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Verflüchtigt

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16.03.2015
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Verflüchtigt

Das Bettlaken neben mir ist kühl. Ich greife nach dem Kissen, rieche daran. Ihr Duft hat sich verflüchtigt. Ich fahre mit den Fingern durchs Haar, streife Boxershorts über und taumle an Wäschebergen und leeren Flaschen vorbei in die Küche.

Tageslicht zwängt sich durch die Ritzen der Jalousie, blendet mich. Ich hole ein Pils aus dem Kühlschrank und öffne es am Wandflaschenöffner, den sie mir von einer Geschäftsreise mitgebracht hat. Der kleine Auffangbehälter quillt über, der Kronenkorken fällt herunter und kullert über das Linoleum. Ich kicke ihn zur Seite, nehme einen großen Schluck und setze mich an den Tisch.
Auf der Plastikdecke, neben den Tassen, aus denen wir Lambrusco trinken, liegen Fotos. So, wie Marianne sie ausgebreitet hat.
Wir stehen an der Reling und lächeln in die Kamera. Weiträumige Außenkabine, weiche Kingsize-Betten. Der Steward hat uns Champagner und Lachs in Weinsauce gebracht.
Auf den nächsten Fotos: Landgänge. Piccadilly Circus, ein Doppeldeckerbus, Champs-Élysées, wir beide vor dem Eiffelturm. Das letzte Foto zeigt uns Arm in Arm auf der obersten Besucherebene. Es ist scharf genug, ich sehe die feinen Fältchen um Augen und Mund.
Ich drehe das Bild um, trinke den Rest Bier und streiche über meinen Stoppelbart. Tatsächlich habe ich gedacht, das da oben sei der richtige Ort.

Die Tage danach verbrachten wir bei mir, standen nur auf, wenn wir ins Bad mussten oder der Lieferdienst schellte. Als sie weg war, mit Handtasche und Aktenkoffer, nahm ich den Bus in die Stadt und buchte eine Kurzreise nach Paris, Eintrittskarten für den Eiffelturm inklusive. Über das Wochenende, an dem sie Geburtstag hat. Nächstes Wochenende. Unterwegs lieh ich mir Geld bei Freunden und ging zum Juwelier. Während ich hin und weg war, kehrte sie zurück, reihte Bild an Bild und ließ den Zweitschlüssel meiner Wohnung ebenfalls da.

Ich öffne eine weitere Flasche, ziehe die Jalousie höher und blinzle durch die Lamellen. Dort, auf dem Bürgersteig, parkt sie ihren Mercedes, wenn sie mich zwischen ihren Terminen oder abends überrascht. Ich überlege, ob ich versuchen soll, sie anzurufen oder ihr eine weitere Nachricht schicke.
Nächstes Wochenende ist noch weit entfernt.
Mir bleibt nur Bier. Die Tickets und die kleine Schachtel mit dem Ring, die ich schon in meine Reisetasche gepackt habe.

 

Hallo GoMusic,

du schreibst:

„Hm, abgeklärt; nicht so gut, dass das so rüberkommt. Ein wenig Sehnsucht / Verlangen sollte schon in geringer Dosis vorhanden bzw. erkennbar sein. Schließlich hat er ja was "Großes" mit der Dame vor, die Reise gebucht und den Ring gekauft. Ist das nicht so etwas wie Sehnen und Bangen, auch wie er auf sie wartet und aus dem Fenster lugt?“

Dieses Planen ist keine innere Zerrissenheit, kein Selbstzweifel (so in der Art: Genüge ich ihr? Will sie mich wirklich?). Das könnte an dieser Stelle

„Ich überlege, ob ich versuchen soll, sie anzurufen oder ihr eine weitere Nachricht schicke.“

durchaus deutlich werden.


„Netter Kunstgriff im Sinne von gelungen oder eher Klischee?“

Nein, nein! Kein Klischee, ein schöner Gegensatz zu „Lachs“ und Kulturbeflissenheit. Eine Konstante (die einem bestimmten Stereotyp entspricht) im Gegensatz zu den eher aufgesetzten Verhaltensweisen.

