiel sie in sich zusammen, ohne Gegenwehr zu leisten. Luthor stürzte sich voller Verzweiflung auf den nächsten Gegner, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Das Schwert zertrümmerte die Schulterblätter, ein zweiter Hieb auf das, in sich zusammenfallende Etwas, ließ die Wirbelsäule in der Mitte zersplittern. Untod. Nicht tot, untot waren die Angreifer. Immer mehr Untote drängten auf ihn ein, kamen näher, wurden erschlagen, um sofort von ihren Nachfolgern ersetzt zu werden - ein Kampf ohne Ende. Ein aussichtsloser Kampf gegen die Verdammnis.
Die Verdammten, seelenlosen Monster leisteten keinen Widerstand, sie standen in fürchterlicher Ruhe vor Luthor, hoben ihre Waffen nicht, starrten ihn nur mit wahnsinnigen Blicken aus flackerndem Nichts an. Warum wehrten sie sich nicht, schoss es ihm durch den Kopf, doch hatte er nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken. Tausend Fragen hämmerten in seinem Schädel, doch konnte er sie nicht beantworten, konnte nicht mehr darüber nachdenken, nur die Schmerzen fühlen, die es ihm bereitete.
Blut, unvorstellbar heiß, rann ununterbrochen seinen Körper hinunter, verbrannte das Fleisch, ließ es kochen, qualmen, schwarz werden, bis es verkohlt war und von seinen Knochen fiel. An anderen Stellen verrottete das Fleisch, als würden hundert Jahre in einer Sekunde ablaufen, als rannte er auf seinen Tod zu, sein leben ohne Beachtung hinter sich lassend. Verfaulte Fetzen hingen an seinen, langsam sichtbar werdenden Rippen, Kleidung und Rüstung verglühten schneller als der Regen es löschen konnte. Tropfen bunten Wassers fielen zischend auf seinen Brustpanzer und verdampften, trieben einen ekelhaften Gestank in die verfaulende Nase und verätzten Luthors Rachen, so dass er anfing zu würgen und sich schließlich erbrach, seine Innereien auskotzend, Galle, Spucke und Blut auf den aufgequollenen Boden speiend. Blut, Regen und ätzender Dampf schlugen Blasen in seinem Gesicht, ließen sie platzen und giftigen Eiter herausquellen, der ihm in die Augenhöhlen lief und ihm die Augen förmlich ausbrannte.
Die Gestalt, die einmal Luthor war, stürzte auf die Knie, ließ die Waffe fallen und ergab sich ihrem Elend. Luthor war der Verdammnis wehrlos und endgültig ausgeliefert. Sein Körper lief an ihm hinab, legte seine Knochen frei und entblößte einen schimmernden, in weißen Glanz getauchten Schädel, der auf eine unbeschreibliche Art zu Grinsen schien, als würde er größtes Gefallen an seinem Leid, seinem Sterben finden. Feuer umschlang sein Skelett, ließ es in Flammen aufgehen und brennend ins Verderben taumeln. Die Regenwand mischte sich in die Feuerzungen, schien sich mit ihnen geeinigt zu haben, zusammen das Opfer zu bedecken, zu quälen, zu begraben mit Leid und Finsternis.
Luthor schrie, schrie immer weiter, unaufhörlich, als wäre er in seinem Ruf nach Erlösung gefangen, und hörte doch nichts mehr, seine Stimme war erstorben. Sein Gehör nahm nur noch das Zischen und Prasseln, das Würgen und Klappern um ihn herum auf. Er versank in einem Abgrund, in den ihm seine Sinne nicht folgen konnten. Sein Augenlicht blieb oben, sah im letzten Augenblick noch die sich windenden Männer, wie sie sich von ihren faulenden Körpern lösten, sah das letzte Leid der Lebenden, nahm Abschied von ihnen und zerbrach.
Und so fiel Luthor, tiefer, immer tiefer, auf die Höllengrube zu, ohne Aussicht auf ein Zurück, ohne Hoffnung auf Erlösung, ohne Hoffnung, ohne Hoffnung, ohne Hoffnung...
Und an der Stelle, an der einst ein stolzer Mann, der sich Luthor nannte, gestanden hatte, erhob sich eine Kreatur lebloser als die Lebenden und doch lebendiger als die Toten, ein Zwischending, dass nicht sein sollte, nicht sein darf, ein Zwitter zwischen Sein und Nicht Sein, ein Untoter, ein Skelett, ein Spiegelbild der sinnlos Lebenden, ein Hohn auf die Fröhlichkeit, ein Hohn auf den Verstand, auf den Trieb, ein Hohn auf alles, was sich Mensch nannte, auf alles, was menschlich war und ein Hohn auf den Tod, dem er seine Seele verweigert hatte.
Die Verdammnis lachte grässlich, verspottete ihre ignoranten Opfer, freute sich über die Ahnungslosigkeit des Tieres Mensch, und beendete ihre Jagd. Zog ihre Farben zurück, holte ihren gefährlichen Schweif wieder ein, erlöschte die Feuer, brachte das Rauschen des Regens zum Schweigen und wand ihren Blick zurück, in die Richtung, aus der man sie gesandt hatte. Ihr Auftrag war erfüllt. Der Mensch war gefallen. Himmel und Hölle hatten verloren. Die Verdammnis war siegreich.
[Beitrag editiert von: falk am 03.03.2002 um 16:47]