Wünsche dir ein erfolgreiches neues Jahr,

Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

Dieses Planen ist keine innere Zerrissenheit, kein Selbstzweifel (so in der Art: Genüge ich ihr? Will sie mich wirklich?). Das könnte an dieser Stelle
„Ich überlege, ob ich versuchen soll, sie anzurufen oder ihr eine weitere Nachricht schicke.“
durchaus deutlich werden.
Ah, prima. Dann hat das wohl doch einigermaßen funktioniert.

Kein Klischee, ein schöner Gegensatz zu „Lachs“ und Kulturbeflissenheit. Eine Konstante (die einem bestimmten Stereotyp entspricht) im Gegensatz zu den eher aufgesetzten Verhaltensweisen.
Schön, dass du das nochmal erklärt hast.

Könnte man jetzt drüber philosophieren: Am Ende verliert der Mensch als erstes seine aufgesetzten Verhaltensweisen und besinnt sich wieder seiner Basisfunktionen wie Boxershorts, zerzaustes Haar und Bier. :shy:

Wünsche dir ein erfolgreiches neues Jahr,
Danke, dir auch.


Hallo Sisorus,

schön, dich unter meiner Flash Fiction zu finden.

Das Bettlaken neben mir ist kalt. Ich greife nach dem Kissen, rieche daran. Der Duft nach Zedernholz und Orangenblüte hat sich verflüchtigt. Ich fahre mit den Fingern durchs Haar, streife Boxershorts über und taumle an Wäschebergen und leeren Flaschen vorbei in die Küche.
Wirklich kalt oder eher kühl? Kalt scheint mir extrem. Der Geruch hat sich also verflüchtigt? Warum wird er dann so genau beschrieben? Und auf Anhieb? Hier sollte mMn. eine schmerzhafte Lücke sein. Oder wenigstens ein Moment, in dem der Erzähler sich den Geruch mühsam rekonstruiert.
Wg. kalt vs. kühl hast du Recht. Habe ich geändert.
Geruch hat sich verflüchtigt. Irgendwann hat sich der im Kissenbezug gefestigte Geruch halt verabschiedet; so mir nichts dir nichts.
Muss auch zugeben, dass ich das "verflüchtigt" schon im Text benötige, schließlich hat sich die Frau am Ende ebenso verflüchtigt.

Dieses "Gesicht in jeder Facette" und "Duft in jedem Detail" merken, ist sowieso meist Quark, oder nicht? Jedenfalls, wenn es darum geht, was es in uns auslöst. All die Details und Facetten sind zwar in unserer Erinnerung, aber vergraben, nicht ausformuliert und es ist doch meist erst das wiedererkennen, wiederfinden welches die Erinnerungen mit all ihrer Wucht aus unseren verschlüsselten Synapsen reißt.
Ja, mag Quark sein, aber, zumindest bei mir, auch Realität.
Mich z.B. erinnern einige bestimmte Düfte an besondere Menschen oder Anlässe. Auch noch nach vielen Jahren können sie in mir etwas auslösen.
Und ja, ich vermisse auch Düfte.
Jetzt habe ich viel erzählt, aber wahrscheinlich am Thema vorbei.

Ich fahre mit den Fingern durchs Haar, streife Boxershorts über
Die textuelle Nähe von Haar und Boxershorts lässt mir das Haar tiefer als auf dem Kopf verortet erscheinen :D Aber hier bin ich vllt. auch etwas blöde.
Ein Schelm, der da so etwas denkt :lol:

Der kleine Auffangbehälter quillt über, der Kronenkorken fällt herunter und kullert über das Linoleum. Ich kicke ihn zur Seite, nehme einen großen Schluck und setze mich an den Tisch.
Wieder eine Kleinigkeit, die mich dennoch stutzen ließ: wäre es wirklich der gerade gelöste Kronkorken, der zum Linoleum fiele? Würde er nicht eher andere losstoßen, ein Lawinchen auslösen, vielleicht einen anderen verdrängen und selbst sitzen bleiben? Bin aber kein Experte in Sachen Kronkorkenphysik, muss ich zugeben.
Aber ich bin darin Experte :cool:
Ist tatsächlich so. Die im Behälter liegenden Kronenkorken haben sich (mit ihren Zacken) so gegeneinander verkanntet, dass sie nichtherausfallen, sondern immer nur der frisch hinzugekommende.
Habe es gerade mit einem Six-Pack ausprobiert. Prost :anstoss: :aua:


Während ich hin und weg war, kehrte sie zurück,
Sprachlich schöne Stelle!
Danke dafür.

Hübsche kurzweilige Charakterstudie
Freut mich sehr.

Ich hoffe, ein Teil meines Genörgels ergibt Sinn.
Ja, sicher. Hast mir geholfen. Lieben Dank.

Dir auch ein schönes Wochenende.

Liebe Grüße, GoMusic

 

Hallo GoMusic,

Mir hat es gefallen, inhaltlich, formal, stilistisch. Gerade solche Details wie der Wandflaschenöffner oder dass sie Lambrusco aus Tassen trinken (weil er wahrscheinlich so minimalistisch-"schlampig" wohnt, dass es in seinem Haushalt keine Gläser gibt).

Vielleicht würde ich den Text noch stärker kürzen, damit jedes Wort noch mehr wiegt.
Aber auch so hab ich ihn gern gelesen.

Liebe Grüße, Petdays

 

Hallo petdays,

schön, dass du meinen Text gelesen und kommentiert hast.

Mir hat es gefallen, inhaltlich, formal, stilistisch. Gerade solche Details wie der Wandflaschenöffner oder dass sie Lambrusco aus Tassen trinken (weil er wahrscheinlich so minimalistisch-"schlampig" wohnt, dass es in seinem Haushalt keine Gläser gibt).
Danke für das Lob.
Inhalt, Form, Stil, Details. Was will man/ich mehr? :bounce:

Vielleicht würde ich den Text noch stärker kürzen, damit jedes Wort noch mehr wiegt.
Aber auch so hab ich ihn gern gelesen.
Muss den Textwohl noch zigmal durchlesen, durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht gibts tatsächlich ein paar Dinge, die raus können.

Danke für deinen Kommentar.

Schönen Sonntag und liebe Grüße,
GoMusic

 

Hi Sisorus,

danke für deine Rückmeldung.

Ich habe mich unverständlich ausgedrückt und so eine der Anmerkungen nicht rübergebracht.
Nein, war nicht unverständlich. Ich habe nur etwa anderes gedacht und verstanden. Schriftlich ist's halt oft schwieriger als Face to face.

Daher stutze ich, wenn der sonst eher atzig daherkommende Erzähler sich an "Zedernholz und Orangenblüte" erinnern kann. Er scheint mir eher zu der Art Mensch zu gehören, die (wie ich auch), diesen Geruch gerade nicht benennen könnte, die vielleicht noch die grobe Form des Flakons in Erinnerung hätte, die erste Silbe des Namens auf der Zungenspitze.
Ich dabe darüber nachgedacht. Den bestimmten Duft hatte ich anfangs dafür, um über die Duftart das Alter der Frau "zu bestimmen". Das ist mir nicht gelungen (@Nichtgeburtstagskind und @Tintenfass haben das schon von Anfang an / als erstes gesagt), daher kamen später die kleinen Fältchen hinzu.

Ergo benötige ich die Duftbeschreibung alleine dafür schon gar nicht mehr.
Und, tatsächlich habe ich die gleiche Vorstellung wie du, was für eine Art Mensch der Prota ist.
Habe es daher geändert/rausgeworfen. Er erinnert sich nur noch daran, dass da mal ein Duft war.

Ich glaube einfach, dass der Text dir hier die Chance gibt, die "Grobheit" (das meine ich nicht wertend) deines Erzählers auf eine sehr schmerzhafte und greifbare Art hervorzuheben. Ergibt das mehr Sinn?
Ja, ergibt Sinn. Bin bei dir.

Hab vielen Dank.

Schönen Abend und liebe Grüße,
GoMusic

 

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